Die wöchentliche CIO-Kolumne

Systeme, Tests und Katastrophen

Heinrich Seeger arbeitet als IT-Fachjournalist und Medienberater in Hamburg. Er hat über 30 Jahre IT-journalistische Erfahrung, unter anderem als Gründungs-Chefredakteur des CIO Magazins. Er entwickelt und moderiert neben seiner journalistischen Arbeit Programme für Konferenzen und Kongresse in den Themenbereichen Enterprise IT und Mobile Development, darunter IT-Strategietage, Open Source Meets Business, droidcon und VDZ Tech Summit. Zudem gehört er als beratendes Mitglied dem IT Executive Club an, einer Community von IT-Entscheidern in der Metropolregion Hamburg.
Die Lkw-Maut ist auf Probe angelaufen. Während dem Vernehmen nach die Bordcomputer in den Lkws reihenweise den Dienst versagen, verbreitet das technisch verantwortliche Toll-Collect-Konsortium Erfolgsmeldungen. Einerlei: Ob zum nun geplanten Start am 1. November - so der Termin denn eingehalten wird - das gesamte System funktioniert, lässt sich mit der so genannten "Testphase" sowieso nicht herausfinden.

Der Autor kramt im verbleichenden Fundus seines akademischen Restwissens und findet heraus: Systeme bestehen aus technischen und organisatorischen Strukturkomponenten, die sich gegenseitig beeinflussen. Aus seiner Erfahrung in der IT-Branche weiß er: Tests sollen dafür sorgen, dass Systeme künftig funktionieren, indem sie die Bedingungen, unter denen die Systeme arbeiten werden, realistisch abbilden. Daraus darf er schließen: Probiert man nur einige Komponenten aus, ignoriert jedoch wichtige Bestandteile weitgehend, kann von Systemtest keine Rede sein.

Die heute angelaufene Probephase der deutschen Lkw-Maut ist kein angemessener Test für das komplexe System , wie es Anfang November dastehen soll. Getestet wird im wesentlichen die Funktion der On Board Units (OBUs) in den Lastern, die automatisch im Vorbeifahren an den Kontrollbrücken ihre Position melden. Dass die Bordcomputer am ersten Tag spinnen, ist ärgerlich, aber keine Katastrophe; das Betreiberkonsortium Toll Collect (Partner: Deutsche Telekom, Daimler Chrysler Services und der französische Autobahnbetreiber Cofiroute) und die Lkw-Werkstätten dürften das hinkriegen.

Dass hingegen Anfang November wie geplant 400 000 funktionierende Geräte an Bord der deutschen Lkw-Flotten unterwegs sind, muss stark bezweifelt werden. In negativen Fall sind die deutschen Trucker dann auf das Internet und auf Maut-Terminals in den Raststätten angewiesen, um dort ihre Autobahn-Fahrkarten zu erwerben. Diese Terminals, genauso wie die Online-Buchungsmöglichkeit, sind eigentlich für die Fahrer von ausländischen Lkw ohne OBU gedacht. Kommen die deutschen Brummifahrer dazu, sind Staus vor den Raststätten vorprogrammiert.

Schon jetzt berichten die Spediteursverbände von Wartezeiten an den Terminals und in den Internet-Leitungen, und bisher drängeln sich nur Freiwillige, die sich mit dem System vertraut machen wollen. Sind bis zum Kick-off nicht genügend OBUs vorhanden, dürften die Schlangen vor den Raststätten alles bisher Erlittene in den Schatten stellen. Geschieht kein Wunder, wird genau das der Ernstfall sein. Und dafür ist kein Test vorgesehen. Unser Tipp: Die "Testphase" wird verlängert, weil das System zum Stichtag der Last nicht standhält.

Übrigens: Bis Ende der 60er Jahre hatten Systeme sich per definitionem im Gleichgewicht zu befinden. Erst ab den 70ern wurden als Systemmerkmale auch Instabilitäten und Katastrophen akzeptiert, die sich der Steuerung - und dem Testen - entziehen.

Ein Trost also, wenn auch ein schwacher, für die ministeriellen und konsortialen Maut-Macher: Selbst wenn das ganze Projekt den Bach runtergehen sollte, darf die Lkw-Maut auf eine wissenschaftliche Heimat hoffen.

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