Hamburger IT-Strategietage


IT-Strategietage 2016

CIO Kotka: "Wir wollen zwei Milliarden virtuelle Esten"



Simon Hülsbömer betreut als Senior Research Manager Studienprojekte in der Marktforschung von CIO, CSO und COMPUTERWOCHE. Zuvor entwickelte er Executive-Weiterbildungen und war rund zehn Jahre lang als (leitender) Redakteur tätig. Hier zeichnete er u.a. für die Themen IT-Sicherheit und Datenschutz verantwortlich.
Der vollkommen digitalisierte Staat - in Estland ist das längst Realität. Was das für das baltische Land bedeutet, erklärte Taavi Kotka, CIO der Regierung in Tallinn und Europas CIO des Jahres 2014.
Taavi Kotka, CIO der Regierung in Tallinn
Taavi Kotka, CIO der Regierung in Tallinn
Foto: Foto Vogt

Davon kann Deutschland nur träumen - eine nahezu 100-prozentige Abdeckung mit schnellem Internet dank LTE- und 4G-Mobilfunktechnologie bis in die hintersten Ecken des Landes. Die Esten sind immer und überall online - steuerfinanziert. Bezahlt wird per elektronischem Ausweis, Behördenkontakte ebenfalls digital abgewickelt. Auch Ausländer partizipieren, wenn sie möchten - für 50 Euro können sie die virtuelle (steuerbefreite) Staatsbürgerschaft namens "E-Residency" bekommen, um auf digitalem Wege Bankkonten oder sogar Unternehmen in Estland zu eröffnen.

Was die Politik hierzulande seit Jahren nur phrasenartig hinunterbetet, wurde am Baltikum in den vergangenen Jahren dank einer pragmatisch denkenden Regierung einfach gemacht - anders hätte das Land auch gar nicht überleben können, unterstreicht Taavi Kotka. "Wir haben zu wenige Menschen in Estland - nur 1,3 Millionen - und zu viel Fläche - über 45.000 Quadratkilometer. Nur mit einer vollständigen DigitalisierungDigitalisierung sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors können wir alle unsere Bürger erreichen." Alles zu Digitalisierung auf CIO.de

Deutsche Ex-Kolonie fast ohne Schulden

Der mit so schmucken Titeln "Deputy Secretary General for Communications and State Information Systems", "GovernmentGovernment CIO", "Deputy Secretary General - ICT at Ministry of Economic Affairs and Communications for Estonia" und nicht zuletzt "Best CIO in Europe 2014" behängte Regierungsvertreter zeigte den Teilnehmern der Hamburger IT-Strategietage, was in Estland heute schon alles möglich ist: Steuererklärung in zwei Minuten, Unternehmensgründungen in unter einer Stunde. Alles zu Government auf CIO.de

"Da wir eine ehemalige deutsche Kolonie sind, interessiert es Sie bestimmt, wie es uns heute geht", startete Kotka schmunzelnd einen kurzen Statusreport über die aktuelle Situation in Estland und hatte sofort die Lacher auf seiner Seite: "Uns geht es gut. Auch deshalb, weil wir nie mehr ausgeben als wir einnehmen - das haben uns die deutschen Werte Disziplin und Ordnung gelehrt." Was die durchschnittliche Pro-Kopf-Verschuldung der europäischen Staaten angeht, liegt Estland mit deutlichem Abstand auf dem letzten Platz, hat trotz der geringen Einwohnerzahl also die geringsten Schulden aller Länder.

Das Zauberwort heißt Transparenz

In Estland sind alle IT-Systeme miteinander vernetzt - und zwar dezentral, ausfall- und manipulationssicher. "Gerade Deutsche fragen uns da oft, wie wir denn mit den Themen DatenschutzDatenschutz und Privatsphäre umgehen, wenn jeder von uns eine öffentlich bekannte Identifikationsnummer besitzt, mit deren Hilfe Ärzte, Finanzbeamte, Polizisten oder Arbeitgeber auf alle meine Steuer- oder Gesundheitsdaten zugreifen können", so Kotka. Alles zu Datenschutz auf CIO.de

Die Lösung heiße Transparenz: Jeder Este kann online Einblick in seine Daten nehmen und auch sehen, wer wann auf welche Teile davon zugegriffen hat. "Wenn da ein unbefugter Zugriff erfolgt ist, wird das sofort arbeits- oder strafrechtlich verfolgt. Es ist gesetzlich klar geregelt, wer zu welchem Zweck wann auf welche Daten zugreifen darf."

"Zu uns will niemand"

Bei all dem Fortschritt schmerzt den Regierungs-CIORegierungs-CIO nur eines: "Wir brauchen mehr Kunden." Die 1,3 Millionen Esten allein reichten für die effiziente Nutzung der aufgebauten IT bei weitem nicht aus. "Erst schlug ich meiner Frau vor, die Bevölkerung auf natürlichem Wege auf 10 Millionen zu steigern - da hat sie mich ausgelacht. Mit dem Thema Einwanderung haben wir auch so unsere Erfahrungen - genau wie Sie. Doch zu uns will niemand", sprach er das vor Begeisterung tobende Publikum erneut an. Also wurde die Idee der "E-Residency" geboren - dass jeder eine virtuelle Staatsbürgerschaft beantragen könne. Alles zu Public IT auf CIO.de

"Unser neues Ziel sind jetzt nicht mehr die 10 Millionen, das ist Schnee von gestern. Wir wollen das einwohnerstärkste Land der Welt werden - 2 Milliarden E-Esten sollten doch möglich sein", gab der CIO einen ambionierten Plan aus. Und vor dem Hintergrund der innovativen Digitalisierungsstrategie der lebensfrohen Esten, die sich laut Kotka nur vor dem russischen Größenwahn fürchteten, scheint das nicht einmal aussichtslos.

Fazit

Anderswo ist E-Government eine Spaßbremse. In Estland ist es gelebter Alltag - eine allumfassende IT-Infrastruktur mit transparentem Datenaustausch zwischen Behörden, Privatwirtschaft und den 1,3 Millionen Bürgern - dieses Konzept stellte der Regierungs-CIO Taavi Katku vor. Jeder Este hat eine öffentliche Identifikationsnummer, mit der er all seine behördlichen und privaten Geschäfte abwickelt - zudem weiß er immer, wann wer warum auf seine Daten zugreift und kann unrechtmäßiges Handeln umgehend sanktionieren lassen.

Einzig die niedrige Einwohnerzahl rechtfertigt das innovative Konzept, das für das Überleben des kleinen Landes seit der Loslösung von Russland vor 25 Jahren essenziell war, bisher nicht. Aber auch dafür wurde eine Lösung gefunden: Jeder kann auf Antrag zum "virtuellen Esten" werden und an der Infrastruktur teilhaben.

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