Finance IT


Steinzeit-Software im Versicherungswesen

Ergo berechnet 350.000 Lebensversicherungen falsch



Dr. Johannes Bohnet ist Gründer von Seerene. Vor seiner Arbeit bei Seerene war Bohnet als Senior Consultant bei einem renommierten IT-Beratungsunternehmen tätig. Zudem leitete er den Bereich "Automatisierte Software-Analyse und Visualisierung" am Hasso-Plattner-Institut, dem deutschen Exzellenzcenter für Software Engineering.
Ein strukturelles IT-Problem hat dazu geführt, dass der Versicherungskonzern Ergo Erträge und Gutschriften bei Lebensversicherungen falsch berechnet hat und bisher rund 350.000 Fälle korrigieren musste.

In der VersicherungsbrancheVersicherungsbranche gilt die Lebensversicherung als lukrativste Einnahmequelle der Vertreter, doch wenn das eigene Zahlenwerk nicht mehr stimmt, kann sich selbst dies schnell ändern. Denn laut einem umfangreichen Bericht der Süddeutschen Zeitung führten unterschiedliche Softwarefehler dazu, dass der Düsseldorfer Versicherungskonzern ErgoErgo die Erträge und Gutschriften für Kunden in der Lebensversicherung falsch berechnete. Top-500-Firmenprofil für Ergo Top-Firmen der Branche Versicherungen

Von den mehr als sieben Millionen Lebensversicherungsverträgen, auf die das Unternehmen blickt, mussten die Bescheide in 350.000 Fällen korrigiert werden. Doch wie viele Kunden insgesamt betroffen sind, ist damit längst noch nicht ermittelt. Zwar soll es sich dabei zumeist um kleinere Summen von einigen Cent bis in den dreistelligen Bereich handeln, doch es gäbe auch Einzelfälle mit "Regulierungsbeträgen im niedrigen fünfstelligen Bereich".

Speziell im Banken- und Versicherungssektor werden Technologien verwendet, die angsterregend alt sind.
Speziell im Banken- und Versicherungssektor werden Technologien verwendet, die angsterregend alt sind.
Foto: ronstick - shutterstock.com

Bereits seit drei Jahren ist sich der Konzern dem Missstand bewusst und seither darum bemüht, mit viel Aufwand dem Problem Herr zu werden. Doch die Aufräumarbeiten gestalten sich als ein aufwändiges Stückwerk aus vielen einzelnen Fehlern, weshalb es nicht wirklich überrascht, dass ein durchschlagender Erfolg bisher ausblieb und Softwarefehler die Ergo-Gruppe stattdessen immer wieder vor Herausforderungen stellen.

Bei den Berechnungen von Riester-Verträgen aus den Jahren 2006 und 2007 waren etwa laut SZ 203.000 Kunden von einem Fehler betroffen, wobei das Düsseldorfer Unternehmen sich mitunter sogar zu Gunsten seiner Kunden verrechnete. Während man den Sparern der 2006er-Verträge zwei Millionen Euro zu wenig gezahlt hatte und diese nacherstatten musste, vergab Ergo beim Jahrgang danach sogar acht Millionen Euro zu viel, die das Unternehmen laut eigenen Angaben nicht zurückforderte.

Aber egal ob die Versicherung zu wenig zahlt und der individuelle Kunde der Leidtragende ist oder ob sie zu viel zahlt und alle anderen Kunden die Zeche mittragen müssen - Ergo verliert immer, sei es Geld, Ansehen oder sogar beides. Die Aussage einer Ergo-Sprecherin, dass "noch nicht alle Fehler vollständig analysiert sind", machen angesichts einer dreijährigen Fehlersuche das Dilemma unmittelbar deutlich. Und auch wenn der zu hundert Prozent dem Rückversicherer MunichRe gehörende Konzern bisher nur die betroffenen Kunden - und noch nicht die Öffentlichkeit - unterrichtet hat, ist ein Imageschaden schon jetzt absehbar. Ganz zu schweigen von den horrenden Kosten, die dem Unternehmen durch die Missstände entstehen.

Steinzeit-Software aus dem letzten Jahrhundert

Ursächlich für die folgenschwere Finanzpanne ist ein über Jahrzehnte gewachsenes strukturelles IT-Problem. Speziell im Banken- und Versicherungssektor werden Technologien verwendet, die angsterregend alt sind und oftmals in den 1970er Jahren oder noch früher entstanden. Entwickelt von hoch intelligenten Software-Ingenieuren, die mittlerweile entweder in Rente oder bereits tot sind, vertraute man auf eine Programmiersprache namens COBOL, über die inzwischen kein Wissen mehr an Universitäten weitergegeben wird und deren Wartung entsprechend schwer zu gewährleisten ist, insofern das notwendige Fachwissen auszusterben droht.

Im Zentrum der Software-Anwendungen vieler Versicherer finden sich Kernsysteme, bei denen es sich um große monolithische Software-Aufbauten handelt, die im nächtlichen oder wöchentlichen Rhythmus Milliarden von Geldtransaktionen berechnen - im Stillen ohne Kontakt zu Außensystemen.
Doch während dieses Vorgehen für die Geschäftsprozesse des letzten Jahrhunderts konzipiert worden war, brachte das Internetzeitalter und der damit verbundene Wunsch nach Datenverarbeitung in Echtzeit, ständiger Verfügbarkeit und Schnittstellen zu zahlreichen Drittsystemen einen Umbruch mit sich. Dieser holt das Versicherungswesen nun stetig ein und provozieren Softwarefehler wie jenen der Ergo.

Alte IT mit Zwiebelschichten

Damit die alten, für einen anderen Zweck konzipierten IT-Systeme, den neuen real-time Anforderungen gerecht werden können, müssen sie mit moderneren Technologien "ummantelt" werden. Mit der Zeit bilden sich immer weitere Softwareschichten, sodass die IT-Struktur eines Versicherers am Ende wie eine Zwiebel aussieht: Im Zentrum befindet sich der monolithische Kern aus den 1970er Jahren, drum herum werden zahlreiche Softwareschichten etabliert, damit neue Funktionalität mit alten Systemen realisiert werden kann. Je mehr Schichten auf diese Weise entstehen, desto komplexer geraten auch die Wartung und der Betrieb dieser Konstrukte.

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