Alle Macht der Avantgarde

Keine Angst vor Innovationen

31.05.2006
Von Karl Ulrich

Der Begriff "Avant-Garde" kommt aus dem Militär und bezeichnet die Vorhut, also jene Truppenteile, die in vorderster Reihe stehen und als Erstes mit dem Feind in Berührung kommen. Im übertragenen Sinn sind Avantgarden "Vorreiter". Im modernen Kontext bildet die Avantgarde die Speerspitze des Fortschritts im Kampf gegen die Tradition. Sie versteht sich als Stoßtrupp des Neuen, Unerhörten, nie da Gewesenen, der Freiheit. Avantgarde bricht althergebrachte Regeln und steht für das Neue und Unerwartete, für Aufbruch und Engagement, für Mut und Risiko. Im Folgenden möchte ich die Größenverhältnisse (David und Goliath), die zeitliche Dimension (Vorreiter und Tross), die Wertigkeit (Abweichung und Unabhängigkeit), die Organisation (Tanker und Schnellboote) und die Kommunikationsstruktur (Analyse und Erzählung) von avantgardistischen Prozessen betrachten.

David und Goliath

Ästhetische und gesellschaftliche Avantgarden eilen der Masse weit voraus. Sie sind klein und flexibel wie David, der sich gegenüber dem Koloss Goliath behauptet. Ob in der bildenden Kunst, der Musik, der Mode, der Philosophie oder der Politik: Zu Beginn genügt ein Anstoß, der einzelne Personen oder kleine Gruppen dazu bringt, eine Position jenseits des von ihnen wahrgenommenen Mainstreams einzunehmen. Aus dem Stimulus entsteht eine eigenständige Einheit, ein Kern oder Nukleus, der zunächst so klein, in sich geschlossen bleiben möchte wie nur möglich. Es geht nicht darum, Wirkung zu erzielen, sondern autark zu bleiben. Je hermetischer sich dieser Nukleus jedoch abgrenzt, desto mehr Zulauf hat er in der Regel.

Die Avantgarde entwickelt sich, definiert sich immer klarer, trägt kreative Neuerungen in den eigenen Kosmos hinein und, weil sie Beachtung findet, auch hinaus in die äußere Welt. Aber - Ironie der Entwicklung - mit zunehmender Strahlkraft und Ausbreitung nähert sie sich zwangsläufig einer kritischen Masse, sie wird groß wie ein Goliath. So wird die Avantgarde Opfer ihres eigenen Erfolgs; ihre kreativen Ideen, Konzepte und Umsetzungen werden integriert, ausdifferenziert und schließlich wieder Teil des Mainstreams. Die alte Ordnung hat sich verändert - sie hat sich tatsächlich substanziell erneuert oder die Avantgarde schlicht geschluckt.

Dafür gibt es in der Unternehmenswelt Beispiele - etwa User-Netzwerke als Organisationsform neuartiger Produktentwicklung und -bereitstellung. Ihr Lebenszyklus findet sich analog in der Entstehungsgeschichte der Web-Server-Software Apache wieder: Mainstream-Software-Unternehmen stellen zunächst die notwendigen Produkte für den Internet-Betrieb bereit. Nun der Stimulus: Jemand anderes macht eine neu entwickelte Server-Software im Netz zugänglich. Eine Hand voll User fängt an, Programme zur Behebung von Fehlern und Dokumentationen zu sammeln - wir sind in der Phase der Definition des Nukleus.

In der Folge entwickelt sich Schritt für Schritt ein Netz von Usern, die dann den Source-Code entwickeln - die eigentliche Innovation. Aus den Individuen bildet sich eine kohärente Gruppe, die eine Plattform für die mittlerweile immer breitere Nutzer-Community zur Verfügung stellt. In der Integrationsphase schließlich wird Apache zur populärsten Webserver-Software im Internet.

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