Psychologie

Die Deutschen sollten wieder träumen

28.03.2013
Von Ferdinand Knauß

"Der Traum ist manchmal vernünftiger als der Alltag"

Die "erschöpfte Gesellschaft" ist also nicht nur eine Folge der Arbeitsbedingungen. Aber wie kann der Traum das verhindern?

Er bringt da eine Gewichtung rein. Im Traum merken wir, was uns wirklich wichtig ist. Vielleicht ist es die Zweisamkeit. Vielleicht sagt der Traum uns auch: Das ist jetzt eine wichtige Phase deiner Karriere, konzentrier dich darauf. Der Traum ist manchmal viel vernünftiger als der Alltag. Der Alltag ist, könnte man fast sagen, wahnhaft konstruiert. Wir überdrehen an allen Ecken und Enden. Wenn wir uns auf unsere Träume besinnen, kommen wir wieder an den Punkt, der uns wirklich bedeutsam und wichtig ist.

Wovon sprechen wir jetzt? Vom Traum im Schlaf oder vom Tagtraum?

Ich differenziere im Buch zwischen Nachtträumen, Tagträumen, Lebensträumen und absoluten Wunschträumen. Letztere sind verheerend, da müssen wir aufpassen. Der Tagtraum ist wichtig, um am Tag überhaupt bestehen zu können. Er hat kompensatorische Funktion. Er beschwichtigt und tröstet uns, weil er im Reich der Fantasie frustrierende Erfahrungen kompensiert.

Zum Beispiel?

Wenn Brüderle an der Bar getagträumt hätte, wäre ihm einiges erspart geblieben. Der Tagtraum macht uns zum tollen Verführer, in dem wir jede Frau ins Bett kriegen, ohne sie angesprochen zu haben. Der Tagtraum macht das Leben erst aushaltbar. Er kann hin und wieder in seinen Übersteigerungen auch mal Quell der Inspiration sein. Aber er hat nicht das große Gewicht wie der nächtliche Traum. Nächtliche Träume weisen uns darauf hin, was wichtig ist und was unsere Berufung sein könnte. Aus den Bildern und Kernformen des Nachttraums kann auch ein Lebenstraum werden, wenn man sich dieser Dinge annimmt und fragt: Wie kann ich das umsetzen? Wie kann das eine Leitlinie für mein Leben sein.

Sie betonen in Ihrem Buch das besondere deutsche Talent fürs Träumen. Das dürfte bei manch einem auch auf Ablehnung stoßen. Die deutsche Träumerei, die Romantik, wird von vielen Historikern als Ursache für den "Sonderweg", also die dunkle und letztlich verbrecherische Tendenz der deutschen Geschichte gesehen.

Das Träumen ist immer relativ, also auf den letzten Tag bezogen. Wir träumen jede Nacht anders. Der deutsche Sonderweg hat damit zu tun, dass es Phasen in der Geschichte gab, wo wir aus der Relativität des Träumens in die Absolutheit eines Wunschtraumes umgestiegen sind, der für tausend Jahre erfolgreich sein sollte. Der gar keine Zweifel, keine Angst, keine Korrekturen mehr zuließ. Der Zweifel und die Angst sind aber Geschwister des Träumens. Eine Gesellschaft wächst mit der Fähigkeit zu träumen und sie geht unter durch ihre Flucht in den absoluten Wunschtraum. Wenn eine Idee, auch eine romantische, verabsolutiert wird, wenn sie Gültigkeit für alle Zeiten und alle Menschen beansprucht, dann negieren wir das unruhevolle, das faustisch Suchende, das ein schöpferischer Antrieb ist. Dann geraten wir in die Finsternis des Tausendjährigen Reiches.

Sind wir heute eine psychisch kranke Gesellschaft?

Die Krankheit lag natürlich in den Jahren vor 1945, aber auch in den Jahren danach. Mitscherlich sprach von der "Unfähigkeit zu trauern". Heute sind wir noch in der Lage, uns zu reflektieren. Es krankt, aber wir sind keine kranke Gesellschaft.

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