Agilitäts-Hype? Cool bleiben!

Agile ist nicht immer eine Lösung



Daniela Kudernatsch ist Inhaberin der Unternehmensberatung Kudernatsch Consulting & Solutions. Sie ist Autorin des Buchs "Hoshin Kanri - Unternehmensweite Strategieumsetzung mit Lean-Management-Tools".

Agile Skalierung differenziert angehen

Doch wie können Unternehmen nun vorgehen, die erwägen, agile Methoden in weiteren Teilen ihrer Organisation einzuführen? In der Regel befassen sie sich mit diesem Thema erst, nachdem sie bereits in dem einen oder anderen Bereich - der IT etwa oder in Forschung & Entwicklung - positive Erfahrungen gesammelt haben. Also gibt es schon Mitarbeiter, die ihren Kollegen von ihren Erfahrungen berichten und erklären können, warum agile Methoden auch für andere Bereiche oder sogar die gesamte Organisation sinnvoll sein könnten.

In einer solchen Ausgangssituation kann die agile Skalierung sofort in Angriff genommen werden. Ein erster Schritt wäre ein Workshop mit den Entscheidern aus den Bereichen, für die agile Methoden in Frage kommen. Diese Treffen könnten wie folgt konzipiert sein: Zuerst erläutern Vertreter des Managements, warum sich das Unternehmen überhaupt mit dem Thema agile Skalierung befasst und was es sich von einer Steigerung der Agilität verspricht. Danach schildern Experten an Praxisbeispielen die Prinzipien einer agilen Arbeitsweise, bevor Kollegen aus den bereits agil arbeitenden Bereichen über ihre Erfahrungen berichten.

Nachdem so Grundlagenwissen aufgebaut wurde, kann gemeinsam erörtert werden:

  • ob in den jeweiligen Bereichen das Einführen agiler Arbeitsweisen möglich, sinnvoll und zielführend wäre,

  • auf welche Handlungs- und Aktionsfelder sich die Agilität im gegebenen Fall beziehen sollte,

  • welche Veränderungen auf der Kultur- und Strukturebene sowie auf der Einstellungs- und Verhaltensebene nötig wären, um die angestrebte Veränderung zu erreichen und

  • auf welche Initiativen der Vergangenheit aufgebaut werden könnte, um das angestrebte Ziel zu erreichen.

Letzteres ist auch wichtig, um den Mitarbeitern die Angst zu nehmen, dass sich alles fundamental ändern wird. Faktisch ist das in der Praxis nur in Teilen der Organisation der Fall.

Einen Entwicklungsplan für jeden Bereich entwerfen

Die Ergebnisse der Workshops können - bezogen auf die einzelnen Bereiche - ganz verschieden ausfallen. Dabei gilt die Faustregel: Je komplexer die Leistungen sind, die ein Bereich oder Team für das Unternehmen erbringt und je mehr externe Einflussfaktoren dabei zu berücksichtigen sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass agiles Arbeiten ans Ziel führt und umso größer ist der Nutzen, den die Organisation aus dem Skalieren der agilen Methoden zieht.

Das Ergebnis eines solchen Workshops kann zum Beispiel bezogen auf die weitgehend automatisierte Produktion eines Massengüterherstellers durchaus lauten: "Agile Methoden in unserer Produktion lohnen sich nicht, weil es bei ihnen eher darum geht, zuverlässig ein bestimmtes Produkt zu produzieren, das vorab definierten Qualitätsstandards entspricht. Stattdessen sollten wir lieber die bereits ergriffenen Initiativen im KVP- und Lean-Bereich intensivieren, die darauf abzielen, die Qualität der Leistung und den Kundennutzen kontinuierlich zu steigern.

Zudem sollten wir unsere Führungskräfte auf der Shopfloor-Ebene zu Kata Coaches ausbilden, die sukzessiv mit dem PDCA-Zyklus die Kompetenz ihrer Mitarbeiter erhöhen, eigenständig Probleme zu erkennen und zu lösen. Darüber hinaus sollten wir jedoch das Bewusstsein der Mitarbeiter dafür schulen, warum ein agiles Verhalten in unserem von rascher Veränderung geprägten Markt nötig ist, damit sie mehr Verständnis dafür haben, wenn zum Beispiel die Vertriebsmitarbeiter sie immer wieder mit Sonderwünschen kontaktieren."

Bezogen auf die Produktentwicklung kann das Workshop-Ergebnis lauten: Hier sollten wir das agile Arbeiten forcieren, weil sich außer den Anforderungen der Kunden auch die technischen Möglichkeiten (unsere eigenen, aber auch die der Kunden) rasch ändern. Zudem sollten wir die Zusammenarbeit unserer Produktentwickler außer mit dem Vertrieb, auch mit unserem Kundendienst beziehungsweise unserem Service forcieren, zum Beispiel durch interdisziplinäre (Entwickler-)Teams. Unsere Servicemitarbeiter bekommen bei ihren Kundenbesuchen schließlich am ehesten mit, welche Bedarfe sie haben, wo sie Kritik an unseren Produkten und Problemlösungen üben und wohin sie sich entwickeln.

Die jeweiligen Besonderheiten beachten

Und bezogen auf den Vertrieb? Hier kann das Workshop-, beziehungsweise Analyseergebnis zum Beispiel lauten: "Unsere Vertriebsmitarbeiter sind schon sehr agil im Markt unterwegs. Jedoch sollten wir über Informationssysteme nachdenken, die diese mit qualifizierten Marktdaten und Informationen darüber, bei welchen Kundengruppen neue Bedarfe entstehen könnten, versorgen.

Damit könnten sie noch agiler und zielgerichteter bei ihrer Arbeit vorgehen. Außerdem sollte unser Finanz- und Controlling-Bereich über neue Finanzierungsmodelle nachdenken, da viele unserer Zielkunden Finanzierungsprobleme haben. Unsere Verkäufer müssten anschließend darin geschult werden, diese den Kunden schmackhaft zu machen, da die Auftragsvergabe daran hängen kann.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es wenig sinnvoll ist, agile Methoden mit der Gießkanne über die gesamte Organisation zu verteilen. Dafür sind die Aufgaben der Bereiche zu verschieden, ebenso deren Ausgangsvoraussetzungen. Vielmehr gilt es, ein abgestimmtes Gesamtkonzept zu entwerfen, das die Arbeit in den einzelnen Bereichen sowie ihre Kooperation gezielt entwickelt. Hierbei können agile Arbeitsweisen und -methoden eine unterschiedliche Rolle spielen. Es spricht dabei nichts dagegen, am übergeordneten Ziel festzuhalten: "Wir wollen als Unternehmen agiler am Markt agieren, damit wir auch mittel- und langfristig erfolgreich sind."

Bei agilen Change-Projekten gibt es allerdings zwei große Fallstricke:

  • Wenn agile Teams eigenverantwortlich und selbstbestimmt agieren, besteht die Gefahr, dass in der Organisation neue Wissensinseln entstehen. Deshalb sollten die Betriebe sich überlegen, wie das von den agilen Teams gesammelte Fakten- und Erfahrungswissen auch für andere zugänglich wird.

  • Das Risiko, dass sich in der Organisation ein Wildwuchs ausbreitet, ist beträchtlich. Deshalb sollten Unternehmen sicherstellen, dass sich die einzelnen Teams in ihrem Handeln an einer gemeinsamen Vision orientieren und sich vor wichtigen Entscheidungen fragen: Welche Konsequenzen hat dieses Vorgehen für die Gesamtorganisation? So lässt sich vermeiden, dass neue Silos entstehen.

In großen Unternehmen mit starker Arbeitsteilung ist es nicht leicht, die Balance zwischen dem eigenverantwortlichen Entscheiden und Handeln der Mitarbeiter und der erforderlichen "Gemeinwohlorientierung" zu halten. Deshalb sollten große Betriebe, die agile Arbeitsweisen einführen, ihren Mitarbeitern in den Teams und Bereichen Agile Coaches als Berater und Unterstützer zur Seite stellen.

Diese dürfen keine Greenhorns oder Evangelisten sein, die agile Methoden als Allheilmittel predigen. Sie müssen vielmehr das Alltagsgeschäft der Mitarbeiter kennen und verstehen. Sie brauchen ein Gespür dafür, was agiles Arbeiten im jeweiligen Kontext konkret bedeutet und wo die durch den organisationalen Rahmen gesteckten Grenzen verlaufen, die es eventuell durch Veränderungen auf der Struktur-, Kultur- oder Prozessebene zu durchbrechen gilt. Anders formuliert: Agilität in der Strategieumsetzung zeigt sich gerade darin, dass auf der Bereichs- oder Shopfloorebene nicht nach Schema F verfahren wird, sondern die jeweiligen Gegebenheiten genau beachtet werden.

Das passende Agile-Framework

Für die Agile-Skalierung selbst, also das Einführen der agilen Methoden, werden im Markt verschiedene Frameworks, sprich Konzepte angeboten - zum Beispiel LeSS, Scrum@Scale oder SAFe. Diese liefern aber alle keine Blaupause für Unternehmen.

Meistens ist es in größeren Unternehmen nicht nötig, in der gesamten Organisation agile Strukturen zu schaffen und agile Arbeitsweisen einzuführen. Anders als in Startups handelt es sich nicht um reine Entwicklungsorganisationen. Unverzichtbar ist es aber, bereichs- und hierarchieübergreifend ein gemeinsames Grundverständnis davon zu schaffen, warum agiles Arbeiten sowie die interdisziplinäre und cross-funktionale Zusammenarbeit für das Entwickeln und Realisieren innovativer, komplexer Problemlösungen in einer von rascher Veränderung geprägten Welt gebraucht wird. Eine entsprechende Unternehmens- und Führungskultur gilt es zu entwickeln. Das gelingt nur mit tatkräftiger Unterstützung durch die Unternehmensspitze.

Zur Startseite