Eine sterbende Partei

Das Siechtum der SPD

06.09.2018
AfD und Grüne drohen die SPD bundesweit zu überholen. Die älteste Partei Deutschlands ackert und rackert, aber ein halbes Jahr nach dem Start der großen Koalition geht es nicht bergauf. Der Druck auf Andrea Nahles wächst.
Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles kann den Niedergang der SPD nicht stoppen.
Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles kann den Niedergang der SPD nicht stoppen.
Foto: Foto-berlin.net - shutterstock.com

Andrea Nahles lädt zum Tanz. Schwof statt Schmollen über schlechte Umfragen. Die SPD ist auch nur 50 Jahre älter als das vor 105 Jahren eröffnete Clärchens Ballhaus in Berlin-Mitte, an dessen Eingang den "Anordnungen des Garderobenwärters" bitte unbedingt Folge zu leisten ist.

Hierhin hat die mächtigste Frau der Sozialdemokratie die 152 anderen Bundestagsabgeordneten der SPD für Donnerstagabend zum geselligen Fraktionsabend eingeladen. Doch Wegtanzen lässt sich die Krise der Partei nicht. Für die zweitägige Fraktionsklausur mit dem geselligen Tanzabend als abendlichen Höhepunkt steht mal wieder der Erneuerungsprozess ganz oben auf der Agenda.

AfD erreicht in Umfragen mehr Wähler als die SPD

Doch ein halbes Jahr nach dem erneuten Eintritt in eine große Koalition wächst der Druck auf die Vortänzerin Nahles, die Partei- und Fraktionschefin. Ihre persönlichen Werte? Im Keller. Und die AfD ist zum zweiten Mal in einer Umfrage an der SPD vorbeigezogen. Bei den Wahlen in den wichtigen Bundesländern Bayern und Hessen droht ein Debakel, in Bayern könnte es sogar nur Platz vier hinter CSU, Grünen und AfD werden.

Vizekanzler Olaf Scholz erfreut sich als Mann der Exekutive besserer Umfragewerte als Nahles, und es ist kein Geheimnis, dass er sich eine Kanzlerkandidatur zutrauen würde. Doch - soweit ist es gekommen - wenn man auch im Bund vielleicht nur noch Nummer vier ist, braucht es dann noch einen Kanzlerkandidaten? Noch ist die Partei geschlossen wie lange nicht mehr. Aber nicht stabil.

Gerade die jungen Leute um Juso-Chef Kevin Kühnert sind Motoren der Veränderung - und im Kampf für ein liberales Europa findet man gerade das einigende Band, bei allem Verdruss mit der GroKo.

Dass in der Union weiter die Diskussion um die Asylpolitik tobt, ärgert Nahles enorm, wie sie zum Auftakt der Klausurtagung der Fraktion in Berlin deutlich macht. Das schade der ganzen Regierung. Von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) fordert sie "null Toleranz gegenüber Hetzern".

SPD träumt von ihrer Geschichte

Auf wenig sind die Sozialdemokraten so stolz, wie auf das Nein zu Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz, der Sitzungssaal der Fraktion ist nach dem früheren SPD-Chef Otto Wels benannt, der 1933 in Richtung der NSDAP-Abgeordneten sagte: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht."

Das Parteienspektrum ist in Bewegung, und die SPD gerät dabei zunehmend unter die Räder - es fehlen mitreißende neue Köpfe und Ideen. Die "Aufstehen"-Bewegung der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht ist da noch das kleinste Konkurrenzproblem. Sie wird mit dem Hinweis weggewischt, die einzige linke Sammlungsbewegung sei seit 1863 die SPD. Das viel größere Problem ist die AfD.

470.000 Wähler verlor die SPD bei der Bundestagswahl 2017 an die Rechtspopulisten. Sie sind für viele heute die Partei des "kleinen Mannes". Sie eröffnen in den Innenstädten, gerade im Osten, Bürgerbüros, laden zum Singen von Volksliedern ein, kümmern sich um Hilfe bei Rentenanträgen - während der SPD vielerorts die Leute fehlen. Es wird jetzt viel Geld in eine bessere Onlinepräsenz gesteckt, interne Absprachen klappen besser, und es gibt weniger Querschüsse.

SPD-Umfragen fallen weiter

Das GroKo-Versprechen lautete wie unter Sigmar Gabriel 2013: Gut regieren, dann vertrauen die Bürger wieder der SPD, und die Werte gehen nach oben. Stattdessen: weiterer Niedergang. Nach dem schlechtesten Bundestagswahlergebnis (20,5 Prozent) und des Abservierens von Martin Schulz ging es nicht nach oben - sondern weiter nach unten, auf 16 bis 17 Prozent.

"Ich fürchte, die Partei wird langsam implodieren", meint ein einflussreicher Genosse. Ein früheres Präsidiumsmitglied sagt: "Das mit Nahles und Scholz geht nicht gut." In der Flüchtlingsfrage ist die Partei gespalten zwischen Willkommenskultur und Abschottung. Zuletzt versuchte Scholz das linke Profil zu schärfen mit einer Rentengarantie auf heutigem Niveau bis 2040, aber ohne Finanzierungskonzept. Zugleich sät sein Ministerium Zweifel, ob das SPD-Lieblingsprojekt einer stärkeren Besteuerung von Internetkonzernen wie Amazon, Apple und Google kommen wird - man fürchtet Gegenmaßnahmen der US-Seite.

Nahles bringt mal Hilfen für die Türkei ins Spiel, dann möchte sie Leistungskürzungen für junge Hartz-IV-Bezieher abschaffen oder versucht sich mitten im Dürre- und Hitzesommer von den Grünen abzusetzen, indem sie beim Klimaschutz auf die Bremse tritt. "Für eine Blutgrätsche gegen die Braunkohle steht die SPD nicht zur Verfügung", sagt sie. Es sind einige Testballons, die aufsteigen, dabei wollte man munteres Themenhopping wie im Wahlkampf 2017 eigentlich vermeiden.

Unklares Profil vertreibt die Wähler

Seit Jahren ist die Partei gefangen zwischen einem Mitte-Kurs und einem Links-Kurs, durch die große Koalition verschwimmen Positionen - das unklare Profil fördert nach Analyse von Demoskopen nicht den Zuspruch zu der Partei. Der kurze Höhenflug des Martin Schulz fand statt, als es einen klaren Schwenk nach links gab, danach wurden die Positionen aber schnell glatt geschliffen.

Es muss Nahles und Scholz zu denken geben, welchen Widerhall abservierte Genossen wie Gabriel und Schulz noch haben. Gerade an der Parteibasis. Und es gehört zum Paradoxon der SPD dazu, dass sie bundesweit im Siechtum begriffen ist, aber in Dutzenden Großstädten den Oberbürgermeister stellt - vor Ort wird auf bürgernahe, unideologische, pragmatische Politik gesetzt, Nahles will die Rathauschefs mehr einbinden.

In spätestens einem Jahr will die SPD evaluieren, ob man die Koalition mit CDU und CSU fortsetzen will - und das Ausschlaggebende für eine Fortsetzung bis 2021 könnte sein, wie beim Mitgliedervotum über den Eintritt in die GroKo: Sie scheint vielen Genossen das kleinere Übel im Vergleich zu Neuwahlen. (dpa/rs)

Zur Startseite