Nach dem Brexit-Schock

Die EU auf der Suche nach sich selbst

17.08.2016
Bürgernah, pragmatisch, ergebnisorientiert: So malen sich die Vordenker das neue Europa aus. EU-Ratspräsident Tusk reist nun kreuz und quer über den Kontinent und lotet aus, was geht.
Nach dem Brexit-Schock suchen EU-Parlamentarier und EU-Befürworter verstärkt Antworten auf die Frage: Wozu braucht man eine EU?
Nach dem Brexit-Schock suchen EU-Parlamentarier und EU-Befürworter verstärkt Antworten auf die Frage: Wozu braucht man eine EU?
Foto: Yvonne Bogdanski - Fotolia.com

Noch ist offiziell nichts passiert. Der britsche Antrag auf Austritt aus der Europäischen Union könnte sogar bis Herbst 2017 auf sich warten lassen, wie aus London kolportiert wird. Und doch befassen sich die verbleibenden 27 EU-Mitglieder in den nächsten Wochen schon intensiv mit ihrer Zukunft ohne Großbritannien. Für das tief erschütterte Europa geht es ums Grundsätzliche: Wie gewinnt man die Bürger wieder für das verpönte Projekt, um es zu retten? Und wozu braucht der Normalmensch eigentlich die EU?

An diesem Donnerstag steht die schwere Kost erst einmal auf dem Menüplan eines Arbeitsessens von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit EU-Ratspräsident Donald Tusk in Schloss Meseberg. Bis zum informellen Gipfel der Rest-EU am 16. September in Bratislava wollen beide intensiv mit den anderen Partnern beratschlagen. Tusk spricht auch mit der britischen Premierministerin Theresa May - die dann aber nicht in die Slowakei kommen darf.

Tusk und Merkel lassen sich nicht in die Karten schauen, wie konkret die Diskussion dort in einem Monat sein kann. Es sei ein "offener Prozess" und für präzise Antworten sei es zu früh, heißt es bei der EU. Das Ziel sei aber klar: dem offensichtlichen Misstrauen zu begegnen und sich um die Themen zu kümmern, die die Bürger umtreiben: Zuwanderung, Sicherheit, Arbeitsplätze. "Es geht darum, die EU neu zu denken", sagt ein zuständiger EU-Beamter.

Diese Selbsterkenntnis pflegten die 27 verbleibenden EU-Partner schon unmittelbar nach dem historischen Misstrauensvotum der Briten vom 23. Juni. Bei ihrem ersten informellen Treffen in Brüssel legten sie nicht nur ein flammendes Bekenntnis zur Gemeinschaft ab, sondern erklärten auch: "Die Europäer erwarten von uns, dass wir erfolgreicher sind, wenn es um Sicherheit, Jobs und Wachstum geht und um die Hoffnung auf eine bessere Zukunft."

Nur wie? Mehr Macht in Brüssel? Oder mehr in den Mitgliedsstaaten? Müssen die europäischen Verträge umgeschrieben und zur Abstimmung gestellt werden? Oder wäre das angesichts des Bürgerzorns zu gefährlich? An guten Ratschlägen mangelt es nicht. Und viele Fachleute scheinen auf einer Linie mit dem Berliner Europaexperten Henrik Enderlein: "Nötig ist eine konzentrierte Debatte über das Funktionieren der EU, das zu besseren Politik-Ergebnissen führt", schreibt er in einem Positionspapier. "Europa muss pragmatischer werden und weniger symbolisch."

Pragmatismus und überzeugende Ergebnisse, das hat in den vergangenen Jahren nicht immer geklappt. Auf Wirtschaftsflaute und Massenarbeitslosigkeit in vielen Ländern fand die Gemeinschaft nicht wirklich eine Antwort. Vieles in der Euro-Griechenland-Krise und der Flüchtlingskrise wirkte wie ein in größter Not abgepresster Kompromiss. Karel Lannoo vom Center for European Policy Studies verweist darauf, dass die Wege der Entscheidungsfindung nicht mehr zu der seit 2004 enorm gewachsenen EU passten. Will sagen: Die Strukturen sind überfordert.

Das wäre sicher weniger schlimm, wenn alle Partner in dieselbe Richtung galoppieren würden. Stattdessen herrscht Zoff. Die EU-Gründerstaaten stecken die Köpfe zusammen, was die Neulinge erbost, die osteuropäischen Visegrad-Staaten bilden ihren eigenen Club. Polen empört sich über Ermahnungen aus Brüssel wegen seiner Justizreform; Ungarn plant mit einem Referendum gegen die Flüchtlingspolitik am 2. Oktober eine Breitseite gegen die Gemeinschaft. In Österreich könnte am selben Tag doch noch der Rechtspopulist Norbert Hofer zum Präsidenten gewählt werden.

In Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Finnland, Dänemark, Ungarn, der Slowakei - überall sitzen nationalistische EU-Gegner den Regierenden im Nacken. "Ein Gestus der Geringschätzung, wenn nicht der Verächtlichmachung der EU als demokratisch legitimierter Handlungsrahmen hat sich in Politik und Medien eingebürgert", heißt es in einer Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Doch gerade die Unruhe nach dem Brexit-Votum könnte die Argumente stärken, dass die EU eben doch ganz praktisch etwas bringt - denn London plagen nicht nur Konjunktursorgen, sondern auch die simplen Alltagsnöte der Briten, die auf dem Kontinent leben wollen. Arztbesuch im Ausland, Führerschein, Studienabschluss - macht wirklich jeder besser wieder seins? "Ich setze grundsätzlich auf die Vernunft", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jetzt dem "Tagesspiegel". "Wenn wir mit einer Stimme sprechen, haben wir viel bessere Karten, als jedes Land für sich allein."

Nach dem großen Brexit-Beben scheint sich mancher darauf zu besinnen - was die Selbstfindung der Gemeinschaft unterstützen dürfte. Das ZDF ermittelte Anfang Juli für das Politbarometer, dass 51 Prozent der Deutschen in der EU mehr Vor- als Nachteile sehen. Für weitere 37 Prozent hält sich Plus und Minus zumindest die Waage. Nur zehn Prozent erkennen überwiegend Nachteile. Es ist laut ZDF der positivste Wert seit 1977. (dpa/rs)

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