Strategien


Leitplanken für IT und Maschinenbau

Die Wachstumschancen durch Industrie 4.0

30.07.2014
Von Bernd Seidel und Florian Harbeck

Cyber-physische Systeme

Möglich wird dies durch mikroelektronische Systeme, die über eine eigene Rechenfähigkeit, Sensorik und Aktorik verfügen und selbst wieder in größere Systeme oder Gegenstände eingebettet sind - sogenannte Embedded Systems. Stattet man diese zusätzlich mit drahtlosen Kommunikationsschnittstellen und einer eindeutigen Identifizierung aus und gibt ihnen die Fähigkeit, sich über diese Schnittstellen mit anderen Systemen in der Wertschöpfungskette und via Internet zu vernetzen, so spricht man von cyber-physischen Systemen (CPS).

Bernhard Diegner, Leiter Abteilung Forschung, Berufsbildung, Fertigungstechnik beim ZVEI, sieht jedoch in fehlenden übergreifenden Standards eine große Hürde, die es bei der Realisierung des Gesamtkonzepts Industrie 4.0 zu nehmen gelte. "Das Konzept von sich selbst organisierenden Produktionseinheiten, also die dezentrale Selbstorganisation durch Ad-hoc-Vernetzung, ist eher eine ferne Vision. Man wird immer Leitplanken einziehen müssen, um die Kontrolle zu behalten. Das Ganze darf nicht in maschinelle Anarchie ausarten."

Es gehe darum, eine Durchgängigkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit zu bekommen, also zu jedem Zeitpunkt des Produktionsprozesses die richtigen Daten zu haben. Erst wenn diese Grundvoraussetzungen geschaffen seien, könnten die Industrie und insbesondere der Mittelstand die Potenziale von Industrie 4.0 ausschöpfen. Noch aber gehörten Medienbrüche im Produktentstehungs-Prozess zur Tagesordnung - vor allem durch inkompatible Softwaresysteme oder manuelle Eingaben eines Mitarbeiters. Das hemme die Verfügbarkeit von Daten sowie Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten. "Wenn aber die Verbindung zwischen physischer und virtueller Welt geschaffen ist, ergeben sich Produktivitätsgewinne. Durch die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit erlangen wir die Fähigkeit, jederzeit den optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten", fügt Diegner an.

Zunächst müssten jedoch die Barrieren der einzelnen Mitspieler, also zwischen den Herstellern der relevanten Systeme, überwunden werden - der Business-IT auf der einen sowie den Bereichen Automatisierungstechnik, Elektronik und Maschinenbau auf der anderen Seite. Zwei sehr unterschiedliche Welten, wie sich schon bei der Definition von "Echtzeit" zeigt. Ist damit in der Elektronik eine Reaktion binnen Millisekunden gemeint, definiert man in der IT garantierte Verzögerungszeiten je nach Anwendung und Geschäftsprozess.

Interoperabilitätsstandards sind das eine. Sicherheitsstandards sind eine weitere Grundvoraussetzung für das Entstehen einer geeigneten Referenzarchitektur für die Industrie 4.0. Andersherum: "Wenn es nicht gelingt, Vertrauen in diese Vernetzung aufzubauen, bleibt die erhoffte Revolution aus", mahnt Diegner. Die Herausforderung bestehe darin, Angriffs- und Betriebssicherheit in eigentlich offen kommunizierenden und kooperierenden Teilsystemen herzustellen und für eine verlässliche Anbindung verschiedener Komponenten in einem weltweiten Datennetz zu sorgen, das vermutlich nie vollständig sicher sein wird: "Wenn das Internet der Dinge nicht sicherer wird, müssen es die Dinge werden."

Für Diegner besteht die eigentliche Revolution jedoch im Entstehen neuer Geschäftsprozesse. Mehr und unterschiedliche Player werden beteiligt sein. Wie in solch verteilten Investitions- und Ertragsmodellen jedoch der Ertrag oder der Return on Investment aufgeteilt wird, wie Fragen der Haftung oder des geistiges Eigentums behandelt werden, sei ebenfalls noch zu klären.

Weiterbildung als Königsweg

Zu guter Letzt wird in Zukunft auch Aus- und Weiterbildung zum großen Thema. Der ZVEI geht davon aus, dass zwar keine neuen Ausbildungs- oder Studiengänge gebraucht werden, die vorhandenen Ausbildungsberufe und Weiterbildungsprofile für angehende Ingenieure, Techniker und Elektroniker allerdings mit neuen Inhalten gefüllt werden müssen. Weiterbildung werde der Königsweg sein. "Trotz oder gerade wegen der steigenden Automation wird der Faktor Mensch weiterhin Bestand haben", meint Diegner. Ob man beim Thema Industrie 4.0 aber von einer Revolution oder eher einer Evolution sprechen könne, werde wohl erst in 20 Jahren rückblickend zu entscheiden sein. "Die menschenleere Fabrik wird es jedenfalls nicht geben", ist sich der ZVEI-Mann sicher. "Sie wird ebenso menschenleer sein, wie das papierlose Büro heute papierlos ist."

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