Gartner Hype Cycle 2020

Diese Technologien verändern Ihre Welt

Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.

Hype Cycle 2020: Formative Artificial Intelligence (AI)

Überhaupt spielt das Thema Künstliche Intelligenz (KI, auch Artificial Intelligence, AI) auch in diesem Jahr eine wichtige Rolle in Gartners Hype Cycle. Die Analysten fassen die Entwicklungen unter dem Begriff Formative AI zusammen. Darunter ist ein Set an Algorithmen und ergänzenden Techniken zu verstehen, die sich schnell und dynamisch an verschiedene Situationen anpassen lassen. In erste Linie dreht es sich dabei um die Entwicklung von neuen KI-Modellen beziehungsweise die Integration von AI-Funktionen in anderen Applikationen, um so den Einsatz von Künstlicher Intelligenz auf das gesamte Unternehmen auszuweiten.

Im Rahmen von AI-augmented Design sollen sich mit Hilfe von AI, ML und Natural Language Processing automatisch digitale Inhalte, Präsentations-Layer und Bildschirmansichten entwickeln lassen. Gartner beschreibt ein Szenario, in dem User dem AI-Tool sagen, dass sie einen Internet-Store haben möchten, welches Design dieser haben soll, und eventuell einige Referenzbeispiele nennen, die ihnen gut gefallen. Auf Basis dieser Informationen könnte Augmented AI innerhalb kürzester Zeit verschiedene Varianten eines Online-Auftritts entwickeln. Derartige Szenarien dürften gerade den Markt für Customer-Experience-(CX-)Produkte in den nächsten Jahren massiv verändern, glauben die Analysten.

In eine ähnliche Richtung zielt AI-augmented Development, nur dass es hier nicht um das Design von User oder Customer Experiences geht, sondern um Softwareentwicklung. Gerade angesichts der wachsenden Komplexität beim Bau neuer Softwareinfrastrukturen, stießen die klassischen Methoden mittlerweile an Grenzen, konstatiert Gartner. Zudem sei manuelle Arbeit auch immer fehleranfällig, was gerade in der Entwicklung von geschäftskritischen Applikationen zum Problem werden könne.

Abhilfe verspricht hier Künstliche Intelligenz. Entsprechende Tools könnten als eine Art virtueller Co-Entwickler fungieren beziehungsweise die Qualitätskontrolle übernehmen. Erste Prototypen funktionieren dergestalt, dass diese mit Hilfe von Deep Learning und NLP vorhersagen können, welchen Code der Entwickler im nächsten Schritt für sein Programm braucht.

Auch wenn sich AI-augmented Development bereits dem Hype-Cycle-Peak nähert, gibt es Gartner zufolge noch etliche Unwägbarkeiten rund um die Technologie. Bis dato lägen erst wenige Erkenntnisse darüber vor, wie verlässlich, stabil und skalierbar die Technik funktioniere. Wichtig sei darüber hinaus die Transparenz. Um den Resultaten zu vertrauen, müsse klar sein, wie das KI-Tool zu seinem Code komme. Zudem gelte es, Fragen rund um Urheberschutz und die Sicherheit zu klären.

Grundsätzlich wird es laut Gartner in den nächsten Jahren darum gehen, den AI-Einsatz in den Unternehmen breiter aufzufächern. Dabei helfen könnten unter anderem Technologien rund um Composite AI. Darunter verstehen die Analysten einen kombinierten Einsatz unterschiedlicher Werkzeuge wie regelbasierte Entscheidungs-Tools, Graph-Analysen, den Einsatz von Software-Agenten sowie verschiedene Optimierungstechniken.

Die Idee dahinter ist nicht neu, räumt Gartner ein. Es drehe sich jetzt aber darum, KI pragmatisch und schnell mit den passenden Werkzeugen für das jeweilige Einsatzgebiet an den Start zu bringen. Die Kunst bestehe darin, die Stärken und Schwächen der verschiedenen Werkzeuge richtig einzuschätzen und dementsprechend zu verwenden.

Kontrovers diskutiert wird der Einsatz von Generative AI. Dabei handelt es sich um Werkzeuge, die auf Basis von Datenanalysen neue Inhalte schaffen können wie beispielsweise Bilder oder Texte. So gibt es bereits ein neues Märchen im Stil der Gebrüder Grimm sowie diverse Gemälde, gemalt nach der Technik alter Meister wie Rembrandt oder van Gogh. Im bekannten Auktionshaus Christies in London kam bereits KI-produzierte Kunst unter den Hammer. Problematisch wird der Einsatz, wenn damit künstlich Inhalte geschaffen werden, die nicht als Fake gekennzeichnet sind, aber politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Entwicklungen beeinflussen oder sogar in eine bestimmte Richtung zu manipulieren versuchen.

Aktuell wird in Sachen Generative AI viel experimentiert. Die Werkzeuge benötigen große Mengen an Trainingsdaten und viel manuelles Tuning. Interessant für den Unternehmenseinsatz könnte die Technik im Zuge von Generative Adversarial Networks (GANs) werden. Dabei könnte KI neue Inhalte wie Bilder, Videos, ­Texte oder Musik kreieren. Darüber hinaus ­ließen sich im Zuge von Simulationen Umgebungen für die Entwicklung neuer Medikamente und Materialien mit bestimmten Eigenschaften bauen. Auch Trainingslandschaften beispielsweise für das autonome Fahren sind vorstellbar.

Der Bereich Formative AI in Gartners Hype Cycle umfasst noch weitere Technologien. Dazu zählen Small Data, also den Datenverbrauch beim Training von KI-Systemen möglichst gering und damit auch effizient zu halten. Adaptive Machine Learning beschreibt Techniken, mit deren Hilfe sich Algorithmen auch im laufenden Betrieb weiterentwickeln und nicht nur während einer dedizierten Trainingsphase vor dem Einsatz.

Damit ließen sich entsprechende Techniken auch schneller entwickeln. Self-supervised Learning zielt darauf ab, Machine-Learning-Algorithmen in die Lage zu versetzen, wie der Mensch durch eigene Beobachtungen zu lernen. Bis dato müssen entsprechende Techniken manuell angelernt werden. Am weitesten fortgeschritten in der aktuellen Gartner-Kurve sind Ontologien und Graphen. Dabei geht es darum, Daten und Wissen auf eine neue Art und Weise miteinander in Beziehung zu setzen – nicht mehr starr und hierarchisch, sondern flexibel und sich selbst organisierend. Das soll die Suche nach relevanten Informationen und das Content Management in den Unternehmen erleichtern.

Emerging Technologies 2020: Algorithmic Trust

Gartner stellt in diesem Jahr auch die Ver­trauensfrage hinsichtlich digitaler Techniken. Algorithmic Trust bildet 2020 einen separaten Technologie-Block. Der Verlust von Millionen persönlicher Datensätze, voreingenommene AI-Modelle, die bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminieren, und eine regelrechte Flut an gefälschten Nachrichten und Videos im Netz hat das Vertrauen vieler Menschen in Digitaltechniken erschüttert.

Als Reaktion darauf entwickle sich derzeit eine neue Vertrauensarchitektur, die die Verantwortung für einen vertrauensvollen Umgang mit Daten und Identitäten von Menschen und Organisationen auf Algorithmen überträgt. Algorithmische Vertrauensmodelle sollen herkömmliche Vertrauensmodelle ersetzen, die mit Menschen oder Organisationen verbunden sind und für einen besseren Schutz von Daten und mehr Sicherheit im Netz sorgen.

Eine Technik, die dafür derzeit oft ins Spiel gebracht wird, ist Secure Access Service Edge (SASE). Der Begriff beschreibt eine neue Sicher­heitsarchitektur, in der Security als Service gedacht und ausgeliefert wird. Dreh- und Angelpunkt für den Grad der Absicherung bilden Identitäten. Das können Nutzer, aber auch Endgeräte wie das Notebook zuhause oder ein IoT-Device in der Fabrikhalle sein. Infolgedessen dürften sich die klassischen Netzwerk-Sicherheitslösungen in den kommenden Jahren massiv verändern, sagt Gartner. Echte SASE-Services seien Cloud native, dynamisch skalierbar, global verfügbar, in der Regel als Micro­services konzipiert und Multitenant-fähig.

Angesichts des breiten Anforderungsprofils sei die Zahl kompletter SASE-Lösungen am Markt derzeit noch überschaubar, konstatieren die Analysten. Das dürfte sich jedoch bald ändern, heißt es unter Verweis auf zahlreiche Ankündigungen der Hersteller aus den zurückliegenden Monaten. Gleiches gilt für die Akzeptanz seitens der Anwender. Bis 2024 würden 40 Prozent der Unternehmen weltweit eine SASE-Strategie verfolgen – Anfang 2019 sei es gerade einmal ein Prozent gewesen. Die Vorteile der neuen Architektur lägen darin, dass sich mit der Technik die veränderten Security-Anforderungen der digitalen Transformation passgenauer abbilden ließen.

Gerade die Coronakrise habe dies den Verantwortlichen auf drastische Weise vor Augen geführt. Mit dem Wechsel von Millionen Angestellten in die Homeoffices hätten sich quasi über Nacht auch die Rahmenbedingungen in Sachen IT-Sicherheit umgedreht. An dieser Stelle schnell reagieren zu können, wird künftig ein elementarer Aspekt eines widerstandsfähigen Unternehmens sein.

Wenn immer mehr Entscheidungen AI-gestützt fallen, muss das Vertrauen in die Technik zu hundert Prozent gewährleistet sein. Immer wieder haben in den vergangenen Jahren Fälle für Schlagzeilen gesorgt, in denen Algorithmen mit Daten angelernt wurden, die die Ergebnisse tendenziös in eine bestimmte Richtung gelenkt haben. Die Diskriminierung von Minderheiten oder bestimmter Bevölkerungsgruppen hat das Vertrauen in AI massiv beeinträchtigt.

Das soll sich Gartner zufolge mit Hilfe von Explainable AI ändern. Entsprechende Techniken sollen dafür sorgen, dass die Black Box, wie AI zu ihren Ergebnissen kommt, transparenter wird. Damit soll klar ersichtlich sein, welche Stärken und Schwächen ein AI-Modell hat, und wie die Algorithmen funktionieren. Gerade in reglementierten Branchen wie dem Finanzsektor wird es für die Unternehmen zudem zur Pflicht, nachweisen zu können, wie die von ihnen verwendete AI rechnet.

Explainable AI hat den Gipfel der überzogenen Erwartungen überschritten und befindet sich auf dem Weg ins Tal der Enttäuschungen. Das hat Responsible AI noch vor sich. Die Technik steht kurz vor dem Peak, an der Stelle, an der Explainable AI vor einem Jahr stand. Darunter fassen die Analysten Technologien zusammen, die einen regelkonformen und ethisch korrekten Einsatz von AI über die gesamte Unter­nehmensorganisation hinweg gewährleisten sollen. Das betrifft Aspekte wie Vertrauen, Transparenz, Fairness, Erklärbarkeit, Sicherheit und Privacy, aber auch die Frage nach dem wirtschaftlichen und sozialen Wert des KI-Einsatzes.

Das größte Problem bei der Einführung der AI ist derzeit das Misstrauen in die Lösungen und das geringe Vertrauen in die positiven Auswirkungen von AI, konstatiert Gartner. Mittlerweile haben sich viele Unternehmen und Organisationen zu Prinzipien à la Responsible AI verpflichtet. Dazu zählen IT-Anbieter wie Accenture, Google und Microsoft, genauso wie viele Regierungen und Behörden sowie Anwenderunternehmen wie AXA, die Bank of America und Telefonica.

Gerade mit Blick auf die Ausbreitung von COVID-19 wird klar, wie wichtig dieser Technologieblock ist und noch werden wird. Wenn Behörden mit Hilfe von KI Vorhersagen treffen, wie sich die Pandemie entwickeln wird, und entsprechende Maßnahmen einleiten, um einer Ausbreitung Einhalt zu gebieten, muss für alle Betroffenen klar sein, wie und warum diese Entscheidungen gefallen sind.

Ganz am Anfang des Hype Cycle steht in diesem Jahr Authenticated Provenance. Damit beschreiben die Gartner-Analysten Techniken, mit denen die Herkunft von Assets, die per Blockchain verfolgt werden, sicher geprüft werden kann. Dabei geht es darum, zu verhindern, dass falsche Informationen in die Blockchain hineinfließen: Garbage in – Garbage forever, warnen die Analysten.

Da in einer Blockchain Informationen nicht mehr verändert und manipuliert werden können – das ist der grundlegende Sicherheitsvorteil einer Blockchain – muss umso genauer darauf geachtet werden, mit welchen Informationen eine Blockchain startet. Gartner rechnet in den kommenden Jahren mit einer stärkeren Akzeptanz der Distributed-Ledger-Technologie. Daher müssten sich die Unternehmen stärker mit Authenticated Provenance beschäftigen.

Rund um Identitäten hat Gartner zwei Technologien ausgemacht, die in Zukunft ebenfalls wichtiger werden dürften. Im Zuge von Differential Privacy sprechen sie von einem System, in dem Datensätze mit sensiblen persönlichen Daten so verschleiert werden, dass sie zwar für Analysen verwendet werden können, aber keine Rückschlüsse auf bestimmte Personen zulassen. Unternehmen arbeiten mit Hochdruck daran, mehr Geschäft mit ihren Daten zu machen.

Da es sich dabei aber vielfach um sensible Daten handelt, die durch Regulatorien wie die DSGVO geschützt sind, können Techniken wie Differential Privacy helfen, diese trotzdem zu verwenden. Dabei werden mit Hilfe von Algorithmen „Störungen“ in die Datensätze eingearbeitet, die eine Analyse nicht behindern, aber Rückschlüsse auf bestimmte Personen verschleiern.

Weit fortgeschritten im Hype Cycle und schon fast angekommen im Tal der Enttäuschung ist Bring Your Own Identity. Hier dreht es sich um die Verwendung von externen digitalen Identitäten wie einem Facebook-Account oder einer Banking-Identität, um Zugang zu anderen digitalen Services zu bekommen. Gartner zufolge sind gerade in den zurückliegenden Jahren viele verschiedene Optionen neu hinzugekommen, sich eine digitale Identität anzuschaffen. Infolgedessen warnen die Analysten vor einem Wildwuchs aus nicht miteinander kompatiblen Techniken.

Gartner Hype Cycle trifft SciFi: Beyond Silicon

Wie in jedem Hype Cycle darf auch 2020 ein wenig Science Fiction nicht fehlen. Diesmal geht es um die Basis, das Silizium. Jahrzehnte sei Moore’s Law die Leitplanke gewesen: Eine Verkleinerung der Strukturbreiten auf den Prozessoren sorgte regelmäßig für die notwendigen Leistungsschübe. Doch mittlerweile stoßen die Hersteller an Grenzen. Es stellt sich die Frage nach dem Material.

Eine mögliche Alternative könnten DNA-Computing und -Storage sein. Dabei bilden DNA- und biochemische Strukturen die Rechengrundlage. Daten ließen sich beispielsweise als Abfolge von Ribonukleinsäuren codieren, ähnlich wie das menschliche Genom in den Zellen. Entsprechende Technologien stehen aber noch in den Startlöchern. So findet sich die Technologie ganz am Anfang des Hype Cycle.

Auch biologisch abbaubare Sensoren liegen noch in weiter Ferne, so Gartner. Dabei handelt es sich um Sensoren aus ungiftigen Materialien, die sich unproblematisch in die Verwertungskreisläufe einbauen lassen. Einsatzgebiete könnten die Nachverfolgung von Lebensmitteln sein oder die Untersuchung von Wirkketten von Medikamenten im Pharmabereich.

Näher an der Realität sind Kohlenstoff-basierte Transistoren, wobei die Technik derzeit ins Tal der Enttäuschungen abrutscht. Etliche Hersteller arbeiten bereits mit Hochdruck an neuen Chips ohne klassisches Silizium. Es gibt zwei vielversprechende Beispiele: spezielle hexagonale Wabengitter aus Graphit und Kohlenstoff-Nanoröhren. Hauptproblem ist derzeit noch die Verarbeitung des Materials in extrem dünnen Mikrostrukturen.

Die Ausschussrate liegt zu hoch, als dass man von einem effizienten Produktionsprozess sprechen könnte. Gleiches gilt für die Kosten. Auch an den Schalt- und Leitfähigkeiten müssen die Forscher noch tüfteln. Die Versprechen sind aber groß: mehr Rechenleistung und weniger Energieverbrauch als bei den derzeit üblichen Silizium-basierten Chip-Architekturen.

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