Marion Weissenberger-Eibl, Fraunhofer ISI

Eine europäische Idee von Digitalisierung und IT

03.05.2023
Von Marion Weissenberger-Eibl
Marion Weissenberger-Eibl wettet im CIO-Jahrbuch 2023, dass Europa in fünf Jahren einen originären Umgang mit Digitalisierung und IT entwickelt und implementiert hat.
"Durch erfolgreiche Pro­jekte und Produkte im Bereich der Digitalisierung und Nachhaltigkeit können europäische Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verbessern," schreibt Marion Weissenberger-Eibl, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI, in ihrem Beitrag für das CIO-Jahrbuch 2023.
"Durch erfolgreiche Pro­jekte und Produkte im Bereich der Digitalisierung und Nachhaltigkeit können europäische Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verbessern," schreibt Marion Weissenberger-Eibl, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI, in ihrem Beitrag für das CIO-Jahrbuch 2023.
Foto: Johann Weissenberger

Zum heutigen Zeitpunkt hinkt Deutschland beim Thema DigitalisierungDigitalisierung leider immer noch hinterher. Das zeigte bereits der Digitalisierungsindikator, den das FraunhoferFraunhofer ISI gemeinsam mit dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Rahmen des Innovationsindikators 2017 entwickelt hat. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, den USA und Japan schneidet Deutschland insbesondere im Hinblick auf den Breitbandausbau, die Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung und teilweise in den Bereichen Forschung, Technologie und digitale Geschäftsmodelle schlecht ab. Top-500-Firmenprofil für Fraunhofer Alles zu Digitalisierung auf CIO.de

Während der Corona-Pandemie wurden die Ausgaben für Digitalisierungspro­jekte in mittelständischen Unternehmen in Deutschland erhöht. Jedoch beziehen sich diese verstärkt auf den Bereich der Kommunikation mit Kunden und den Vertrieb. Weniger ausgeprägt sind Investitionen, die digitale Technologien in betriebliche Strukturen integrieren. Die Digitalisierung ist also kein Selbstläufer, denn gemäß des KfW-Digitalisierungsberichts Mittelstand 2021 hat selbst Ende 2021 ein Viertel der mittelständischen Unternehmen keinen Schritt in Richtung Digitalisierung unternommen.

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Dabei gelten Innovationen und Digitalisierung als die wichtigsten Treiber für Wettbewerbsfähigkeit. Um sie zu fördern, gilt es, InnovationInnovation und Digitalisierung zusammenzudenken. Eine Studie des ZEW zeigt, dass Unternehmen, die Innova­tionen entwickeln, aktiver im Hinblick auf Digitalisierungsvorhaben sind als Unternehmen ohne Innovationsvorhaben. Gleichzeitig sind digitale Technologien häufig der Ausgangspunkt für Innovationen. Das bedeutet, viele Innovationen entstehen im Bereich der Digitalisierung oder setzten digitale Technologien voraus. Alles zu Innovation auf CIO.de

Doch die Coronakrise hat unter anderem Lücken in der Breitband-Internet-Versorgung aufgezeigt. In Deutschland haben nur 3,3 Prozent aller Haushalte leistungsfähige und zukunfts­sichere Glas­faseranschlüsse, und auch die Topwerte in Europa (Schweden: 56,8 Prozent, und Spanien: 53,3 Prozent) sind alles andere als flächen­deckend: Leistungsfähige Netze spielen aber aus Innovationssicht eine zentrale Rolle.

Im "Perspektiven - Policy Brief" 01/2021 des Fraunhofer ISI stellen die Autoren fest: "Dort, wo schnelle Leitungen und stabile Verbindungen verfügbar sind, profitieren Wirtschaft und Gesellschaft, werden kreative Kräfte freigesetzt und digitale und soziale Innovationen verschiedenster Art möglich." Künstliche IntelligenzKünstliche Intelligenz (KI) ist hier zum Beispiel eine Zukunftstechnologie mit großem Potenzial, da viele neu entwickelte digitale Technologien auf KI aufbauen: Ein Report über den globalen Wettbewerb im Bereich KI des Center for Data Innovation von 2019 sieht KI als zen­trale Technologie, um die Wettbewerbsfähigkeit anzutreiben, Produktivität zu steigern, nationale Sicherheit zu schützen und gesellschaftliche Probleme zu lösen. Alles zu Künstliche Intelligenz auf CIO.de

Europäer hinken hinterher

Ein Blick auf die Topunternehmen aus der IT-Branche zeigt, dass diese überwiegend in den USA oder Asien angesiedelt sind. Auch im Bereich KI liegt Europa hinter den USA und China. Eine Studie, die das Fraunhofer ISI im Auftrag der KfW erstellt hat, zeigt, dass US-amerikanische und chinesische Unternehmen im Jahr 2018 über 2.700 respektive 1.550 transnationale Patente anmeldeten.

Woran liegt das? Wenn wir in die USA schauen, sehen wir eine starke Kommerzialisierung und einen sehr liberalen Umgang mit technologischen Lösungen. In China beobachten wir dagegen einen eher autokratischen Umgang mit digitalen Technologien. Im oben genannten "Perspektiven - Policy-Brief" stellen die Autoren fest, dass der Schutz unserer Daten beispielsweise eine große Bedeutung in unserem Werteverständnis hat: "Unbestritten ist, dass die EU hier Standards geschaffen hat, die eine globale Ausstrahlung haben und Beachtung finden. Unklar ist dagegen, inwieweit sich daraus auch Wettbewerbsvorteile für europäische Produkte und Dienstleistungen ergeben". Dass die Vorbehalte größer waren als die Wahrnehmung der Potenziale, gilt es in Zukunft besser zu antizipieren.

Dass Europa bei der Entwicklung innovativer digitaler Technologien hinterherhinkt, gefährdet seine Souveränität. Der Acatech IMPULS-Beitrag zur digitalen Souveränität definiert diese als die "Fähigkeit von Individuen, Unternehmen und Politik, frei zu entscheiden, wie und nach welchen Prioritäten die digitale Transformation gestaltet werden soll".

Es ist daher wichtig, ein gemeinsames Verständnis von Digitalisierung zu entwickeln. Dann können wir von den Vorteilen digitaler Technologien profitieren und dennoch unseren Werten treu bleiben. Ich glaube, dass wir eine solche ­europäische Idee finden können, eine europäische Digitalisierungsstrategie, die europäische Werte beinhaltet und die Stärken Europas hervorhebt, um Europa wettbewerbsfähig zu machen, und die gleichzeitig die globalen Nach­haltigkeitsziele erfüllt.

Besonderheiten in Europa

Der europäische Wirtschaftsraum ist in seiner Ausgestaltung in der Welt einzigartig. Die Ziele der EU zeichnen sich durch eine starke soziale und wirtschaftliche, aber auch nachhaltige Kom­ponente aus. Eines dieser Ziele beschreibt das "Erreichen einer nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage von ausgeglichenem Wirtschaftswachstum und Preisstabilität sowie einer wett­bewerbsfähigen Marktwirtschaft mit Vollbeschäftigung und sozialem Fortschritt".

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Neben der wirtschaftlichen Komponente nimmt die ­soziale Komponente hier einen wichtigen Stellenwert ein, zum Beispiel durch die Förderung der ­sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Schutzes, des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, der Solidarität, der Gleichstellung von Frauen und Männern und des Schutzes von Kindern. Dabei soll die reiche kulturelle und sprachliche Vielfalt geachtet werden. Diese Vielfalt ist das, was die EU so einzig­artig macht und gleichzeitig vor eine Heraus­forderung stellt. Mit einer geeigneten Strategie kann die EU diese aber erfolgreich meistern und für sich nutzen.

Potenzial für Innovationen

Die Konkurrenz um wirtschaftliche Dominanz wird seit mehreren Jahren diskutiert. Das Ifo Institut widmet sich beispielsweise der Frage, wie sich Europa zwischen den USA und China positionieren kann. Wie oben skizziert sollte Europa hinsichtlich der Entwicklungen in Digitalisierung und Informatik den USA oder China nicht unreflektiert nacheifern, sondern einen eigenen Weg gehen. Innovationsstark zu sein bedeutet nämlich auch, eigene Nischen zu finden und eigene Ansätze voranzutreiben.

Aus der Innova­tionsforschung und -praxis wissen wir, wie wichtig vielfältige Perspektiven sind, um neue Ideen und Innovationen zu entwickeln. Die kulturelle Vielfalt der EU stellt somit ein großes Potenzial für Innovationen bereit. Um dieses Potenzial auszuschöpfen, ist es wichtig, in den Austausch zu gehen.

Vor allem in zwei Bereichen könnte sich die europäische Idee von Digitalisierung etablieren. Zum einen ist das die Verknüpfung von Digitalisierung und Nachhaltigkeit als ein wichtiges Ziel der EU. Denn die digitale Transformation ist nicht per se nachhaltig. Wir können - und sollten - sie aber nachhaltig gestalten. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) fordert, die Externalitäten der digitalen Transformation mit in den Blick zu nehmen und an innovativen Lösungen zu arbeiten.

Digitalisierung nachhaltig gestalten

Es gilt erstens zu akzeptieren, dass die Mega­trends Digitalisierung und Nachhaltigkeit die Lebens- und Arbeitswelt aller beeinflussen und dass es in unserer Verantwortung liegt, sie nach unser aller Vorstellungen zu gestalten. Zweitens ist eine systematische Analyse, wie und wovon wir in Zukunft leben möchten, erforderlich. Drittens geht es darum, Digitalisierung nachhaltig zu gestalten. Hier sind alle Nachhaltigkeits­dimensionen - Ökonomie, Ökologie und So­ziales - zu berücksichtigen.

Der WBGU schlägt vor, mithilfe von digitalen Technologien die nachhaltige Entwicklung voranzutreiben, indem zum Beispiel Elektroschrott in eine Kreis­laufwirtschaft zurückgeführt wird oder sozial verträg­liche Arbeitswelten der Zukunft ent­wickelt werden. Auf diese Weise kann auch der vierte Schritt erfolgen, das heißt negative Folgen können akzeptiert und diese überkompensiert werden. Wenn der Nutzen klar ist, fördert dies die Akzeptanz. Schon heute verbessern Digitalisierung und KI wichtige Prozesse im Rahmen der Energiewende, indem große Datenmengen auf den Gebieten Erzeugung, und Nachfrage sowie in Netzen gesammelt und ausgewertet werden.

Die Verknüpfung von Digitalisierung und Nachhaltigkeit nützt ganz Europa. Bür­gerinnen und Bürger profitieren von den unmittelbaren Effekten, wie zum Beispiel besserer Luft, medizi­nischer Versorgung oder stärkerem gesellschaftlichem Zusammenhalt. Durch erfolgreiche Pro­jekte und Produkte im Bereich der Digitalisierung und Nachhaltigkeit können europäische Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verbessern.

Europa kann eine Nische finden

Zum anderen wäre eine systematische digitale Transformation zum Wohle des Menschen ein Bereich, in dem Europa seine Nische finden könnte. Die Bedürfnisse des Menschen einzubeziehen, ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierung. Deshalb gilt es, diese auch in der Digitalisierungsstrategie zu berücksichtigen.

In Europa besitzen wir tatsächlich eine andere, einzigartige Kultur. Aus diesem Grund ist es zu kurz gedacht, Lösungen aus anderen Ländern zu kopieren. In der Digitalisierungsstrategie bleibt die EU ihren Prinzipien treu. Wichtige Faktoren dabei sind Offenheit, Demokratie, Nachhaltigkeit und Fairness. Wenn diese Prinzipien und Werte gewährleistet sind, finden digitale Lösungen auch Akzeptanz in der Bevölkerung.

Damit geht ein Aushandlungsprozess mit verschiedenen Akteuren aus gesellschaftlichen Teilbereichen einher. Ein vorsichtiger Optimismus zeigt, dass die Digitalisierung - vielleicht ganz besonders in der EU - großes Potenzial für eine wettbewerbsfähige digitale Wirtschaft eröffnet, die den Wirtschaftsraum stark macht. Digitale Lösungen ermöglichen den Austausch von Wissen und einer Vielfalt an Meinungen - Grundvoraussetzungen für neue Prozesse wie Open Innovation.

Was für Europa wichtig ist, wird derzeit vor allem am Anwendungsfall der künstlichen Intelligenz als wichtige Zukunftstechnologie diskutiert. Um die Akzeptanz und breite Nutzung von KI zu fördern, hat die Europäische Kommission eine Expertengruppe gegründet. KI repräsentiert eine neue Stufe in der Entwicklung hin zu automa­tischen und autonomen Systemen, bei der sich Fragen nach Privatsphäre, Datensicherheit und letztlich nach menschlicher Selbstbestimmung stellen.

Diese Diskussionen werden häufig unter den Begriffen 'menschenzentrierte KI', 'KI-Ethik' oder 'vertrauenswürdige KI' geführt. Grundsätzlich geht es darum, dass erstens menschliche Bedürfnisse und nicht Systemvoraussetzungen der KI ins Zentrum gerückt werden sollen, zweitens automatische Systeme bestimmte soziale und ethnische Gruppen nicht diskriminieren dürfen, und drittens die individuelle Handlungsmacht vorhanden bleibt.

Eine gemeinsame Idee entwickeln

Auch wenn an dieser Stelle die europäische Idee von Digitalisierung nur skizziert und kein abschließender Kriterienkatalog entwickelt werden konnte, ist doch einiges klar geworden: Wenn sich Europa mittel- und langfristig souverän und innovativ zwischen den USA und Asien behaupten möchte, lohnt es sich - auch wenn es aufgrund der Vielfalt in der EU eine besondere Herausforderung ist - Wege zu finden, um die Digitalisierung gemäß den Werten der EU zu gestalten. Dabei sind neben ökonomischen Interessen und politischen Abwägungen auch gesellschaftliche und kulturelle Aspekte zu berücksichtigen. Letztlich kann der Digitalisierungs­funke nur dann überspringen, wenn wir eine gemeinsame Idee von Digitalisierung entwickeln, aushandeln und implementieren.

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