Strategien


Digitalisierung und die Folgen

So gelingt die Transformation der IT

28.07.2016
Von Christian Loos und Alexander Hofmann

Organisatorische Überlegungen für eine Two-Speed-IT

Unternehmen müssen heute neue Produkte und Services in schnellen Iterationen zum Kunden bringen. Andererseits wollen sie datenschutz- oder sicherheitsrelevante Vorgänge nachvollziehbar und risikoarm abwickeln. Um beide Anforderungen zu erfüllen, bauen Firmen Sprint-Teams innerhalb der Regel-Organisation auf. Häufig entsteht so eine kulturelle Kluft zwischen Menschen in Marathonprojekten und Sprint-Vorhaben: hier die vermeintliche schnelle, hippe Sprint-IT, dort die beständige Marathon-IT. Wie verhindert man das?

Die Kunst besteht darin, Organisationsformen zu finden, in der beide IT-Modi gleichwertig ihren Beitrag leisten. Die Sprint-IT braucht genügend Unabhängigkeit von der Bestandsorganisation, ohne ihr dabei fremd zu werden. Die Sprinter müssen schnell neue Lösungen für Kundenanforderungen entwickeln können und gleichzeitig das Bewusstsein und Verständnis für den Wert von Stabilität erhalten. Gleichzeitig sollten sie den Marathonläufern die Möglichkeit eröffnen, sich mit neuen Vorgehensweisen vertraut zu machen. Idealerweise sind die Grenzen zwischen beiden Welten daher durchlässig. Sprint-IT-Labs und Rotation der Menschen zwischen Marathon- und Sprint-Projekten spannen dieses Arbeitsumfeld auf.

Laborbedingungen für Produkte

Jürgen Stefan wippt ungeduldig mit dem Fuß: "Das neue Projekt läuft nicht richtig an. Unsere Kollegen sind schon ausgelastet mit den Aufgaben, die sie haben. Und sie denken für das neue Produkt in den Bahnen, die wir schon kennen. Wie soll da was Neues herauskommen?" Stefan ist Projektleiter für eine neue Produktidee. Wie viele andere in seiner Rolle stellt er einige Wochen nach Projektbeginn fest: Mitarbeiter, die für einige Stunden in einem Innovationsprojekt mitarbeiten, und parallel dazu ihre Aufgaben in der Regelorganisation weiterführen, tun sich schwer damit, etwas Neues zu schaffen. Sie bringen bekannte Denkweisen aus ihrem bisherigen Arbeitsumfeld mit. Sich davon zu lösen, fällt schwer, weil sie mit einem Fuß oder mehr im alten Job bleiben. Viele Unternehmen importieren so auf dem Weg in eine IT der zwei Geschwindigkeiten ungewollt Abläufe und Logiken aus der Bestands-IT in die Sprint-Projekte.

Mit seinem Chef arbeitet Jürgen Stefan an Projektbedingungen, durch die seine Kollegen mehr Zeit haben und außerhalb der eingefahrenen Wege denken. Die beiden etablieren einen neuen Projekttyp: Mitarbeiter arbeiten in einem Innovationszentrum am neuen Geschäftsmodell. Die "Digital Labs" sind aus der Regelorganisation herausgelöst. Jedes Projekt arbeitet autonom.

So arbeiten Digital Labs

  • Weg vom Organigramm: Statt etablierter Linienverantwortung organisieren sich die Mitarbeiter in einem unabhängigen Team, das ausschließlich am Sprint-Projekt arbeitet. Statt der etablierten Funktionen gibt es neue - zum Beispiel angelehnt an ein Scrum-Team.

  • Weg vom alten Job: Menschen brauchen Zeit und Gelegenheit, um Neues zu entwickeln. Ihr altes Aufgabefeld kann sie davon ablenken. Wenn sie ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf das neue Projekt legen, investieren sie Zeit und Elan ohne Reibungsverluste mit den Aufgaben in der Bestandsorganisation.

  • Weg von etablierten Regelungen: Sprint-Projekte arbeiten explorativ, Prototyp-getrieben und nach Kunden-Feedback. Das geht einfacher, wenn sie einen höheren Freiheitsgrad haben, als Projekte in der Regelorganisation.

  • Weg vom alten Büro: Agiles Arbeiten mit kurzen Feedback-Zyklen braucht direkte Interaktion. Beim gemeinsamen Kaffeetrinken entstehen Ideen. Kollegen tauschen sich in einem Projektbüro oder auf einem gemeinsamen Stockwerk ungezwungener aus. Und entwickeln schneller ein Wir-Gefühl fürs Projekt.

  • Weg vom Abteilungsdenken: Agile Teams sind multifunktional aufgestellt - und damit quer zu den Abteilungen für Fachleute gleicher Art. Die enge Zusammenarbeit von Produktverantwortlichen, Wissensträgern aus Fachbereich oder Vertrieb, Softwareingenieuren und Designern in einem Team schafft ein übergreifendes Verständnis von Produkt oder Service. Sie löst einen Perspektivwechsel bei den Menschen im Projekt aus: Sie sind Beteiligte statt Betroffene, Stakeholder statt Zuschauer. Sie identifizieren sich mit dem Projektziel und machen es zu ihrem Anliegen.

Rotation ist das Zauberwort

Stefans Kollegen arbeiten in multifunktionalen Sprinter-Teams. Sie sind außerhalb des Organigramms unterwegs, in anderen Räumen und mit mehr Freiraum. Kurz: Sie arbeiten in der neuen Projektart "Sprint". Das schafft Freiraum, in dem Menschen Methoden abseits der ausgetretenen Pfade entdecken. Diese Unabhängigkeit verkehrt sich jedoch schnell in eine Undurchlässigkeit zwischen Sprint- IT und Marathon-IT: Parallel zur Regelorganisation wird ein neue, vermeintlich hippere Projektorganisation aufgebaut. Sie liegt quer zum bestehenden, und die beiden Stränge sind kaum noch kompatibel. Spätestens, wenn ein Sprint-Projekt in die Bestands-Organisation überführt wird, fallen die fehlenden Schnittstellen zwischen beiden Welten auf.

Rotation ist das Zauberwort: Kollegen wechseln für eine begrenzten Zeitraum in ein Sprint-Projekt. Sie haben in dieser Zeit keine Nebenprojekte oder Linienaufgaben. Nach dem Projekt oder einer bestimmten Projektphase kehren sie in ihre alte Rolle zurück. Das bringt mehrere Vorteile: Es entsteht nicht der Eindruck eines "Brain Drain" aus der Bestandsorganisation, wichtige Wissensträger werden eher für einen begrenzten Zeitraum ausgeliehen. Die Fachleute wiederum verlieren nicht ihre Expertise, die sie so wertvoll für das Sprint-Projekt macht. Und sie nehmen vielleicht aus dem Sprint-Projekt einen frischen Blick mit in ihren regulären Job.

Change-Management: Unterschiedlich schnell, gleich wertig

Rotation sorgt für Austausch zwischen beiden Organisationstypen: Die Marathon-IT findet in den neuen, flüchtigeren Methoden Impulse für ihre Arbeit. Die Sprint-IT lernen den Wert von Stabilität kennen und schätzen. Hier wird ein Risiko in der Transformation deutlich: die neue, agile Welt droht die bestehende IT zu überstrahlen, die leicht auf "zu langsam, zu schwerfällig" verkürzt wird. Eine Zweiklassen-Gesellschaft aus einer selbsternannten Startup-Elite und einer stabilen, aber vermeintlich langweiligen Marathon-IT kann die Folge sein.

Um dem gegenzusteuern, kommt dem Change Management eine wichtige Bedeutung zu. Es gilt, beide Welten wertzuschätzen, die Wertschöpfung beider Projektarten hervorzuheben und sie nicht gegeneinander auszuspielen. Kurz: Beide müssen als gleich wichtig und gleichwertig in den Köpfen verankert werden.

Die bewusst langsamere, auf Zuverlässigkeit und Sicherheit ausgerichtete Marathon-IT hat weiter große Bedeutung für Systeme mit hohen Anforderungen an Stabilität, Datenintegrität und Sicherheit. Und der Einbau einer neuen gesetzlichen Vorgabe in eine komplexe, gewachsene Systemlandschaft verlangt ebenso nach Menschen mit der richtigen Mischung aus Kreativität und technischer Expertise wie agile und innovative Vorhaben. Schlussendlich bedienen unterschiedliche Menschen mit ihren individuellen Fähigkeiten die verschiedenen Anforderungen.

Diese Akzeptanz braucht Unterstützung aus dem Management, aktives Vorleben und Moderation sind die Schlüssel. Der Change-Management-Prozess umfasst alle behandelten Bereiche: Grundlegend ist die kulturelle Transformation zur Outside-In- und Feedback-Kultur, die wir zu Beginn beschrieben haben. Die veränderte Haltung versteht Chancen wie Grenzen neuer Fertigkeiten und Methoden - etwa dass ein Prototyp zwar einen ersten Eindruck gut vermittelt, dafür aber wenig Detailgrad zeigt. Und sie braucht Fürsprecher in der Bestandsorganisation, die die Regeln des neuen Projekttyps tragen.

Die Organisation kann Unternehmen helfen, ihre Ziele zu erreichen. Sie kann diesen Zielen aber auch im Wege stehen. Sprint-IT-Labs und Rotation sind Anregungen, um den Anforderungen aus beiden Organisationstypen gerecht zu werden, ohne einen Kulturgraben zu schaffen zwischen Stabilität und Sicherheit einerseits, Innovation und Freiraum andererseits. Wie bei jeder organisatorischen Frage gilt: Die richtige Mischung aus Freiraum und Kompatibilität ist für jedes Unternehmen individuell. Wir raten, verschiedene Ideen auszuprobieren. Die Menschen im Projekt wissen oft genau, welche Rahmenbedingungen sie brauchen, um das übergeordnete Ziel zu erreichen.

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