Totale Überwachung

Warum finden Chinesen soziale Kontrolle so gut?

23.07.2018
In China unterscheiden Sozialpunktesysteme zwischen guten und schlechten Bürgern. Erstaunlich viele Chinesen befürworten das, zensieren sich in sozialen Medien und trennen sich von "Freunden", weil diese den eigenen Punktestand verschlechtern könnten.
China will das Leben der Menschen vor Betrügern und anderen "schlechten" Menschen schützen.
China will das Leben der Menschen vor Betrügern und anderen "schlechten" Menschen schützen.
Foto: Gang Liu - shutterstock.com

Es sind Instrumente der totalen Überwachung: Das kommunistische China will bis 2020 landesweit ein Sozialpunktesystem der Behörden einführen, das Vertrauenswürdigkeit ermitteln und zwischen guten und schlechten Bürgern unterscheiden soll. Schon heute messen ähnliche kommerzielle Sozialkreditsysteme der großen Internetkonzerne Alibaba und Tencent die Kreditwürdigkeit von zig Millionen Internetnutzern. Es ist wie mit dem Big Brother in George Orwells Roman "1984" ein tiefer Eingriff in die Privatsphäre. Westliche Kritiker warnen vor einem "digitalen Totalitarismus".

Doch unter Chinesen gibt es dahingehend wenig Problembewusstsein: Das Sozialpunktesystem wird von der großen Mehrheit sogar positiv bewertet, wie eine neue Studie der Freien Universität Berlin ermittelt hat. 49 Prozent der 2.209 Befragten äußern ihre "starke Zustimmung", während 31 Prozent "irgendwie zustimmen". Zusammen ergab die Online-Umfrage also 80 Prozent Zustimmung. Das Ergebnis ist überraschend - aber mindestens so interessant sind die Gründe, warum so viele diese Werkzeuge der sozialen Kontrolle auch noch gut finden.

Keiner traut mehr dem anderen

Nach Ansicht der Forscher, die auch Einzelinterviews führten, steckt dahinter eine tiefe Vertrauenskrise in Chinas Gesellschaft, wie auch 76 Prozent in der Umfrage bestätigten. Keiner traut mehr dem anderen. Skandale um Nahrungsmittel oder aktuell um schadhafte Impfstoffe erschüttern jedes Mal neu den Glauben in die Fähigkeit der Aufsichtsorgane, das Leben der Menschen vor Betrügern und anderen "schlechten" Menschen zu schützen. Korruption ist weit verbreitet. Behörden sind untätig. Es fehlt im kommunistischen System an einer unabhängigen Justiz, die für Gerechtigkeit sorgen könnte.

"Weil sie das Gefühl haben, niemandem trauen zu können, sind viele Menschen dem Sozialkreditsystem positiv gegenüber eingestellt", sagt Professorin Genia Kostka, die Autorin der Studie, der Deutschen Presse-Agentur. Es gibt Orientierung, bewertet nicht nur Menschen, sondern auch Unternehmen. "Trotzdem ist es nur die zweitbeste Lösung. Die Regierung könnte an besseren Regularien und einer wirksamen Umsetzung arbeiten." Mit effektiven Behörden, Rechtsstaatlichkeit und wirksamer Aufsicht ließe sich Vertrauen schaffen. "Die Regierung hat aber auch ein Interesse an der Sammlung dieser Daten", sagt die Professorin. "Ihr geht es um soziale Kontrolle."

Chinas Online-Riesen, die weltweit Vorreiter bei mobilen Zahlsystemen über Smartphones sind, sammeln heute schon fleißig Daten über Konsumverhalten und Zahlungskräftigkeit ihrer Kunden. So wird die Kreditwürdigkeit festgestellt, wobei auch der Punktestand der jeweiligen Freunde eine Rolle spielt. "In der Transformation in China hat sich das Kreditsystem der Banken und auch das regulatorische und rechtliche System zu langsam entwickelt", schildert die Professorin. "Das sind Fehler, die im Prozess passiert sind." Privatleute bekommen bei Banken nur schwer kommerzielle Kleinkredite. Dafür aber über den Alibaba-Kreditarm Sesame Credit oder bei Tencent - auf der Grundlage der Punktezahl ihres Sozialkreditkontos.

Punktesystem für Menschen

Die Sozialpunktesysteme der Behörden hingegen sind zwangsweise. Doch sind sie erst in gut 40 Pilotprojekten im Land eingeführt. Auch hier ist ein hoher Punktestand als "guter" Bürger notwendig, um bei der Bank einen Kredit zu einem normalen Zins für einen Wohnungskauf zu bekommen. Punktabzug gibt es für Regelverstöße, Verkehrsvergehen oder Zahlungsverzug bei Rechnungen. Allzu kritische Äußerungen in sozialen Medien könnten eines Tages auch dazu führen, dass jemand im Punktesystem nach unten rutscht, warnen Kritiker. Mit Spenden oder Freiwilligenarbeit lässt sich das Konto wiederum auffüllen.

Ohne eine freie Presse in China gibt es kaum Problembewusstsein oder Sorgen über Missbrauch. "Es gibt in den staatlich gelenkten Medien wenig kritische Berichterstattung", schildert Professorin Kostka. Die Regierung verkauft das System mit dem Argument, Vertrauen schaffen zu wollen. "Da stellt sich die Frage, ob es ihr die Öffentlichkeit hier einfach abkauft, weil es als Ersatz für das schlechte Rechtssystem funktioniert." Die Mehrheit versteht es auch nicht als Überwachung, sondern vielmehr als Werkzeug, "die Lebensqualität zu verbessern" und "institutionelle und regulatorische Lücken" zu schließen.

Vertrauenswürdigkeit gefährdet

Die Nützlichkeit der Kreditsysteme von Online-Konzernen ebnet auch den Weg für das politische Punktesystem. "Es gibt heute auch mehr Vorteile als Nachteile durch das System. Vielleicht wird versucht, die Leute daran zu gewöhnen und zu ködern", sagt Kostka mit Blick auf die kommerziellen Systeme, die 80 Prozent der Befragten nutzten. Nur 7 Prozent waren nach eigenem Wissen Teil der noch weniger verbreiteten Sozialpunktesysteme der Behörden. Beide Systeme tauschen sich heute schon darüber aus, wie Daten verknüpft werden können.

Seit jeher schnüffelt der kommunistische Staat im Privatleben der Chinesen herum. "Die Leute sind ohnehin daran gewöhnt, dass alles kontrolliert wird", sagt Kostka. "Da ist der Sprung, dass die Regierung auf diese Weise Daten sammelt, nicht so groß." Es geht der FührungFührung aber auch um die Erziehung ihrer Untertanen. Viele der Befragten gaben an, ihr Verhalten schon geändert zu haben oder sich online selbst zu zensieren. Fast jeder Fünfte (18 Prozent) teilt andere Inhalte, weil er Teil eines Sozialpunktesystems ist. Genauso viele haben sich auf sozialen Medien schon von "Freuden" getrennt, weil deren schlechter Punktestand potenziell die eigene Vertrauenswürdigkeit verringern könnte. (dpa/rs) Alles zu Führung auf CIO.de

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