Strategien


Exklusiv-Interview mit dem CTO

Warum Siemens-Vorstand Russwurm sich für den Raspberry Pi interessiert

Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.

Der Fortschritt bei Industrie 4.0, so heißt es immer wieder, leide unter fehlenden Standards. Können Sie dem zustimmen?

Siegfried Russwurm: Die intellektuelle Vorarbeit, wie sie hier zum Beispiel von einer Organisation wie Acatech geleistet wurde, ist exzellent und wichtig. Was wir aber aus der Industriesicht im Jahre 2014 festgestellt haben, ist, dass wir jetzt die PS auf die Straße bringen müssen - für echte industrietaugliche Anwendungen. Dazu müssen Wertschöpfungsnetzwerke übergreifend entstehen, in denen die Anwender einen Mehrwert für ihr Geschäft sehen. Deshalb haben wir zur Hannover Messe im Frühjahr 2015 angekündigt, dass wir jetzt die Arbeitsweise ändern. Weg vom intellektuellen, forschungsgetriebenen Ansatz, hin zu: "Welche Anwendungsszenarien sind Beispiele in den Unternehmen dafür, wie die Plattform Industrie 4.0 mit ihren Möglichkeiten das Geschäft unterstützt?"

Wir bringen so die Dinge auf den Punkt und erzeugen Relevanz in der deutschen Industrie. Da gehört natürlich die StandardisierungStandardisierung dazu. Man muss allerdings die Erwartungshaltung ein bisschen kalibrieren. Wer glaubt, man könne Digitalisierung in der Industrie so vereinfachen, dass es einen Stecker gibt, und dann spricht jeder mit jedem, der verkennt die Situation. Alles zu Standardisierung auf CIO.de

"Kein Lock-in, keine Geiselhaft"

Sind Standards zu Industrie 4.0 demnach eine Illusion?

Siegfried Russwurm: Es muss und wird immer unterschiedliche Implementierungen und Lösungen geben, die im Wettbewerb stehen. Was uns aber mit unserer vorwettbewerblichen Plattform ganz gut gelingt, ist, einen Rahmen zu schaffen, sodass für einen Nutzer der Wechsel zwischen verschiedenen Anbietern keine Katastrophe ist. Kein Lock-in, keine Geiselhaft. Es gibt einen etwas sperrig klingenden Namen für diesen Rahmen, der heißt Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0, kurz RAMI 4.0. Das ist keine einheitliche Architektur, auf eine solche hätten wir uns im Wettbewerb niemals einigen können und dürfen. Aber es ist ein Architekturrahmen, innerhalb dessen sich Kunden und Anbieter bewegen können.

Wo ganze Geschäftsmodelle auf Daten basieren, werden Themen wie Softwareentwicklung, Daten-Management und IT-Security zur Überlebensfrage.
Wo ganze Geschäftsmodelle auf Daten basieren, werden Themen wie Softwareentwicklung, Daten-Management und IT-Security zur Überlebensfrage.
Foto: Siemens

Mit diesem Rahmen sind wir auf die Normungsgremien zugegangen, haben aber die Plattformen selbst nicht standardisiert. Wir warnen auch davor zu glauben, dass das funktionieren könnte. Wir brauchen weltweite Normen und eine weltweit vernetzte Industrie. Das hat dann dazu geführt, dass wir unter anderem mit dem Industrial Internet Consortium (IIC) zusammenarbeiten.

Wir haben verstanden, wo die Unterschiede sind und wo die Überlappungen. Jetzt gehen wir in die Normungsgremien und sagen, was sinnvolle Normen sind. So bewegen sich die Dinge bei den großen Anbietern in eine Richtung mit gemeinsamen Strukturen, aber auch ausreichenden Differenzierungsmöglichkeiten.

"Testbeds" gemeinsam zu nutzen ist sinnvoll

Wäre es nicht vernünftig, die weltweiten Standardisierungsgremien an einen Tisch zu holen und einheitliche Standards und Zertifizierungen herauszugeben?

Siegfried Russwurm: So etwas passiert eher bottom-up als top-down. Das entscheidet der Markt. Wenn Sie Standards top-down festlegen, dann hören Sie in kürzester Zeit 1.000 Gründe, warum das nicht funktionieren kann. Wichtig ist ja, dass es für den Nutzer einfach und fehlerfrei läuft - je kleiner der Betrieb, desto wichtiger. Wir halten es für einen guten Ansatz, wissenschaftliche Testumgebungen, sogenannte Testbeds, gemeinsam zu nutzen und so Konformität praxisnah darzustellen.

Wir haben in Deutschland mit "Labs Network Industrie 4.0" einen Verein gegründet, mit dem wir solche Testbeds organisieren; gleichzeitig reden wir mit vielen Partnerorganisationen oder internationalen Pendants, ob wir die Versuchsreihen und potenziellen Standards, die wir testen, synchronisieren können. So kann der Mittelständler, der in Karlsruhe in das Testbed geht, prüfen, ob seine Lösung auch mit den Standards anderer Länder kompatibel ist.

Von autonomem Fahren ist überall die Rede, doch in den Werkshallen der Autobauer geht es erst einmal um autonomes Produzieren.
Von autonomem Fahren ist überall die Rede, doch in den Werkshallen der Autobauer geht es erst einmal um autonomes Produzieren.
Foto: Siemens

Lassen Sie uns über die gesellschaftlichen Folgen der Vierten Industriellen Revolution sprechen. Viele Marktforscher glauben, dass im großen Stil Arbeitsplätze wegfallen werden.

Siegfried Russwurm: Ich bin kein Fan des Begriffs Vierte Industrielle Revolution. Erstens: Als gelernter Produktioner weiß ich: Es geht immer um evolutionäre Veränderungen. Zweitens: Es steht wohl erst unseren Enkeln zu, irgendwann zu sagen: Damals, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wurde etwas wirklich Revolutionäres gemacht.

Ich vergleiche das, was heute stattfindet, immer mit der Dritten Industriellen Revolution in den 1980er-Jahren. Damals, auf dem Gipfel der Automatisierung, haben wir ähnlich diskutiert. Es hieß, dass es Heerscharen von Arbeitslosen geben würde. Das ist nicht eingetroffen. Ich bin Optimist in dieser Frage. Wir werden sehen, dass die Digitalisierung viel weniger Einfluss auf die Kollegen in den Fabriken haben wird, weil Automatisierung und Digitalisierung am Shop Floor schon längst stattgefunden haben.

Wenn Sie heute mit einem unserer Mechatroniker reden, der eine komplexe, hochgradig vernetzte Werkzeugmaschine bedient, dann ist der auch am Browser fit. Er hat einen Thin-Client, über den er die Anlage steuert, und nicht mehr diverse Knöpfe an der Maschine. Auf seinem Handheld kann er im Prinzip alles tun.

Jobs werden eher in den klassischen Angestelltenbereichen wegfallen. Den Disponenten, der noch auf die Lagerbestände schaut und, wenn ein bestimmter Level erreicht ist, beim Lieferanten anruft, um nachzubestellen - der könnte es künftig schwerer haben. E-Auctions verändern die Regeln in Einkauf und Vertrieb. Sind die Regeln einmal festgelegt und die Spezifikationen vollständig digital beschrieben, dann muss man sich nur noch im Portal des Kunden qualifizieren, und schon ist man bei der E-Auction mit dabei. In Zukunft reden dabei wahrscheinlich nur noch die Systeme von Kunden und Anbietern miteinander - ohne dass Menschen dabei eingreifen.

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