LVM Versicherung

10.000 Desktops auf Ubuntu migriert

12.01.2012 von Christiane Pütter
Rund 10 000 Nutzer bei der LVM Versicherung haben jetzt Ubuntu auf dem Desktop. Bei der Umstellung tat es manchmal ein bisschen weh, wie der Projektleiter zugibt. Doch der Spaß am maßgeschneiderten System überwiegt.
Stephan Heuer Projektleiter, LVM Versicherung: "Katastrophenmeldungen völlig verzweifelter Nutzer hat es bisher nicht gegeben."
Foto: LVM Versicherung

Wer idyllisch durch die Lande wandert, passiert irgendwann alte Gehöfte mit Inschriften wie "Es ist kein Mann so hoch im Land, dass er nicht lebt vom Bauernstand." Allein der Stolz reicht dem Bauern heute nicht mehr - Landwirte müssen Haus und Hof absichern. Eine ihrer traditionsreichsten Assekuranzen ist die LVM Versicherung aus Münster.

Das 1896 gegründete Unternehmen versteht sich nach wie vor als Rundum-Versicherer für landwirtschaftliche Betriebe. Das heißt allerdings nicht, dass die IT der LVM mit dem Ochsenpflug daherkäme - die Versicherung arbeitet mit Open Source und hat sich für die Zusammenarbeit mit einem jungen Dienstleister entschieden. Vor wenigen Monaten schlossen die Münsteraner ein Migrationsprojekt der Desktop-Betriebssysteme ab.

Zentrale Administrierbarkeit

Die Projektleitung lag bei Stephan Heuer. Der promovierte Mathematiker verantwortet alle Arbeitsplatzsysteme. Das heißt: Circa 2200 Versicherungsagenturen, in denen insgesamt rund 4500 Anwender tätig sind, müssen betreut werden. Dabei operieren die Außendienstmitarbeiter zusätzlich mobil mit Laptop beim Kunden vor Ort. Hinzu kommen rund 3200 Nutzer im Innendienst sowie weitere rund 750 Heimarbeitsplätze.

Im Sommer 2009 entschied sich die Unternehmensleitung für die Migration auf die Ubuntu-Version 10.04 LTS ("Lucid Lynx", zu Deutsch: leuchtender Luchs). Von insgesamt 11.650 Systemen wurden 10.000 umgestellt. Als Partner wählte die LVM Canonical. Das 2004 gegründete Unternehmen fungiert als Ubuntu-Sponsor und gehört dem südafrikanischen Multimillionär Mark Shuttleworth.

Bedingungen des Projekts: Heuer wollte zentrale Administrierbarkeit, regelmäßige Releases und die Bereitstellung von Anwendungen wie OpenOffice, Firefox und Lotus Notes inklusive Sametime. Im Mittelpunkt aller Anwendungen steht das Always-online-System, das Anwendungssystem LAS, auf Basis von Java/Swing. "Mit dem LAS haben Innen- und Außendienst einen permanenten Zugriff auf denselben aktuellen Datenbestand zur Erstellung von Angeboten, für den Vertragsabschluss und die Verwaltung der Kundendaten", erklärt Heuer. Die Anwendungen werden per Netzwerk im LAN und WAN - auch mobil - bereitgestellt.

Im Bereich der Betriebssysteme hatte die LVM Versicherung zuvor mit RedHat zusammengearbeitet. Hier sei jedoch die Unterstützung für die im Außendienst eingesetzten Laptops "nicht ideal" gewesen. Vom neuen Partner erwartet die LVM nun, dass er seine Rolle als Hardware-Enabler ausfüllt und auch nach der Migration für einen stabilen Regelbetrieb sorgt. Die grundsätzliche Entscheidung für quelloffene Software kam nicht von ungefähr: Seit etwa zehn Jahren laufen die Client-Systeme mehrheitlich ebenso wie viele Server der LVM unter Linux. Der Versicherer verabschiedete sich damals von einem etwas betagten, aber fachlich leistungsfähigen System der mittleren Datentechnik von Siemens Nixdorf im Außendienst.

Werner Schmidt IT-Vorstand, LVM Versicherung: "Solch ein Schritt, wie wir ihn hier bei der LVM gegangen sind, will natürlich reiflich überlegt sein."
Foto: LVM Versicherung

Strategische Partnerschaft mit Canonical heißt für Projektleiter Heuer: Der Dienstleister stellt für die LVM Versicherung einen sogenannten Premium Service Engineer (PSE) ab. Er soll als "Single Point of Contact" bei Problemen auf ein weltweites Expertennetzwerk zugreifen können. Gemeinsam mit dem PSE entwickelte die Projektgruppe einen Migrationsplan. Während der Umstellung selbst veranschlagten die Unternehmen 100 Personentage, an denen der Engineer den Kunden begleitete. Vonseiten der Versicherung arbeiteten zeitweise bis zu zehn Kollegen in den Bereichen Basissysteme, Infrastruktur und Anwendungen. In Bezug auf Administratives, beispielsweise Terminplanungen oder Terminverschiebungen, gibt es eher grobe Schätzungen. Kurzfristige Spitzen im Anwenderservice mussten durch temporäre Personalzuführung aufgefangen werden.

Ab Sommer 2010 erfolgte der Roll-out in die ersten Agenturen der LVM Versicherung über die vorhandenen WAN-Strecken im Rahmen einer nächtlichen Übertragung. Die letzten Anwender, die Mitarbeiter aus dem Innendienst, wurden im Frühjahr 2011 auf Ubuntu 10.04 migriert. Das betraf sowohl ihre Arbeitsplätze am Standort Münster als auch die Heimarbeitsplätze. Sämtliche Nutzerdaten und "nahezu alle Anwendungen" blieben bei der Umstellung erhalten.

Unternehmenszahlen der LVM Versicherung

Unternehmen

LVM

Hauptsitz

Münster

Branche

Versicherung

Umsatz

2,6 Milliarden Euro Beitragseinnahmen (2010)

Mitarbeiter

3000 (umgerechnet in Vollzeitstellen)

IT-Kennzahlen

IT-Mitarbeiter

> 500

CIO

Werner Schmidt (IT-Vorstand)

IT-Benutzer

10.000 (inklusive Agenturen)

Offene Benutzer-Foren

Die LVM operiert mit einem Mix aus adaptierten Open-Source-Lösungen, Eigenentwicklungen im operativen Bereich und kommerzieller Software im Kollaborationsbereich. Vorbereitende Schulungen im Rahmen der Migration gab es nicht - aufgrund "der hohen Medienkompetenz bei den Anwendern sowohl im Außen- als auch im Innendienst" habe man darauf verzichten können. Bei Fragen konnten sich die Anwender an den First-Level-Suppport wenden. Bei komplexeren Funktionen habe es allerdings "manchmal ein bisschen weh getan", wie Projektleiter Heuer zugibt.

Letztlich habe das Unternehmen auf den Gedanken von Open Source gesetzt: Nutzer tauschen sich aus und helfen sich gegenseitig. "Dafür haben wir auch offene Benutzer-Foren genutzt", erklärt er. Zur Betriebsunterstützung trifft sich die Projektgruppe einmal wöchentlich mit dem Anwenderservice und dem Second-Level-Support zum Jour fixe. "Katastrophenmeldungen" völlig verzweifelter Nutzer habe es bisher jedenfalls nicht gegeben, berichtet Heuer.

Stattdessen macht er eine ganz andere Erfahrung: Quelloffene Software verlockt talentierte Mitarbeiter zum Entwickeln immer neuer Ideen. Diese werden über das interne Vorschlagswesen "LVM-IdeE" gesammelt. Leider könne man nicht alles umsetzen. Wie auch immer - letztlich werden die Erfahrungen der Endanwender über den Erfolg von Ubuntu entscheiden. Hier gelten das Ticketvolumen im Anwenderservice und die Anzahl der Anrufe pro Gerät als Maßstäbe.

"Ein Schritt, wie wir ihn gegangen sind, will natürlich reiflich überlegt sein", erklärt LVM-IT-Vorstand Werner Schmidt. "Vier Bedingungen mussten für uns erfüllt sein: Oberstes Gebot ist, dass mit dem Wechsel bedarfsgerechte Bedingungen für die Anwender geschaffen werden, auch dadurch, dass das Basissystem den immer kürzeren Zyklen der Veränderungen und Neuerungen der Treiber gewachsen ist, dass die Systeme zentral einfach administrierbar sind und dass der Wechsel und der Betrieb kostengünstig sind."

Open Source - Innovation in der Branche

Deutsche Versicherungen zeigen sich in Sachen IT typischerweise konservativ, sagt Carlo Velten, Frankfurt, vom Berater Experton. Zwar arbeiteten sie durchaus mit Open Source, allerdings komme dann typischerweise Linux als Betriebssystem für die Server zum Einsatz. Im Bereich Client ist diese Nutzung noch ziemlich ungewöhnlich.

Das Beispiel von der LVM darf hier durchaus als innovativ gelten, so Velten, denn Canonical als Dienstleister ist weniger etabliert als die großen Angestammten. Was auch heißt, dass Team und Partner zahlenmäßig schwächer sind. Dabei soll nicht übersehen werden, dass Dell auch mit Canonical kooperiert.

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Neue Version im Frühjahr

Voraussichtlich wird die LVM im kommenden Frühjahr auf Version 12.04 migrieren. Auch dabei wird sich Heuer mit Canonical absprechen. "Wir werden ja nicht jedes Feature brauchen", sagt er. "Da wollen wir uns vorab darüber beraten lassen." Wenn er davon erzählt, merkt man ihm die Freude an der Arbeit an. "Uns macht es einfach Spaß, den Leuten ein maßgeschneidertes System zu bieten", sagt er. Ob hier vielleicht auch der bäuerliche Eigensinn auf den Rundum-Versicherer für Landwirte abgefärbt hat, sei dahingestellt.