Mut zur Informationslücke

Abschalten, bevor das Hirn raucht

02.02.2004 von Lars Reppesgaard
Wissen ist Macht. Informationen in Übermengen führen hingegen zu Ohnmacht. Arbeitsforscher plädieren für mehr Mut zur Lücke.

Unbestellte Fachzeitschriften und Analysen, die sich auf dem Schreibtisch stapeln. E-Mails und Newsletters, die über Entwicklungen informieren, die morgen schon überholt sind, weil die nächste Informationswelle durch das Netz schwappt. Dazu das ständige Gefühl, trotzdem nicht alle wesentlichen Informationen erwischt zu haben - Robert Ondrus, IT-Leiter der OSI International Foods GmbH in Günzburg, kommt das bekannt vor. "Leider", sagt er, denn die Masse gedruckter und digitaler Informationen, die auf ihn einströmt, nimmt stetig zu. "Ich habe zwar gelernt, Texte durch Querlesen schnell auszuwerten", räumt Ondrus ein. Aber was zu viel sei, sei zu viel.

18 Billiarden Megabyte kursierten 2003

Dabei stehen nur 0,3 Promille der heute verfügbaren Informationen noch auf dem Papier; das ermittelten Wissenschaftler der Universität Berkeley. Der Rest ist digital gespeichert und prasselt in Form von E-Mails und Echtzeit-Börsenkursen, Datenbank-Reports oder Texten in Online-Magazinen auf die CIOs ein. Daten in einer Menge von 18 Exabyte, das sind 18 Billiarden Megabyte, wurden im vergangenen Jahr elektronisch ausgetauscht, haben die kalifornischen Forscher ermittelt.

Das Überangebot an ständig aktualisiertem Input zwingt Manager und Mitarbeiter gleichermaßen in die Knie. "Vielerorts fehlen die Kompetenzen, mit so vielen Informationen umzugehen", erklärt Roman Soucek, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialpsychologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Natürlich müssten vor einer Entscheidung Informationen gesammelt werden. Doch wer heute sucht, findet oft kein Ende, beobachten Arbeitsforscher - aus Angst, vielleicht etwas Wichtiges zu übersehen.

Dazu kommt, dass mit der Masse der Informationen deren Klasse nicht unbedingt zunimmt. "Die Arbeitsweise wird oberflächlicher", sagt Soucek. "Man schreibt und liest nicht mehr in der nötigen Tiefe. Bruchstücke werden falsch oder gar nicht zusammengesetzt und zum Teil vergessen." Zudem sei nur ein Bruchteil der Informationen bei IT-Investitionen wirklich relevant. "Die Anzahl der Entscheidungsparameter ist über die Jahre hinweg nicht gestiegen", sagt Ondrus. "Man achtet nach wie vor auf die wirtschaftliche Stärke des Anbieters, die Funktionalität, den Preis oder Support-Strukturen."

Das Strampeln in der Info-Flut verursacht zudem Stress. Der ist zwar nicht automatisch schädlich - Psychologen und Mediziner unterscheiden zwischen vitalisierendem "Eustress" und schädlichem "Distress". Letzterer entsteht dann, wenn Menschen sich überfordert fühlen - mit bösen Folgen: "Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen Datenüberflutung und psychosomatischen Erkrankungen", warnt Katja Preising, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Erlangen. Jeder fünfte der von ihr befragten Arbeitnehmer klage über starke Probleme durch den Umgang mit zu vielen Nachrichten. Die Auswirkungen: Kopf- und Rückenschmerzen, Schlafprobleme, Herz- und Kreislaufbeschwerden, Aggressionsbereitschaft sowie Konzentrations- und Leistungsstörungen.

Wie aber können CIOs die Informationsmengen für sich und ihre Mitarbeiter so reduzieren, dass alles Nötige verfügbar ist, der Overkill aber vermieden wird? Softwareanbieter sind schnell bei der Hand, Business-Intelligence-Lösungen und Unternehmenssuchmaschinen als Gegenmittel anzupreisen. Doch auch der beste Filter und das eleganteste grafische Unternehmenssteuerungs-Cockpit entheben niemanden von der Pflicht, selbst das Notwendige vom Überflüssigen zu trennen. "Wer ausschließlich technisch denkt, kriegt die Informationsflut nicht in den Griff", sagt Arbeitsexperte Gunter Meier vom Beratungsunternehmen More E+E in Nürnberg.

Unnötiges gehört in den Müll

Meier plädiert dafür, bewusst die Zahl der Informationsquellen zu reduzieren und in Kauf zu nehmen, auch Input zu verpassen. "Dafür brauche ich ein Raster im Kopf, um festzustellen, welche Informationen dafür wichtig sind und welche nicht", sagt der Arbeitsforscher. Sinnvoller als das Sammeln von Informationen sei es, sich mehr Zeit zum Entscheiden zu nehmen.

Zu dieser Strategie gehört der Wille, ein unverlangt zugesandtes Magazin oder einen Prospekt ungelesen in den Müll zu werfen, anstatt darüber nachzudenken, ob nicht vielleicht doch etwas Interessantes drinstehen könnte. Dazu gehört aber auch der Mut, im Always-on-Zeitalter Informationen wenigstens zeitweise bewusst auszusperren. Beispiel E-Mail: Während früher einmal pro Tag die Post ausgeliefert wurde, werden die Menschen heute andauernd von Info-Happen gefordert, die ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. "Man wird laufend bei dem, was man tut, unterbrochen", sagt Arbeitsforscher Soucek. Darunter leide nicht nur der Arbeitsfluss. Früher wurde verbindlich geplant und umgesetzt, heute würden die Abläufe permanent umstrukturiert. "Es treffen ständig neue Informationen ein", so Soucek. "Das zwingt die Mitarbeiter dazu, laufend neue Prioritäten zu setzen."

Vorsicht bei Newslettern

Mancher CIO wird da zum bekennenden Input-Verweigerer: Um die Ruhe zu haben, die er zum Arbeiten braucht, hat beispielsweise Markus Allgaier, seit dem Jahreswechsel als Vorstandsmitglied des Wein-Großimporteurs Mack & Schühle AG unter anderem für die IT verantwortlich, inzwischen alle Newsletter abbestellt, die er abonniert hatte. "Ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas verpasse", sagt er. Unverlangt zugesandtes Informationsmaterial ignoriert er aus Prinzip. "Das ist Zeitverschwendung." Ideen für neue IT-Projekte bekommt er auch so. Derzeit überlegt Allgaier, ob er Handhelds zum strategischen Bestandteil der Unternehmens-IT macht. Die Anregung dazu kam nicht von einem Kleinstcomputer-Hersteller. Allgaier griff die Idee nach Feierabend auf - beim Fernsehen.