E-Business im Arzneimittelhandel

Äskulap geht online

08.07.2002 von Andreas Schmitz
Apotheker und Pharma-Großhändler in Deutschland klagen derzeit reihenweise gegen Krankenkassen, die Verträge mit Online-Pillenhändlern schließen. Das Gesundheitsministerium aber möchte den Versand von Arzneimitteln so schnell wie möglich legalisieren. Für diesen Fall sind die traditionellen Marktführer schlecht gerüstet.

Wer beim Stuttgarter Pharma-Großhändler Gehe über das Internet Medikamente bestellen will, der bekommt Risiken und Nebenwirkungen gleich mitgeliefert - aber nicht die der Produkte, sondern die der elektronischen Bestellung. "Aus rechtlichen Gründen kann keine Auslieferung ihrer Bestellung erfolgen", heißt es auf der Gehe-Plattform pharmacy-point.de. Der Kunde kann Medikamente also online bestellen, abholen muss er sie allerdings in der Apotheke.

Das ist in Deutschland rechtlich nicht anders möglich. So bestätigte etwa das Oberlandesgericht Frankfurt im vergangenen Jahr das seit vier Jahren bestehende Versandhandelsverbot mit der Begründung, dass Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel gegen das Heilmittelwerbegesetz verstoße. Ende Mai berief sich auch das Bayerische Sozialministerium auf die Klauseln im Arzneimittelgesetz und verpflichtete den bayerischen Landesverband der Betriebskrankenkassen, den mit dem Online-Anbieter Doc Morris geschlossenen Vertrag aufzulösen und jegliche Werbung zu unterlassen. Die ist für Online-Apotheken allerdings überlebenswichtig, weshalb die Entscheidung einem Geschäftsverbot gleichkommt.

Gehe-CIO Lutz Eberhard ahnt, dass die Freigabe des Online-Handels für Medikamente kaum aufzuhalten ist. Anfang 2003 wird der Europäische Gerichtshof klären, ob das deutsche Verbot mit dem EU-Recht im Einklang steht. Deshalb hat Gehe sich für die drohenden Umwälzungen im Pillenvertrieb gerüstet und eine eigene E-Commerce-Plattform entwickelt. Zudem kauft das Stuttgarter Unternehmen seit Jahren Apothekenketten im Ausland auf, um so seinen Marktanteil zu erhöhen.

Seit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) kürzlich angekündigt hat, alles dafür zu tun, den Versandhandel in Deutschland und damit auch den Online-Handel von rezeptpflichtigen Medikamenten zu legalisieren, sind Pharma-Großhändler und Apotheker in Aufruhr. Denn bis zu acht Prozent des mehr als 20 Milliarden Euro starken Markts stünden auf dem Spiel. Nicht nur die Ministerin, auch die Krankenkassen, die sich Kosteneinsparungen versprechen, und die Europäische Union wollen die Liberalisierung.

Der Europäische Gerichtshof entschied bereits vor Jahren, dass EU-Bürger Medikamente aus jedem Land der EU beziehen können sollen. "Erst vor kurzem empfahl der Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Union in einer Stellungnahme, die Leistungsfähigkeit dieser Vertriebssysteme weiterzuentwickeln, um die Arzneiausgaben einzudämmen", erläutert André Leue, Analyst der Bank Sal. Oppenheim.

Der Bundesverband Deutscher Apothekerverbände ist schockiert. Pressesprecher Elmar Esser sieht eine große Gefahr darin, dass in Brüssel über deutsche Belange und letztlich auch über die nationale Arzneimittelsicherheit entschieden werde. "Was einmal an die EU gegeben wurde, kommt nicht mehr zurück", fürchtet er. Zudem finanzierten herkömmliche Apotheken ihre "niedrigpreisigen" Arzneimittel und auch Zusatzleistungen wie den jährlich 200 Millionen Euro teuren Nachtnotdienst über die erheblich höheren Margen bei den "hochpreisigen" Medikamenten. Wenn jetzt Online-Händler genau diese Medikamente billiger anböten, würde das gesamte Versorgungssystem auseinander brechen, befürchtet Esser. Mit der Unterschrifteninitiative "Pro Apotheke" versucht der Verband derzeit, die Verbraucher zu mobilisieren.

Sanacorp Pharmahandel, zu drei Viertel in fester Hand von Apothekern, gibt sich demonstrativ gelassen: "Wir gehen davon aus, dass die Online-Apotheke nicht kommt", so Sanacorp-Pressesprecher Christoph Kayenburg lapidar. Und er fügt hinzu: "E-Commerce ist auf einem Hype entstanden, und Sie sehen ja selbst: Viele Unternehmen sind inzwischen wieder vom Markt verschwunden." Das sind die offiziellen Statements. Die Gespräche hinter verschlossenen Türen jedoch bekommt niemand mit.

Solche Kampfpreise spalten den hiesigen Markt. Die Liberalisierung des Arzneimittelhandels ist politisch höchst brisant. Von "SPD-Wahlkampfgetrommel" spricht etwa Lars Polap, bei Gehe verantwortlich für den Bereich Corporate New Media. Man habe die Zahlen von Doc Morris und dessen Geschäftsmodell sehr genau geprüft. "Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht rechnen kann", so Polap, der bei Gehe den OnlineShop Pharmacy-Point leitet. Schließlich müsse die Lieferung aus den Gewinnmargen heraus finanziert werden.

Vertrieb: Lücke zwischen Apotheke und Endkunde

Es sei unwahrscheinlich, dass das funktioniere. Allerdings ist Polap bei seinen Berechnungen noch davon ausgegangen, dass die Holländer sich gewissermaßen die Rosinen aus der Produktpalette herauspicken würden. Genau das ist auch das erste Argument des Bundesverbandes Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Es baut auf die Annahme, dass Doc Morris das Sortiment lediglich auf teure Medikamente stützen würde, gerade jene also, die die höchste Gewinnmarge erzielen. Inzwischen allerdings ist das Angebot auf rund 90000 Medikamente angewachsen und der Vorwurf damit entkräftet.

Dennoch kursieren derzeit eine Menge Gerüchte in der Branche: Doc Morris habe nur 1500 Medikamente im Sortiment; das Online-Geschäft betreffe ohnehin nur ein Prozent des Umsatzes; das Unternehmen schreibe rote Zahlen, und das würde sich auch nie ändern. Richtig ist, dass Doc Morris nur Umsatzzahlen veröffentlicht, aber keine Bilanz, geschweige denn eine Aussage über Gewinnmargen macht - ein guter Nährboden für Gerüchte.

Sal.-Oppenheim-Analyst Leue ist sich sicher, dass der Markt den Versandhandel braucht: "Im Vertriebszweig zwischen Apotheke und Endkunde klafft eine Lücke. Nur zwischen Pharma-Hersteller, Großhändler und Apotheker läuft über das so genannte Electronic Data Interface alles perfekt; hier beeindruckt das Internet wenig." Online-Händler könnten in wenigen Jahren etwa sechs bis acht Prozent des Marktumsatzes einstreichen, schätzt Leue. In den USA ist es bereits heute so viel. Dort haben die traditionellen "Brick-and-Mortar-Pharmacies" längst Koalitionen mit den Internet-Apotheken geschmiedet. Der Grund: Die Online-Apotheken konnten alleine nicht bestehen. Klassische Apotheken erkannten den Wert des neuen Geschäfts. Heute bestellen US-Kunden jedes zehnte Medikament über das World Wide Web.

"Die Rentabilität der Großhändler wird in der Zukunft immer mehr davon abhängen, ob und wie sie auf die Herausforderungen des elektronischen Handels reagieren", schreibt Leue in der Sal.-Oppenheim-Studie "Pharmagroßhandel: Kaum Risiken und Nebenwirkungen" (2001). Auch Annette Schwertmann, Senior Consultant beim Diebold, sieht hier ein Defizit: "Die Geschäftsprozesse der Großhändler sind vielfach noch nicht einzelkundenfähig. Sie unternehmen hier viel zu wenig, um das zu ändern." Zwar hätten einige Großhändler gute Internet-Auftritte, doch gingen sie alle noch den Umweg über die Apotheke, so die Erkenntnis von Schwertmann. Das jedoch verwundert die Spezialistin für Handel und Pharma-Großhandel wenig: "Die Pharma-Branche ist außerordentlich konservativ. Da tut sich so schnell nichts."

Über seine E-Commerce-Plattform Apo-Net verkauft mittlerweile auch der Apothekerverband Medikamente. Der Vertrieb läuft über "Pick-Points" - Tankstellen, an denen Kunden ihre im Internet bestellten Artikel abholen können. Die Medikamente sind allerdings weder verschreibungspflichtig noch billiger als in der Apotheke.

Initiative Pro Apotheke, Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA)
E-Business-Portal des ABDA

Online-Apotheke Doc Morris
Wissenschaftliches Institut der Krankenkasse AOK