Psychologie

Der trügerische erste Eindruck

02.08.2013 von Andreas Zeuch
Bei Ersteindrücken kann es sich um zielführende Intuition handeln - muss es sich aber nicht. Andreas Zeuch über Sigmund Freud und die Übertragungsfalle.
Andreas Zeuch ist freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker.
Foto: Dr. Andreas Zeuch

Sie kennen ihn, zumindest auf seine alten Tage. Den weltberühmten Herrn mit seinem weißen Vollbart, den genauso weißen Haaren, der runden Hornbrille, auf den meisten Fotos mit einem dunklen Anzug mit Weste und Schlips - und häufig eine Zigarre in der Hand. Wenn er mit seinen Patienten am Arbeiten war, saß er normalerweise links hinter ihnen, während Sie auf einer Couch lagen und frei assoziierten.

Die Rede ist von Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse. Bei allem was man an ihm und seiner Lehre kritisieren kann, so verdanken wir ihm doch Einiges. Unter anderem die bittere Erkenntnis, dass wir nicht "Herr in unserem Haus" sind, weil es unbewusste Prozesse gibt, über die wir keine Kontrolle haben. Wir wissen heute mehr denn je, dass er mit diesem mittlerweile geflügelten Wort einen Volltreffer gelandet hat.

Freud entwickelte eine Menge Begriffe, mit denen er verschiedene Phänomene beschreiben wollte, die in der menschlichen Entwicklung und in seiner Psychoanalyse eine wichtige Rolle spielen. Einer dieser Begriffe ist die Übertragung.

Freud meinte damit, dass Menschen häufig Erwartungen, Ängste oder Wünsche gegenüber Personen aus der Vergangenheit in aktuellen Beziehungen mit anderen Personen reaktivieren. Im Zusammenhang mit trügerischer Intuition meine ich eine wesentlich einfachere Variante der Übertragung.

Die Nase des Lateinlehrers

Sie sehen in einer Verhandlung, einem Meeting oder während einer festlichen Veranstaltung einen Menschen zum ersten Mal und haben umgehend ein besonders gutes oder schlechtes Gefühl. Kennen Sie das? Dann muss es sich noch lange nicht um eine zieldienliche Intuition handeln, die Ihnen für die Verhandlung oder wofür auch immer wertvolle Hinweise liefert. Es könnte vielmehr eine Übertragung sein:

Die Nase des besagten Menschen erinnert Sie an die Nase Ihres ehemaligen Lateinlehrers, der Sie früher im Unterricht gerne vorgeführt hat und so droht schnell eine nicht gerade positive Schublade, in der der Mann eingeordnet wird. Solche Übertragungen finden immer wieder statt, ohne Ihnen in dem Moment bewusst zu sein.

Obwohl Menschen unersetzliche Unikate sind, gibt es nicht all zu selten Ähnlichkeiten, die ihren Niederschlag in diversen Typologien gefunden haben. Es mag das Gesicht sein, das ähnlich ist, die Augen, wie jemand spricht, gestikuliert, geht, sitzt oder die Hände faltet...; die Übertragungsmöglichkeiten sind nahezu endlos. Solange es uns bewusst ist, dass wir gerade eine solche Übertragung erleben, ist dieser Mechanismus kein Problem.

Es bedarf dafür nicht des konkreten Bewusstseins, dass Sie ein neuer Kollege an Ihren Bruder erinnert, der Ihnen sehr am Herzen liegt. Es reicht, wenn Sie merken, dass Sie sich gerade an jemanden erinnert fühlen, wenn auch nur sehr vage.

Sobald die Übertragung jedoch unbewusst abläuft und bei Ihnen nur noch als schiere Antipathie oder Sympathie ins Bewusstsein tritt, wird es problematisch. Denn dann hat dieses intuitive, nicht weiter begründbare Gefühl nichts mit der Person zu tun, auf die Sie sie beziehen, sondern wurzelt in Ihrer Beziehung zu einem anderen Menschen, der irgendwelche beliebigen Ähnlichkeiten aufweist.

Die Übertragungsfalle umgehen

Erstens können Sie Ihre grundsätzliche Anfälligkeit oder Sensibilität (je nachdem, wie man es betrachtet) für Übertragungen überprüfen. Achten Sie in den nächsten Wochen ab und an auf Folgendes: Wie oft sehen Sie einen Menschen, der Sie irgendwie an jemand anderes erinnert, auch wenn Sie in diesem Moment nicht sagen können, an wen? Sie können die Wartezeit am Flughafen oder im Bahnhof dazu nutzen; oder einfach Menschen auf solche Ähnlichkeiten hin prüfen, die Ihnen bei der Arbeit täglich begegnen.

Zweitens ist es nützlich, sich Klarheit darüber zu verschaffen, welche Menschen in Ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Egal auf welche Weise. Wenn Sie sich diese Menschen einmal gründlich bewusst machen, mit all Ihren Eigenschaften, können Sie künftig schneller erkennen, ob Sie ein neuer Mensch in einer neuen Situation auf irgendeine Art und Weise an einen dieser Menschen aus Ihrer Vergangenheit oder auch ihrem jetzigen Leben erinnert. Dann können Sie den Übertragungseffekt deutlich reduzieren.

Drittens sollten Sie fortan einen Sicherheitsfilter in Ihrer Beurteilung fremder Personen installieren, die Sie zum ersten Mal sehen. Es gibt zahlreiche Situationen, in denen Ihnen das passieren kann: Sie sind auf der Suche nach Investoren oder neuen Mitarbeitern; Sie treffen einen neuen Geschäftspartner... nehmen Sie diese Menschen so achtsam wie möglich war. Ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihren Blickkontakt und die Blickqualität, ihre Stimme und die Art zu reden, ihre Mimik, Gestik, Körpersprache und der Händedruck; achten sie auf den Charakter der Personen, ihren Kleidungsstil. Versuchen Sie wann immer möglich, in einen neutralen Modus zu gehen, wenn Sie wissen, dass Sie einen neuen Menschen treffen werden.

Wir beurteilen nämlich extrem schnell, in Bruchteilen von Sekunden. Sie können lernen, diese reflexhafte Beurteilung mit der Zeit zu unterbinden. Verschaffen Sie sich ein paar Momente, um einen innerlichen Check zu machen: Gibt es irgendeinen anderen Menschen, an den Sie diese Person erinnert? Laufen Sie Gefahr, diesem Menschen eine Übertragung überzustülpen?

Viertens können Sie die Wahrnehmung anderer Menschen natürlich auch üben. Genauer: Wie schnell und präzise nehmen Sie andere Menschen wahr? Daraus können Sie in Ihrer Freizeit ein kleines Spiel machen, alleine oder mit Ihren Kindern: Wenn Sie mal wieder irgendwo sitzen, beobachten Sie einen der Menschen in Ihrer Umgebung für etwa 10 Sekunden. Schauen Sie dann weg, schließen Sie die Augen und erinnern sich an die beobachtete Person und lassen Sie sie so exakt wie möglich vor Ihrem geistigen Auge erscheinen. Wenn Sie etwas zu schreiben haben, können Sie schnell aufschreiben, was Sie beobachtet haben. Gleichen Sie dann Ihre Beobachtung ab, indem Sie sich den Mann, die Frau oder das Kind wieder anschauen. Wenn Sie diese kleine Übung mit Ihren Kindern machen, ist es natürlich sinnvoll, die Erinnerungen erst aufzuschreiben und dann abzugleichen. Wer lag mit seiner Erinnerung am nächsten dran?

Es gibt ganz einfache, in jeder Hinsicht äußerst ressourcenschonende Übungen. Sie brauchen so gut wie keine zusätzliche Zeit und Geld schon gar nicht. Einfach nur Aufmerksamkeit. Für ein paar Momente. Immer wieder mal angewendet führt das dazu, dass Sie künftig weniger oft in die Übertragungsfalle tappen. In manch einer Situation kann das von großem Vorteil sein.

Teile dieses Beitrags sind dem Buch Feel it! So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen entnommen, erschienen im Wiley Verlag.

Andreas Zeuch promovierte in Erwachsenenbildung über das Training professioneller Intuition. Er arbeitet seit dem Jahr 2003 als freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker mit dem Schwerpunkt unternehmerischer Entscheidungen und Managementinnovation.