Lebensart

Die Gartenlust kehrt zurück

16.07.2013 von Christopher Schwarz
Eine lauschige Sitzecke, ein zierliches Rankgerüst: Kleine Gärten sind ideale Rückzugsorte in der Stadt. Sie brauchen Abwechslung und Vielfalt, aber kein Durcheinander. Und manchmal wirken sie größer, als sie sind.

Als ihr Mann Clemens vor einem Jahr starb, hat Jutta Eckes nicht lang nach einem Platz für ihr Lieblingsfoto suchen müssen. Sie stellte sein Fotoporträt auf den Schemel am Fenster, wo ihr Mann jetzt lächelnd in seinen Garten schaut, seinen "Pocketpark", wie er ihn genannt hat, weil der kleine Garten hinterm Haus "en miniature" alles enthält, was auch ein Park so zu bieten hat: eine Zitterpappel, eine Wiese, ein Rhododendron- und Rosenbeet, einen Teich und eine Skulptur in Gestalt einer bemoosten Gartengöttin mit Füllhorn, die sich in der Nische unter einer Hecke duckt.

Ohne Hecken oder Mauern geht es nicht. Erst recht nicht im kleinen Garten, den man sich nach der eleganten, wenn auch etwas unscharfen Definition des britischen Gartenkenners Andrew Wilson als "nicht großen" Garten vorzustellen hat. Also als einen etwa 20 bis 120 Quadratmeter großen Flecken kultivierter Erde, der eingefasst und eingerahmt sein will. Das kann ein leicht gestufter "modernistischer Dschungel" sein mit Baumfarn, Buchs und einem von Japangras überwachsenen Pfad, aber auch ein wuchernder Cottage-Garten, der fröhlich über den Gartenzaun lugt, oder, wie in Clemens’ Garten, ein "Hortus conclusus", ein verschlossener Garten, der durch Eiben- und Ligusterhecken vor neugierigen Blicken schützt.

Der Garten als Zuflucht

Erst die klar markierte Grenze macht den Garten, schafft das beseelte Gehäuse, die bergende Höhle, in der man, wie es der Frankfurter Philosoph Jürgen Werner formuliert hat, "der Welt ohne Angst den Rücken kehren kann".

Natürlich ist dieses Verlangen nach Separation, nach ungestörtem Bei-sich-Sein in der Intimität des Gartens, ein uralter Wunsch. Unsere Gärten, die erst mit den Städten nach Europa gekommen sind, waren immer private Zufluchtsorte inmitten urbaner Zivilisation. Noch die großen Wiener und Berliner Wohnblöcke des späten 19. Jahrhunderts boten in ihren geräumigen Innenhöfen neben Grünflächen für alle Mieter auch Parzellen für kleine private Gärten. Erst der moderne Städtebau hat vergessen, dass zu den Errungenschaften der Stadt neben den öffentlichen Plätzen und Straßen auch die Welt der privaten Höfe und Gärten gehört und mit ihnen das Bedürfnis nach Orten der Überschaubarkeit, des kleinen, behaglichen Glücks.

Was Wunder, dass mit den Innenhöfen längst auch die Gartenlust in unsere Städte zurückgekehrt ist. Zum Beispiel im rheinischen Neuss. Dass der hufeisenförmige, geklinkerte Wohnkomplex in der Salzstraße zu den begehrten Adressen in der Innenstadt gehört, liegt nicht nur an der günstigen Lage, sondern vor allem an der grünen Oase hinterm Haus.

Buddha-Figur und Obstspalier

Der zentrale Gemeinschaftsgarten ist von lauter kleinen Gärten umschlossen, die von den Mietern im Parterre mit Fleiß und Stilgefühl gepflegt werden: An das thailändisch inspirierte Gärtchen mit fächelnden Gräsern und Buddha-Figur fügt sich der Naschgarten mit Tomaten, Kletterbohnen und Mini-Obstspalier. Neben dem Rasenspielplätzchen mit Klettergestell, Sandkasten und Schaukel kuschelt sich im schattigen Winkel der Feng-Shui-Garten mit Blauregen, Hortensien, grüngelbbläulichen Funkien und weißen Rosen. Nur die Buchenhecke, die das Neusser Gartenreich in seine Gartenparzellen teilt, will nicht so, wie die Neusser Gärtner wollen. Weil sie es versäumt haben, die Zweige am Boden rechtzeitig zurückzuschneiden, gucken die Kinder durch die Hecke - und die Nachbarn, die sonst um jeden Zentimeter Abstand ringen, rücken einander unfreiwillig näher. Gerade aber die Abgrenzung ist es, die bei aller Nähe die Privatsphäre schafft und Erholung bereitet. "Sichtschutz", auf dem Land gewährleistet durch große Entfernungen zwischen den Nachbarn, entsteht auf engem Raum durch Grenzen.

Das kleine Gartentheater

Johannes Roth, der Altmeister unter den Gartenschriftstellern, hätte ohnehin von einer Buchenhecke abgeraten, deren abgestorbenes Laub im Winter trocken an den Zweigen raschelt. "Hecken zum Verstecken?" Das funktioniere am besten mit Pflanzen, die immergrün sind, nicht nur mit der Eibe, auch mit dem "schnellen Liguster", der "schon in drei Jahren mannshoch wird", oder dem Lebensbaum Thuja occidentalis, der "etwas langsamer, aber zuverlässiger nach fünf, sechs Sommern" eine "dichte, dunkle, düstere Zweimetermauer bildet".

Hecken, so Roth, sollen nicht nur vor Blicken, Wind und Lärm schützen, sondern "Räume schaffen", "grüne Paravents bilden für farbige Staudenfröhlichkeit", "Kulisse sein fürs kleine Gartentheater", das ruhig mehr als eine Szene haben dürfe, zum Beispiel ein vorderes und ein hinteres "Gartenzimmer", das verdeckt ist durch einen Strauch oder eine Pergola und sich erst im Gehen erschließt: "Ein paar Schritte, und plötzlich ist da noch eine lauschige Sitzecke." Den Rasen, der alle paar Tage gemäht werden muss, könne man getrost weglassen und stattdessen mit bodendeckenden Pflanzen arbeiten, zum Beispiel mit Dickmännchen oder wildem Thymian, der sich zu "wunderbaren Polstern auswachsen kann", und kleinen Holzwegen oder Trittplatten dazwischen.

Der Garten braucht Form und Struktur

Ja, auch der kleine Garten brauche Abwechslung, Vielfalt, aber bitte kein Durcheinander, das Unruhe statt Spannung erzeugt. "Je kleiner der Garten", sagt Johannes Roth, "desto akkurater muss er sein." Vor allem: Er braucht Form und Struktur, also Konsequenz in der Auswahl der Pflanzen - weshalb Roth dem Gärtner im kleinen Garten dazu rät, nicht alles gleichzeitig auszuprobieren, sondern sich auf Pflanzenfamilien oder bestimmte Blumen zu konzentrieren, die, wie etwa die Frühjahrsanemonen, erst im Pulk ihre Wirkung entfalten. Ansonsten gelte die Devise der englischen Schriftstellerin und Gartengestalterin Vita Sackville-West: Auch im kleinen Garten großzügig sein, also nicht fünf, sondern fünfzig Maiglöckchen unter den Rotdorn streuen.

Der kleine Garten muss nicht zur Bonsai-Veranstaltung verkümmern. Andrew Wilson zeigt in seinem "Handbuch Kleine Gärten" (Callwey Verlag), wie man sie größer, weitläufiger erscheinen lässt. Durch Achsen, die in einem Laubengang oder zwischen zwei Heckenbändern auf einen Blickpunkt zulaufen, zum Beispiel eine Bank oder einen Brunnen, durch Wege, die gegen Ende schmaler werden und so das Gefühl von Weite erzeugen, durch Ausblicke in Nachbars Garten, den sogenannten "geborgten Blick", der die Umgebung in den Garten hineinholt, oder durch den gezielten Einsatz der Perspektive: Niedrige Pflanzen mit kleinen Blättern gehören nach hinten, höhere Pflanzen mit großen Blättern bespielen die Vorderbühne.

Die Landschaftsarchitektin Andrea Christmann dokumentiert in ihrem Buch "Kleine Gärten gestalten", wie sich der Garten "optisch erweitern lässt" durch kluge räumliche Untergliederung, durch einen "geschickt platzierten Blütenstrauch" oder ein Rankgerüst, durch Hecken unterschiedlicher Höhe oder Treppen und Stufen, die den Wechsel der Ebenen betonen; schon eine berankte Natursteinmauer löse die harten Konturen auf - "und die Grenze des Grundstücks wird überspielt".

Die Farbe macht die Wirkung

Die Gründerin der Königlichen Gartenakademie in Berlin Dahlem Gabriella Pape beschreibt in ihrem Buch "Meine Philosophie lebendiger Gärten", wie "in den buntesten Wochen", im Mai und Anfang Juni, die Farben den Garten zum Schwingen bringen, wenn man sie nur richtig anordnet: Monochrom funktioniere bei schlechter Witterung oder in kleineren Gärten so gut wie gar nicht; Rot und Blau sollten "immer im Vordergrund" stehen, an der Terrasse in der Nähe des Hauses: "Wer sein rot-blaues Beet hinten im Garten anlegt, verschenkt die ganze Pracht."

Die Landschaftsarchitektin Christine Orel rät dazu, weiße oder gelbe Pflanzen in den verschatteten Hintergrund zu setzen, um dort Licht hineinzutragen, dann "erscheint alles viel weiter". Auch im kleinen Garten gehe es darum, Horizonte zu schaffen: durch kniehohe Pflanzen, die vom Auge als Grenze kaum wahrgenommen werden, durch Sträucher auf Brusthöhe, die das Körpergefühl ansprechen, durch den "dritten Horizont", den Blick in die umgebende Landschaft, die mit dem Garten im besten Fall eine "Blick-Einheit" bildet.

Der Garten darf nicht überdekoriert sein

Das Büro "Landschaftsarchitekten Orel + Heidrich" aus Herzogenaurach sucht für den "Geist des Ortes" eine eigene, charakteristische Sprache. "Je kleiner der Garten", so Christine Orel, "desto genauer muss er auf das Haus abgestimmt sein, dessen verlängerter Wohnbereich er ist." Der Blick vom Schlafzimmer im ersten Stock ist da so wichtig wie der Blick von der Terrasse - und kann, so Orel, zu gegensätzlichen Lösungen führen: zu einem "eleganten, schwebenden Garten mit hohen, zartblauvioletten Blütenstängeln" oder zu einer rustikalen Gartenvariante mit "runden, knubbeligen Pflanzen in Orange, Gelb und Rot".

Dem "Gemütlichkeits-Fan" mit Keramikpüppchen in der Glasvitrine könne man nicht mit Muschelkalkplatten kommen, den Bauhaus-Freund mit Vitra-Stühlen auf der Veranda dagegen mache sogar Stahl glücklich. Die größten Fehler im kleinen Garten: ihn überzudekorieren mit Glasfackeln, Spiegeln und rostigen Tischchen oder alles an den Rand zu drängen - "damit macht man ihn noch kleiner".

Natürlich kann man sich beim Gärtnern statt auf Expertisen auch auf seine Intuition verlassen, auf Versuch und Irrtum. Anja Maubach, die in vierter Generation eine der ältesten Staudengärtnereien Deutschlands auf der Blumigen Höh’ in Wuppertal leitet, hält nicht viel von Ratschlägen. Sie versteht sich als Begleiterin ihrer Kunden, als Geburtshelferin von Ideen, die im Gespräch und auf dem Skizzenblock entwickelt werden. Sie lädt die Gärtner dazu ein, die Tipps der Gartenmagazine zu vergessen und sich von ihrem Gefühl, ihrer inneren Stimme treiben zu lassen: "Es einfach machen!"

(Quelle: Wirtschaftswoche)