Management

Die Wahrnehmung der Wahrnehmung

19.07.2013 von Andreas Zeuch
Multitasking schränkt, allseits bekannt, die Wahrnehmung ein. Aber kann man ungeteilte Wahrnehmung eigentlich bewusst wahrnehmen? Andreas Zeuch über Achtsamkeit.
Andreas Zeuch ist freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker.
Foto: Dr. Andreas Zeuch

Es braucht Achtsamkeit, um Intuition zu professionalisieren. Denn unsere Wahrnehmung spielt dabei eine wichtige Rolle spielt. Und Achtsamkeit ist eine besondere Form der Wahrnehmung und als solche das Fundament einer effektiven Entscheidungskultur.

Ohne eine gut entwickelte Achtsamkeit werden Sie weder Intuition effektiv nutzen, noch eine erfolgreiche Entscheidungskultur aufbauen.

Achtsamkeit ist die ungeteilte Wahrnehmung im Hier und Jetzt sowie die Wahrnehmung der Wahrnehmung.

Bei der ungeteilten Wahrnehmung geht es darum, zu lernen, möglichst präsent zu sein und nicht zwei oder mehr Dinge gleichzeitig zu tun. Es geht darum, die Multitasking-Falle zu vermeiden. Denn unsere Wahrnehmung ist bereits eingeschränkt und wesentlich unpräziser, wenn wir gleichzeitig nachdenken, während wir etwas sehen.

Das beobachtete Objekt kann regelrecht vor unseren Augen verschwinden. Wir nehmen es nicht mehr wahr, obwohl es noch da ist. Wir sind mit unserer Wahrnehmung eigentlich in der Innenwelt. Häufig belassen wir es nicht bei zwei Dingen gleichzeitig. Gerne krönen wir unsere scheinbare Fähigkeit der gleichzeitigen Aufgabenbewältigung: Wir telefonieren, arbeiten in einer Excel-Tabelle und schreiben noch eine SMS zwischen jedem Schluck Kaffee.

Testen Sie es selbst mit folgendem Experiment: Bitten Sie einen Freund, eine Freundin oder sonst jemanden, Ihnen einen längeren Artikel aus einer Zeitung oder einer Zeitschrift vorzulesen (besonders geeignet: Das Dossier der Zeit). Sie bemühen sich aufrichtig zuzuhören, subtrahieren aber gleichzeitig von 10.000 ausgehend immer wieder die Zahl 21 (10000 - 9979 - 9958 und so weiter). Natürlich verraten Sie das Ihrem Gegenüber nicht, sondern versuchen vielmehr, möglichst aufmerksam zu wirken. Danach erzählen Sie ihrem Versuchspartner, was sie gehört und verstanden haben. Im dritten Schritt lesen Sie dann selbst den Artikel. Sollte Ihnen Subtrahieren in die Wiege gelegt worden sein, dann lenken Sie sich anders ab. Erzählen Sie sich beispielsweise einen Witz nach dem anderen, oder rezitieren Sie ein Gedicht.

Somatische Marker

Was ich Ihnen mit diesem kleinen Experiment verdeutlichen will, passiert uns allen täglich. Während wir jemandem zuhören, beginnen wir bereits mit der Entwicklung unserer Gegenargumente. Je nachdem, wie erbittert die argumentative Auseinandersetzung ist oder wie leidenschaftlich wir unsere Sicht vertreten, werden wir besonders gründlich voraus denken, so wie ein Schachanfänger alle möglichen Konstellation Zug für Zug durchrechnet. Während wir das tun, hören wir gar nicht mehr, was der andere sagt und was er damit meinen könnte. Wir beschäftigen uns mit dem, was wir glauben, was der andere sagt und meint.

Achten Sie in den nächsten Wochen in der Arbeit darauf. Versuchen Sie, wirklich zuzuhören und dabei auf all die Nuancen zu achten, die Teil der Kommunikation sind. Die Mimik, der Blickkontakt, die Blickqualität, die Gestik, die Körpersprache, die Wortwahl, der Satzbau, das Sprechtempo, der Tonfall... Sie merken, das ist eine ganze Menge an Daten, die da auf uns einströmen, selbst im einfachen Fall einer Kommunikation zwischen zwei Personen. Wenn sie in einem wichtigen Gespräch mit Ihren Vorstandskollegen sind, dann brauchen Sie sowieso schon zwei Wahrnehmungsfoki. Erstens Ihr Gesprächspartner mit allen Daten, die er sendet. Zweitens, ihre Innenwelt. Ihre Aufgabe besteht darin, möglichst gut zuzuhören und gleichzeitig darauf zu achten, welche intuitiven Impulse oder Signale sie beim Zuhören erhalten:

Das ist genug Multitasking. Dabei können all diese Signale ein Hinweis auf eine wertvolle Intuition sein. Körpergefühle sind häufig exakte Start- oder Stoppsignale. Einer der Berater, den ich vor über 10 Jahren für meine Doktorarbeit zum Training professioneller Intuition interviewte, konnte deutlich solche Signale unterscheiden. Wenn er im Erstgespräch mit potentiellen Kunden eine angenehme Aufregung verspürte (erhöhter Herzschlag, erhöhter Blutdruck), war das meist ein treffendes Startsignal. Er wusste, dass er den Auftrag erfolgreich abwickeln kann.

Wenn er jedoch eine Rückenverspannung bekam, war das meist ein Stoppsignal. So kann er den Auftrag nicht annehmen. Damit illustrierte dieser Berater nahezu perfekt, was der Neurologe Antonio Damasio mit seinem Konzept der somatischen Marker meinte. Jegliche körperliche Signale, die wir wahrnehmen, können Markierungen sein, die eine Entscheidungshilfe sind. Das "Bauchgefühl" kommt also nicht von ungefähr. Es kann ein somatischer Marker sein, der uns grünes Licht gibt. Allerdings sind diese somatischen Marker höchst individuell. Achten Sie ab jetzt auf Muster bei Ihren Körperempfindungen. Meldet sich Ihr Körper in bestimmten Situationen auf bestimmte Art und Weise? Welche Körperempfindungen könnten ein bedeutsames Signal sein?

Weniger ist mehr

Gefühle und Stimmungen sind genauso wie Körperempfindungen häufig das Bindeglied zwischen unserer unbewussten Informationsverarbeitung, die über diesen Weg in unser Bewusstsein dringt und damit zur Intuition wird. Gefühle sind konkret, während Stimmungen vage oder vielschichtig bleiben. Ein Gefühl können sie klar mitteilen, Sie können es benennen als Freude, Wut, Angst oder Trauer. Stimmungen können sonderbare Mischungen aus den grundlegenderen Gefühlen sein. Sie sind häufig nicht klar zu fassen. Aber gerade dieses Vage kann ein wertvoller Hinweis sein.

Innere Bilder oder Stimmen sind nichts, weshalb Sie zum Arzt müssen (wie ein ehrwürdiger ehemaliger Bundeskanzler mal sinnverwandt behauptete). Es gilt das Gegenteil: Sie müssten sich Sorgen machen, wenn Sie keine inneren Bilder oder Stimmen wahrnehmen. Diese aus unserem Unbewussten auftauchenden Bilder oder Stimmen sind normal und Teil unseres täglichen Lebens. Und oft bringen Sie uns eine Intuition mit aus den Tiefen unseres Selbst, hinein in unser viel begrenzteres Ich.

Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist August Kekulé. Der deutsche Chemiker war auf der Suche nach der Strukturformel des Benzol. Irgendwann saß er vor seinen Kamin, so die Geschichte, döste ein und sah vor seinem inneren Auge einen Ourobourus, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt und ein Rad bildet. Kekulé wachte auf und bezog dieses Bild auf seine Lösungssuche: Benzol hat eine Ringstruktur. Kekulé wurde zwar schon zuvor vom österreichischen Johann Loschmidt auf die mögliche Ringstruktur aufmerksam gemacht, brauchte aber offensichtlich noch den intuitiv bildlichen Anstoß aus seinem Unbewussten, um diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Im nächsten Schritt prüfte Kekulé diese intuitive Erinnerung und siehe da - sie war richtig.

Die Wahrnehmung achtsam auf das Hier und Jetzt lenken indem Sie möglichst präsent sind, ist die Voraussetzung, um die Sie umgebende Außenwelt und gleichzeitig Ihre Innenwelt präzise wahrzunehmen. Mehr Wahrnehmung dürfte jeden normalen Menschen überfordern. Weniger ist mehr. Je weniger Sie sich selbst durch sinnfreie Tätigkeiten von diesen beiden Wahrnehmungsfoki ablenken, desto mehr werden Sie wahrnehmen. Und umso effektiver wird Ihre Intuition.

Wissen erzeugt stets Nichtwissen

Achtsamkeit bedeutet aber nicht nur die ungeteilte Wahrnehmung im Hier und Jetzt. Achtsamkeit meint auch einen selbstbezüglichen Prozess, der für die meisten von uns äußerst ungewohnt ist: Die Wahrnehmung der Wahrnehmung. Präziser gesagt: Die Wahrnehmung, wie wir gerade wahrnehmen, welche Filter wir gerade vor unsere Wahrnehmung geschoben haben und welche Zensoren uns beeinflussen. Wir sollten uns dessen bewusst sein, worauf wir gerade achten und das wir deshalb möglicherweise etwas Wichtiges übersehen.

Dieser grundlegende Mechanismus in unserer Wahrnehmung ist auch ein Grund, warum Wissen immer Nichtwissen erzeugt. Wir produzieren durch unseren Wahrnehmungsfokus Daten in unserem Unterbewussten und Bewusstsein, verarbeiten sie zu Informationen und machen schließlich Wissen daraus. Aber wir blenden zwangsläufig andere Daten dafür aus und erzeugen so Nichtwissen. Es ist wie mit einem Spot in einem abgedunkelten Theater. Wir können immer nur das sehen, was gerade im Lichtkegel ist. Der Rest verschwindet in der Dunkelheit. Und so geht es uns schnell wie dem Besoffenen, der unter der Laterne nach seinem Schlüssel sucht, weil nur dort Licht ist, obwohl er ihn anderswo verloren hat. Wer achtsam ist, sucht nicht nur dort, wo zufällig Licht ist.

Teile dieses Beitrags sind dem Buch Feel it! So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen entnommen, erschienen im Wiley Verlag.

Andreas Zeuch promovierte in Erwachsenenbildung über das Training professioneller Intuition. Er arbeitet seit dem Jahr 2003 als freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker mit dem Schwerpunkt unternehmerischer Entscheidungen und Managementinnovation. (CFOworld)