Transformation im Procurement

Die Zukunft des Einkaufs

30.09.2016 von Christoph Lixenfeld
Wird der Chefeinkäufer bald durch Algorithmen ersetzt? Warum und wie sich Firmen mit solchen Fragen beschäftigen sollten, beschreibt eine spannende KPMG-Untersuchung. Über die Transformation im Procurement.
  • Auch der Einkauf von Unternehmen wird in den kommenden Jahren konsequent digitalisiert werden.
  • Einkäufer sollten sich intensiv mit unterschiedlichen Zukunftsszenarien beschäftigen.
  • Natürlich lassen sich dadurch Entwicklungen nicht vorhersehen, aber immerhin die Risiken minimieren.

Wenn alles glatt läuft, interessiert sich niemand für Einkaufsabteilungen - abgesehen natürlich von Einkäufern und ihren Vorgesetzten. Auch in Deutschland war das Thema 20 Jahre lang quasi aus der Öffentlichkeit verschwunden. Bis Mitte August ein Zulieferer VW zwang, die Golf-Produktion für mehrere Tage zu stoppen, indem es die Versorgung mit Getriebeteilen und Sitzbezügen einstellte.

Volkswagen: Die Golf-Produktion musste durch den Konflikt mit der Zulieferfirma zeitweise gestoppt werden.
Foto: Volkswagen AG

Die genauen Hintergründe des Streits, der am 23.8. durch 19(!)-stündige Verhandlungen beendet wurde, sind unklar. In jedem Fall offenbarte die Affäre aber enorme Abhängigkeit großer Autokonzerne von ihren Zulieferern.

Um Kosten zu sparen, haben VW und seine Konkurrenten in den zurückliegenden Jahren die Fertigungstiefe immer weiter verringert, will sagen sie produzieren immer weniger der benötigten Einzelteile selbst, lassen sie stattdessen On Demand von Dritten ans Band liefern. Der Anteil der Zulieferer an der Wertschöpfung eines Autos liegt heute bei etwa drei Vierteln.

Der Einkauf ist also für die Unternehmen von zentraler Bedeutung - auch wenn er für die Öffentlichkeit wenig Sexappeal hat. Grund genug für KPMG, sich gemeinsam mit der Florida State University intensiv mit dem Thema zu beschäftigen.

Die Studie mit dem Titel "Future-Proof Procurement", also "Zukunftssichere Beschaffung", verdeutlicht ihr zentrales Anliegen im Untertitel: "Die große Beschaffungs-Transformation".

Algorithmen statt Beschaffer

Kernthese ist - wie der Fall VW deutlich gezeigt hat - dass Einkäufer in Zukunft noch mehr als bisher mit Unsicherheiten und schwer kalkulierbaren Verwerfungen zurechtkommen müssen. Wenn es sie noch gibt. Denn auch mit der Frage, ob nicht Beschaffer zunehmend durch Algorithmen ersetzt werden (sollten), beschäftigt sich die Studie.

Der Spaß am Shopping könnte Procurement-Experten in Zukunft teilweise vergehen.
Foto: gpointstudio - shutterstock.com

Bemerkenswert ist die Untersuchung aus drei Gründen. Erstens basiert sie auf der These, dass Unternehmen zwar die Zukunft nicht vorhersagen, sie aber dennoch mithilfe der richtigen Methoden jene Risiken, die auf sie warten, kalkulieren und damit minimieren können. Zweitens geben die Autoren klare Handlungsempfehlungen, formulieren quasi eine Anleitung zum Umgang mit der Zukunft.

Benchmarks bilden Zukunft nicht ab

Drittens schließlich ist auch die angewandte Methodik bemerkenswert: Anstatt wie sonst bei vergleichbaren Untersuchungen üblich, haben die Autoren nicht etwa eine mehr oder weniger große Anzahl von Unternehmen dazu befragt, wie sie Procurement betreiben und auf welche Szenarien sie sich einstellen, um dann daraus Benchmarks abzuleiten.

Ähnlich der Logistik beim privaten E-Commerce könnten die Prozesse auch im Unternehmens-Procurement zukünftig weitgehend automatisiert werden.
Foto: DexxIT

Eine solche Methodik, schreibt KPMG, sei "rückwärtsgewandt, vergangenheitsorientiert. Zum Zeitpunkt der Nutzung eines Benchmarks ist er bereits überholt. Was die gebenchmarkten Klassenprimusse morgen tun werden, um ihren Klassenbestenstatus zu halten, auszubauen und um ihren zukünftigen Return on Procurement (RoP) zu steigern, wird nicht erfasst."

Stattdessen hat KPMG eine Reihe ausgewiesener Fachleute in sogenannten "Expertengesprächen" befragt. Darüber hinaus wurden im Rahmen des "Literaturstudiums" über 120 nationale und internationale wissenschaftliche Zukunfts- und Szenariostudien gesichtet, exzerpiert und so für die Studie erschlossen. Methodisch handelt es sich also mehr um eine wissenschaftliche Arbeit und weniger um eine empirische Studie.

Die beschäftigt sich im ersten Schritt mit der Frage, welche zentralen Unsicherheiten auf Einkäufer lauern, zweitens werden diese Unsicherheiten klassifiziert, will sagen in wahrscheinliche, wünschenswerte und mögliche "Zukünfte" eingeteilt.

Drittens haben die Macher nicht nur die strategischen Implikationen der Studie für die Praxis in verschiedenen Workshops ermittelt, sondern auch Szenarien für mögliche Umsetzungen aufgezeigt.

Innovationen kommen eher vom Zulieferer

Wichtigster Punkt der anstehenden Unsicherheiten für den Einkauf ist die bereits erwähnte Frage, ob es "den Einkauf" in der heute bekannten Form in 20 Jahren noch gibt, beziehungsweise ob er noch Menschen braucht, um zu funktionieren. Oder ob seine Aufgaben weitgehend von Algorithmen und vernetzten Maschinen erfüllt werden. Zitat: "Ein Einkauf, der in diesem disruptiven Umfeld bestehen will, muss sich schnell und umfassend neu erfinden können."

Procurementabteilungen, denen das gelingt - auch dieses Szenario beschreibt die Studie - könnten gestärkt statt geschwächt aus den anstehenden Umwälzungen hervorgehen. Möglich wird das, indem die Einkaufsfunktion ganz neu erfunden wird, anstatt sie durch Automatismen zu ersetzen.

Eine solche Neuerfindung könnte zum Beispiel bedeuten, stärker als bisher zwischen "Make" und "Buy" zu unterscheiden und vielleicht einen Teil der benötigten Komponenten (etwa eines Autos) wieder selbst zu entwickeln, damit die Innovationskraft des Unternehmens weniger als bisher vom Zulieferer abhängt. Aktuell steuern bei vielen Autoproduzenten die Lieferanten 70 Prozent - und mehr - aller Innovationen bei.

Der zweite Schritt nach der Betrachtung von Unsicherheiten - mit denen sich Unternehmen beschäftigen sollten, ist deren Analyse und Klassifizierung. Gefährlichste Kategorie sind sogenannte Wildcards. In der Zukunftsforschung bezeichnet man damit unerwartete Ereignisse, die eine geringe Wahrscheinlichkeit haben, deren Eintreten dann allerdings schwerwiegende Folgen hätte.

Wildcards spielen eine wichtige Rolle

Neben dem technologischen Bereich - Cyberangriffe auf die eigenen Systeme etwa - kann auch eine deutliche Veränderung des Marktumfelds eine Wildcard sein. Mögliches Beispiel: der unerwartete und kurzfristige Zusammenschluss mehrerer Anbieter einer für die eigene Produktion dringend benötigten Komponente.

Der Notwendigkeit, sich mit solchen Wildcards zu beschäftigen, messen die Studienautoren große Bedeutung zu. Ihrer Ansicht nach sollte jede Wildcards eine Art Steckbrief erhalten, auf dem die Anpassungsfähigkeit des eigenen Unternehmens an das betreffende Szenario verzeichnet ist, ihre mögliche Dauer, ein Reaktionsplan, verantwortliche Personen und mögliche Vorboten der Wildcard.

Die Bosch Gruppe ist einer von Deutschlands größten Autozulieferern. Viele der pupulärsten Innovationen in unserern Fahrzeugen stammen von Bosch.
Foto: Bosch

Diese intensive Beschäftigung mit den Wildcards leitet auch über zum dritten Schritt, zu der Frage, wie Einkäufer die Beschäftigung mit der eigenen Zukunft in praktische Handlungen überführen können. Zunächst sollten Unternehmen eine Liste mit strategischen Optionen entwerfen, die sich aus der Bewertung von Szenarien, Chancen und Wildcards ergeben. Erarbeiten lassen sich solche Optionen am besten in einem Workshop.

Selbst gestalten oder sich flexibel anpassen

Inhaltlich können sie von der Erschließung neuer Beschaffungsmärkte über Einkaufskooperationen bis hin zur Neuverhandlung bestehender Verträge oder einer eigenen Procurement Academy reichen.

Berücksichtigt werden sollte bei solchen Überlegungen immer auch die (oft implizite) eigene strategische Grundausrichtung: Die Entscheider müssen sich fragen, ob sie die eigene Zukunft wenn möglich aktiv gestalten oder sich ihr eher agil und flexibel anpassen.

Natürlich kann eine derart systematische Beschäftigung mit der Zukunft weder sichere Vorhersagen produzieren noch alle Risiken vermeiden helfen. In jedem Fall wird aber durch den Prozess die gesamte Organisation zukunftsorientierter, flexibler und schockresistenter.