Management

Erfolg kann der Anfang vom Ende sein

22.05.2013 von Andreas Zeuch
Alte Erfolge machen blind für Neues, sofern der Anfängergeist abhanden kommt. Andreas Zeuch über das Schicksal der Thomas W. Lawson, die eine ganze Branche in den Abgrund riss.
Andreas Zeuch ist freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker.
Foto: Dr. Andreas Zeuch

Der 10. Juli 1902 war ein denkwürdiger Tag. Ein Symbol für die Erfolgsfalle. Es war der Tag, an dem die Thomas W. Lawson vor 20.000 Zuschauern vom Stapel lief. Dieses Schiff war gleich ein mehrfacher Superlativ: Das größte je gebaute Segelschiff ohne Hilfsantrieb, der größte jemals gebaute Schoner und einzige Siebenmaster.

Dieses Schiff war ein Meisterwerk des Segelschiffbaus, es verfüge über 11.000 Standardtonnen Ladekapazität und konnte damit eine Geschwindigkeit von bis zu 16 Knoten, also 30 km/h erreichen. Als die Lawson bereits 5 Jahre später auf ihrer ersten Atlantikreise kenterte, sorgte sie für eine weitere Spitzenleistung: Eine der ersten, wenn nicht sogar die erste Ölpest, verursacht durch das geladene Leichtöl. 17 der 19 Besatzungsmitglieder kamen bei dem Unglück ums Leben.

Diese Geschichte illustriert die Logik des Misserfolgs durch zuviel Erfolg. In den letzten rund 100 Jahren wurden Segelschiffe erst von Dampfschiffen und später von ölgetriebenen Schiffen abgelöst. Das Bemerkenswerte ist jedoch, dass die neuen Technologien keineswegs nach dem Bau oder Untergang der Lawson auftauchten. Bereits über 100 Jahre zuvor, im Jahr 1783, wurde das erste Dampfschiff gebaut. Im Jahr 1788 wurde das erste Dampfschiff patentiert.

Neue, unausgegorene Technologien

Warum wurde dann die Lawson überhaupt noch gebaut? Ganz einfach: Die Technologie der Segelschiffe war aufgrund ihrer wesentlich längeren Geschichte deutlich ausgereifter. Damit war der Erfolg des Segelschiffbaus deutlich größer, als der Dampfschiffbau. "Die Kosten pro zurückgelegter Meilen waren höher, die Schiffe waren langsamer und sehr viel anfälliger. Prinzipiell galten Dampfschiffe für Ozeanfahrten als vollkommen ungeeignet und konnten nur in einem gänzlich anderen Markt Fuß fassen:" der Binnenschifffahrt.

Die Produzenten und Abnehmer von Segelschiffen lachten nur müde über die neue, unausgegorene Technologie. Außerdem war die Ozeanschifffahrt der weitaus größere Markt. Diese Kombination sorgte dafür, dass kein einziger Hersteller von Segelschiffen den Technologiesprung zur Dampfschifffahrt vollzog. "Mit der Thomas W. Lawson war nicht nur ein Schiff, sondern eine ganze Branche untergegangen." (Christensen, 2012)

Diese Geschichte ist kein Einzelfall. Weitere Beispiele belegen dieses Problem, wie der Untergang der Eisernter, durch die Eisfabriken, die ihrerseits von den Herstellern von Kühlschränken abgelöst wurden. In allen Fällen ging die jeweils neue Technologie nicht aus den bestehenden Herstellern und Marktführern hervor.

Die Gefahr der Blindheit für Neues

Wie im Großen, so im Kleinen. Sprich: Die Logik des Misserfolgs durch Erfolg zeigt sich nicht nur in ganzen Industrien und Branchen, sondern auch bei jedem Einzelnen von uns. Wir laufen Gefahr, frühere Erfolge zum Maßstab neuen Handelns zu machen und werden so blind für Neues. Unsere Expertise ist damit ein zweischneidiges Schwert. Sie ermöglicht uns einerseits schnelle, intuitive Entscheidungen, die häufig auf elegante Weise neue Erfolge ermöglichen. Andererseits wird der Erfolg von Gestern zu einem nur schwer auflösbaren Gravitationsfeld, das die Zukunft in Ihren Bann zieht.

Die Lösung liegt in dem, was ich in diesem Zusammenhang Anfängergeist nenne. Wir müssen lernen, der Verführung alter Erfolge zu widerstehen, die uns unachtsam und unreflektiert jedes Mal aufs Neue das Bisherige wiederholen lassen.

Das Prinzip ist simpel. Die Umsetzung erfordert jedoch tägliche Achtsamkeit: Da Expertise wertvoll sein kann, gilt es, unseren Erfahrungsschatz bei zukünftigen Entscheidungen miteinzubeziehen. Aber dies darf nicht zu einem blinden Automatismus werden. Statt zum optionslosen Roboter zu werden, müssen wir lernen, die Aufgaben, vor denen wir stehen, die Probleme, die wir lösen wollen, durch die Augen eines Anfängers zu betrachten. Das ist naturgemäß schwierig. Denn wir können zwar die bewussten Expertenanteile zur Seite stellen, aber nicht die ins Unbewusste abgesackte Expertise. Die ermöglicht uns ja gerade die erwähnten schnellen und eleganten intuitiven Entscheidungen.

Die Reflektion des Gestrigen

Aber es gibt eine einfache, praxisnahe Möglichkeit, dieses Dilemma aufzulösen: Wir können uns echte Anfänger ins Boot holen: Praktikanten, Berufsanfänger, Quereinsteiger, Kollegen aus anderen Abteilungen oder - wie bei Open Innovation-Prozessen - Geschäftspartner und Kunden.

Wir können ohne großen Aufwand deren Perspektive abfragen, sie um Ihre Einschätzung, Ihre Meinung oder Ihre Lösungsvorschläge bitten. Das heißt natürlich keineswegs, dass deren Lösungen immer die bestmöglichen sind. Aber sie öffnen uns die Augen für unsere eigenen blinden Flecken, die im Erfolg von ehedem begründet liegen. Wer morgen erfolgreich sein will, muss heute das Gestern reflektieren.

Andreas Zeuch promovierte in Erwachsenenbildung über das Training professioneller Intuition. Er arbeitet seit dem Jahr 2003 als freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker mit dem Schwerpunkt unternehmerischer Entscheidungen und Managementinnovation. (CFOworld)