Recruiting: Stellenanzeigen? Talentpools!

"Es gibt keinen Fachkräftemangel"

11.06.2014 von Bettina Dobe
Wer keine Bewerber hat, ist selbst schuld. Altbackenes Recruiting und unnötige Limitierungen sind die Ursache, sagt Autor und Unternehmer Martin Gaedt.

"Wir finden keine Fachkräfte, niemand bewirbt sich bei uns und in fünf Jahren finden wir keinen IT-Experten mehr!" Für Sätze dieser Art hat Martin Gaedt kein Verständnis. Der Berater, Firmengründer und Autor stellt ein paar steile Thesen zum "Mythos Fachkräftemangel" auf - und schwimmt damit gegen den Strom. Wir haben nachgefragt.

CIO.de: Herr Gaedt, Sie behaupten, es gibt den Fachkräftemangel gar nicht. Eine gewagte These.

Martin Gaedt, Unternehmensgründer und Autor.
Foto: Martin Gaedt, Younect GmbH

Martin Gaedt: Die Unternehmen sind selbst schuld, wenn sie niemanden finden. Punkt. Es gibt keinen Fachkräftemangel. Natürlich gibt es schwierige Rahmenbedingungen, das will ich gar nicht leugnen. Aber viele Firmen limitieren sich selbst völlig unnötig. Nur 15 Prozent aller Firmen in Deutschland sind bereit, einen englischsprachgien ITler einzustellen. Die Welt ist voller Fachkräfte. In meiner Firma arbeiten neben Deutschen auch ein Serbe, ein Rumäne und ein Nepalese in der Software-Entwicklung. Wenn ich von vornherein sage, dass ich nur deutschsprachige Kandidaten nehme, dann limitiere ich mich selbst. Die IT-Sprache ist ohnehin englisch! Und wer sagt, dass es dieses Limit gibt?

Aber Unternehmen haben Schwierigkeiten, überhaupt Bewerber für Stellen zu finden! Wie passt das zusammen?

Martin Gaedt: Wenn ein Unternehmen darüber jammert, dass es zu wenig Kunden hat, was raten Sie ihm? Er soll mehr Werbung machen! Aber wenn eine Firma sagt, sie finde keine Fachkräfte, dann halten es alle für ein strukturelles Problem. Dabei ist doch Recruiting nichts anders als Marketing und Vertrieb!

Was machen so viele Firmen denn falsch?

Martin Gaedt: Einerseits gibt es kaum Unternehmen, die außergewöhnliches Personalmarketing betreiben. Wenn ich zu den Chefs gehe, und sie frage, was sie im Recruiting anders machen als andere, gibt es nur ganz wenige, die fundierte Strategien haben. Andererseits verfahren viele Unternehmen, was das Recruiting angeht, immer noch so wie im letzten Jahrtausend. Sie geben Stellenanzeigen online und in Print auf. Was bitte ist daran neu? Wenn 80 Prozent der Firmen noch immer auf Stellenanzeigen setzen, kriegen sie auch keine Bewerbungen. Welcher hochqualifizierte ITler liest denn heute noch Anzeigen? Die werden von Headhuntern angerufen! Kein Wunder, dass so viele Firmen Schwierigkeiten haben, Stellen zu besetzen. So schlimm kann die Situation auf dem Arbeitsmarkt gar nicht sein.

Fachkräftemangel - Die Zahlen -
39.000 offene IT-Stellen...
...zählt der Branchenverband Bitkom 2013 in der ITK- und in den Anwenderbranchen.
13.800 offene Stellen...
...haben Anbieter von Software und IT-Dienstleistungen.
15.000 neue Arbeitsplätze....
...sind voraussichtlich dieses Jahr in der ITK-Branche entstanden. Das sind 10.000 weniger als 2012.
Mit mehr als 52.000 Erstsemestern..
ist ein Rekord an Studienanfängern in der Informatik erreicht.
Informatik...
...ist nach Wirtschaftswissenschaften und Maschinenbau das Studienfach mit den meisten Studenten.
50 Prozent...
...beträgt die Quote der Studienabbrecher in Informatik.
17.000 Informatikabsolventen....
...verlassen 2013 die deutschen Hochschulen. Im Jahr 2000 waren es rund 5600 Informatikabsolventen.
22 Prozent der Informatikstudenten....
..sind Frauen. Vor 30 Jahren betrug der Anteil der Informatikstudentinnen 19 Prozent.
Erstmals über 40.000 Auszubildende...
...gibt es im Ausbildungsjahr 2013/2014 in den IT-Berufen.
Im September 2013 standen 14.050 Ausbildungsplatzbewerbern...
....12.532 gemeldete Stellen gegenüber. Das Verhältnis von 1,1 Bewerbern auf eine Ausbildungsstelle entspricht exakt dem Wert für den gesamten Ausbildungsmarkt in Deutschland.
Um 1,7 Prozent erhöhte...
..sich die Zahl der Ausbildungsverträge gegenüber dem Vorjahr. Verantwortlich dafür ist das starke Plus bei den Fachinformatikern, während die Zahl der Systemelektroniker zurückgingen.

Warum das denn?

Martin Gaedt: Wenn die Not so groß wäre, wären wir kreativer. Aber wir sind es nicht - also kann es mit dem Mangel nicht so weit her sein.

Wie sähe denn kreatives Recruiting aus?

Martin Gaedt: Ich gebe Ihnen ein Beispiel von einem echten Unternehmen. Statt einer Stellenanzeige suchte sich die Firma 20 Kandidaten. Denen schickt sie ein Handy, in dem nur eine einzige Nummer eingespeichert ist, mit einem Post-It darauf: "Rufen Sie Ihren zukünftigen Arbeitgeber an." Das ist Recruiting 2014!

Wo sind sie nur, die guten Bewerber? Viele Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften.
Foto: Kurhan - Fotolia.com

Das ist aber alles ein riesiger Aufwand.

Martin Gaedt: Natürlich ist das keine Option für jedes Unternehmen, das ist klar. Aber es ist billiger als Stellenanzeigen und ein Headhunter. Wer hat gesagt, dass Recruiting einfach ist? Die Zeiten, in denen Firmen Stapel von Bewerbungen bekamen und welche ziehen konnten, die sind vorbei. Zum Glück! Bewerbersuche kostet Zeit und Geld.

Das kann sich nicht jedes Unternehmen leisten, gerade Mittelständler haben für so etwas kein Budget.

Martin Gaedt: Oft ist es doch so, dass das, was am besten funktioniert, simpel ist. Ich kenne ein Unternehmen, das für 3300 Euro eine Stellenanzeige geschaltet hat - und null Bewerbungen bekam. Es schaltete die Anzeige noch einmal, wieder gab es keine Bewerbungen. Und was passiert dann? Die Personalleiterin sagt, sie brauche noch mal 3300 Euro für eine weitere Stellenanzeige. Ich glaube, wenn ich Recruiting betreibe wie den Vertrieb, dann habe ich keinen Fachkräftemangel. Im Vertrieb muss ich investieren, persönlich vorbeigehen und hartnäckig sein. Das ist im Recruiting nicht anders.

Haben die Unternehmer dann Bewerber, vergraulen sie die wieder, wie sie in Ihrem Buch anprangern - was meinen Sie damit?

Martin Gaedt: Selbst Top-Bewerber oder händeringend gesuchte Ärzte werden von potenziellen Arbeitgebern vergrault, weil sie sie lang warten lassen oder ihnen rotzige und unpersönliche Standardantworten schicken. Noch ein Beispiel: Ein Kunde wollten einen bestimmten IT-Entwickler einstellen, er bekam einen Experten aus Kroatien vermittelt. Dem Kunden wurde gesagt, dass er sich sofort bei dem Kroaten melden solle - sonst sei der vom Markt. Was passiert? Nichts passiert. Sechs Wochen später ruft das Unternehmen beim Entwickler an und stellt fest, dass er schon bei einer anderen Firma angestellt ist. Zu lang gezögert! Fachkräfte darf man keine sechs Wochen warten lassen - sonst sind sie vom Markt. Da darf man sich nicht wundern, wenn langsame Firmen Stellen nicht besetzt bekommen. Viele Ingenieure und andere Akademiker gehen eben ins Ausland, weil sie hier nichts Attraktives finden oder unterbezahlt werden. Der "War for Talents" findet ja weltweit statt.

Die beliebtesten Arbeitgeber der IT-Studenten 2014
Die Traumarbeitgeber der angehenden Informatiker...
...sind IT-Firmen, Forschungsinstitutionen, Autokonzerne oder Internet-Firmen. Die Berliner Marktforscher von Trendence haben mehr als 6.100 Informatikstudenten aus ganz Deutschland befragt, wo sie gern arbeiten möchten. Hier die 30 attraktivsten Arbeitgeber 2014.
Softwarehersteller Adobe...
.., hier das Büro in Hamburg, landete ebenfalls auf dem 29. Platz.
Platz 28: Max-Planck-Gesellschaft
Forschungsinstitutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft stehen seit jeher hoch im Kurs unter Informatikstudenten.
Platz 26: EADS
Der Konzern mit seinen Töchtern Airbus, Eurocopter, EADS Astrium und EADS Defence & Security landete vor zwei Jahren noch auf Platz 22.
Ebenfalls auf Platz 26: Das Deutsche Zentrum für Künstliche Intelligenz (DKFI)
..in Saarbrücken behauptet sich seit Jahren in den Top 30 der beliebtesten IT-Arbeitgeber. Forschungseinrichtungen ziehen insbesondere die 25 Prozent Besten eines Jahrgangs an.
Platz 25: Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)...
....sucht "große Lösungen für große gesellschaftliche Probleme der Zukunft", sagt CIO Hans-Joachim Popp. Dazu zählen neue Energiespeicher, das Weltklima oder die Verkehrsforschung und die Raumfahrt.
Platz 24: Nvidia..
..einer der größten Entwickler von Grafikprozessoren und Chipsätzen für Computer und Spielkonsolen ist erneut unter den Top 30 gelandet.
Platz 23: Lufthansa Systems..
...gehört zu den großen IT-Dienstleistern in Deutschland. Das Unternehmen will aber seine Rechenzentren verkaufen.
Platz 22: Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI)
Im Vorjahr landete das BSI noch auf Platz 17.
Platz 21: Die Deutsche Telekom...
ist einer der Hauptsponsoren des FC Bayern, für die Informatiker gehört er schon lange nicht mehr zu den zehn attraktivsten Arbeitgebern.
Platz 19: Intel
Der Prozessorhersteller hat in Deutschland seinen Hauptsitz in Feldkirchen bei München.
Platz 18: Electronic Arts
Der Hersteller von Fifa und anderen Computerspielen verbesserte sich im Vergleich zu 2013 um einen Rang.
Platz 17: Bundesnachrichtendienst (BND)
Der BND gehört schon seit Jahren zu den 20 beliebtesten Arbeitgebern für Informatikstudenten.
Platz 16: Daimler
Informatikstudenten lieben nicht nur Computerspiele, sondern auch (deutsche) Autos. Davon profitiert auch der Daimler-Konzern.
Platz 15: Bosch Gruppe
Das Unternehmen, das den weltgrößten Automobilzulieferer Robert Bosch und 300 Tochterfirmen umfasst, hat sich um einen Rang verschlechtert.
Platz 13: Porsche
VW-Tochter Porsche gehört dagegen zu den Aufsteigern im IT-Absolventenbarometer. Sie machte drei Ränge im Vergleich zu 2013 gut.
Platz 13: Amazon
Der Skandal um die Ausbeutung der Leiharbeiter beim Online-Händler hat dem Ruf von Amazon als Arbeitgeber bei den Informatikstudenten kaum geschadet. Im vergangenen Jahr landete Amazon auf Platz 9.
Platz 11: Volkswagen
...ist der dritte deutsche Autohersteller unter den Top 20 der beliebtesten Arbeitgeber.
Platz 11: Crytek
Spielehersteller Crytek war 2011 der größte Aufsteiger im Ranking der beliebtesten IT-Arbeitgeber und konnte seine Top-Platzierung halten.
Platz 10: Fraunhofer-Gesellschaft
Der IT-Nachwuchs will forschen. Darum ist die Fraunhofer Gesellschaft mit ihren zahlreichen Instituten eine feste Größe unter den Top Ten. Im Bild: Die Materialentwicklung für elektrische Energiespeicher.
Platz 7: Siemens
Deutschlands größter Konzern war noch vor 9 Jahren der beliebteste Arbeitgeber der Informatikstudenten.
Platz 7: IBM..
IBM-Deutschland-Chefin Martina Koederitz, im Bild mit Kanzlerin Angela Merkel auf der CeBIT, kann sich dieses Jahr nicht so recht freuen: IBM rutschte im dritten Jahr in Folge ab. 2011 war IBM noch auf Platz 2.
Platz 7: Blizzard Entertainment...
...hat in Deutschland gar keine Niederlassung, dennoch verbesserte sich der Spielehersteller um drei Plätze im Vergleich zu 2013.
Platz 6: Apple
Coole Produkte, cooler Arbeitgeber? Diesen Schluss ziehen anscheinend viele Informatikstudenten bei Apple. Im Bild einer der Apple-Stores in New York.
Platz 5: Audi
Die Ingolstädter werden nicht nur bei den Informatikstudenten, sondern auch bei anderen Fachrichtungen als Arbeitgeber immer beliebter.
Platz 4: Microsoft..
.. verliert nur einen Platz gegenüber 2013. Im Bild: Die Digital Eatery von Microsoft in Berlin.
Platz 3: BMW..
..ist der am höchsten platzierte Autobauer im IT-Absolventenbarometer. Im Vorjahr noch auf Platz 4. Hier im Bild der BMW i8.
Platz 2: SAP
Der Walldorfer Softwarekonzern behauptete seinen zweiten Platz. Der Abstand zum Sieger wird allerdings größer. Während zehn Prozent der Befragten gerne bei SAP arbeiten möchten,...
..wollen 26,3 Prozent zu Google.
Damit rangiert der Internet-Konzern im siebten Jahr in Folge auf Platz 1.
Google-Gründer Sergej Brin...
...kann sich freuen. Die Auswahl an Bewerbern ist riesengroß, in München hat Google aktuell 10 IT-Stellen zu besetzen.

Selbst mit Absagen können Unternehmen noch Fachkräfte der Zukunft vertreiben, schreiben Sie. Aber Absage ist Absage, damit macht sich eine Firma einfach keine Freunde.

Martin Gaedt: Mit Absagen an gute Kandidaten verschwendet man nicht nur viel Geld und Zeit, sondern man riskiert auch einen schlechten Ruf. Vor allem, wenn sie völlig unpersönlich sind. Absagen müssen signalisieren: Lieber Bewerber, du bist mir etwas wert! Wartelisten bringen wenig, denn das bringt dem Kandidaten keine unmittelbare Vermittlung und meistens sind die Listen nach ein paar Wochen voller Karteileichen. Dabei gibt es gute Alternativen.

Was schlagen Sie vor?

Martin Gaedt: Talentpools mehrerer Unternehmen sind die Stellenbörse der Zukunft. Wenn sich Unternehmen zu einem Netzwerk zusammenschließen, könnte ein Drittel der Unternehmen die restlichen zwei Drittel mit Bewerbern versorgen - Recruiting in Kooperation ist so einfach. Hat man eine Stelle besetzt, sagt man Kandidat Zwei und Drei nicht ab, sondern empfiehlt sie im Talentpool. So kommen sie vielleicht bei einem anderen Unternehmen unter, das nicht lang nach guten Kandidaten suchen muss. Und alle sind glücklich.

Aber für das Unternehmen selbst ergibt sich doch daraus kein Vorteil.

Martin Gaedt: Weil die Firmen es nicht gewohnt sind und weil viele denken, es sei mehr Aufwand. Es herrscht immer noch der Gedanke vor: "Der geht zur Konkurrenz! Ich werde ihn doch da nicht hinschicken!" Ich sage dann immer: "Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Wenn Sie ihn nicht einstellen, geht er ohnehin zur Konkurrenz!" Das zieht meistens. Man muss immer bedenken: Der Arbeitsmarkt ist dynamisch. Wenn ich jetzt drei perfekte Bewerbungen habe und empfehle Kandidaten weiter, dann kann es sein, dass ich einige Monate später, wenn ich selbst wieder eine offene Stelle habe, selbst eine Empfehlung bekomme. Empfehle ich niemanden weiter, verbaue ich mir selbst die Möglichkeit, auf den Pool zuzugreifen. Gleichzeitig werden sich die abgelehnten ihr Leben lang positiv an mich erinnern - und sich in vier oder fünf Jahren noch einmal bewerben.

Und die Kosten?

Martin Gaedt, "Mythos Fachkräftemangel: Was auf Deutschlands Arbeitsmarkt gewaltig schiefläuft", Wiley Verlag 2014, 240 Seiten.
Foto: Wiley Verlag

Martin Gaedt: Das empfehlende Unternehmen refinanziert sich seinen eigenen Aufwand. In unserer webbasierten Software cleverheads gibt es eine Empfehlungsprämie. Wer empfiehlt, bekommt für einen vermittelten ITler zwischen 2000 und 3700 Euro. Wer Bewerber einstellt, zahlt 3900 bis 7400 Euro. Für einen Headhunter muss man mehr zahlen. Aber eine vergleichbare Dichte an qualifizierten Bewerbern komme ich nur in Kooperation mit anderen.

Wie sieht die Zukunft des Recruitings aus?

Martin Gaedt: Ich persönlich glaube, in fünf Jahren gibt es keine Stellenbörsen mehr. Sie machen keinem Spaß. Es wird alles über Netzwerke und Empfehlungen laufen und auch das Storytelling über die Unternehmenskultur wird ein wichtiger Teil davon sein. Das funktioniert: Eine Firma, die Turbinen herstellt, klagte darüber, dass Turbinen so unsexy seien und sie deswegen keine Bewerber bekämen. Dann taten sie etwas sehr schlaues: Sie engagierte zehn hervorragende Fotografen und stellten die Bilder auf einen Blog. Auf einmal bekamen sie jede Menge Bewerbungen. So sind sie aufgefallen. Ein ITler muss ständig dazu lernen, das ist im Recruting genauso. Aber viele Firmen nutzen keine Personalmarketinginstrumente. Da muss ich mich nicht wundern, wenn sie nicht mal Bewerber haben. Erst wenn das alles genutzt wird, dann kann man ernsthaft über Fachkräftemangel reden.