Radikale Neuausrichtung – Konzern-IT On-Demand

Exklusiv: Die neue IT-Strategie von Siemens

21.04.2009 von Alexander Freimark
CIO Norbert Kleinjohann setzt kompromisslos auf Standards und Fertiglösungen. Vorläufiger Höhepunkt: Die IT führt im Konzern CRM-on-Demand ein. Siemens schraubte die 3000 individuellen Anforderungen an die Lösung auf 24 herunter. Der IT-Chef berichtet erstmals und exklusiv über den Umbau der Siemens-IT.
Norbert Kleinjohann Corporate CIO, Siemens AG: "Es geht darum, dass sich die IT an den marktverfügbaren Standardlösungen "Out of the Box" orientiert."
Foto: Siemens

Seit 2007 laufen Initiativen zum Umbau und zur Verschlankung des Siemens-Konzerns. Die IT-Organisation sowie ihre traditionellen Denkmuster und Vorgehensweisen nehmen sie nicht aus. Seit rund 18 Monaten setzt Siemens-CIO Norbert Kleinjohann ein Konzept um, mit dem die Konzern-IT verändert werden soll - nicht nur technologisch, sondern auch methodisch. Im Kern geht es um die Frage, in welchen Bereichen Prioritäten gesetzt werden, um den effizienten Einsatz der Ressourcen sicherzustellen. Zur Modernisierung gehört indes auch, viele alte Zöpfe abzuschneiden und, wie Kleinjohann es fordert, eine gewisse "Radikalität".

Zentraler Punkt der Siemens-Initiative ist ein Thema, dass sich laut Kleinjohann auf den ersten Blick "relativ banal" anlässt: die Geschäftsnähe der IT. Angesichts der historisch gewachsenen Divergenz von Geschäft und Technologie handle es sich jedoch um die derzeit schwierigste Herausforderung, so Kleinjohann. Der Grund: "Durch die Trennung ergeben sich Probleme in der Bedarfsermittlung", was wiederum den Aufwand der IT in die Höhe treibt. Den Graben zwischen Business und IT zu überbrücken habe er sich ins Stammbuch geschrieben, und "die Annäherung muss von beiden Seiten kommen"

Die beiden Kernfragen der IT

Zwei entscheidende Fragen treiben den Manager beim Brückenschlag um, zu deren Beantwortung auch die Fachabteilungen beitragen müssen:

  1. Auf welchen Feldern kann sich Siemens mit Unterstützung der IT von den Wettbewerbern differenzieren?

  2. Wie lassen sich echte Bedürfnisse der Geschäftsbereiche von "künstlichen Anforderungen" an eine ITLösung unterscheiden?

Viele Forderungen, so das Credo von Kleinjohann, sind schlicht überflüssig, weil sie keinen Mehrwert für das Geschäft mit sich bringen. "Pflicht sind entweder höhere Einnahmen oder sinkende Kosten." Bei den Anforderungen und dem Grad der Individualisierung einer Lösung will der CIO die Axt folglich im Schulterschluss mit den Fachabteilungen ansetzen.

Fakten zur Siemens AG.

Damit der Schlag nicht danebengeht, ist themenspezifisch zu ermitteln, inwieweit sich der Konzern von den Wettbewerbern differenzieren will und muss, um seine Marktposition zu behaupten beziehungsweise zu verbessern. Die Konzernleitung hat diesbezüglich ambitionierte Ziele formuliert. Gerade in der IT ließen sich viele Felder ausmachen, berichtet der CIO, in denen es kein Differenzierungspotenzial gibt, was aber nicht den Einsatz der IT an sich in Frage stellt. Vielmehr gehe es darum, dass sich die IT "an den marktverfügbaren Standardlösungen "Out of the Box" orientiert", sagt Kleinjohann. Das sei intellektuell zwar leicht formulierbar und nachvollziehbar, doch handle es sich um "die Übung schlechthin".

Beispiele hat der Manager viele bei der Hand, wie etwa Datennetze, Server, RZ- und Desktop-Dienste sowie E-Mail und Support-Prozesse. Und natürlich: "Siemens ist nicht im Markt, um in solchen Themen besonders raffinierte Individuallösungen haben zu wollen." Zweifellos müssen diese allen Compliance-Aspekten genügen und State of the Art sein. Erfolgreich werde man jedoch erst, wenn in den vielen Bereichen ein marktfähiger Outof-the-Box-Ansatz verfolgt wird. Doch: "Die Frage der Standardisierung ist nicht mehr, wie sich gewährleisten lässt, dass konzernweit in bestimmten Themenfeldern gleichartig vorgegangen wird", so der IT-Manager.

Sich als Gesamtunternehmen eine einheitliche Vorgehensweise zu erarbeiten sei viel zu aufwendig und zu teuer. Die Entwicklung gehe daher unzweifelhaft hin zu Fertiglösungen und Software-as-a-Service (SaaS). Schließlich hätten sich in relativ kurzer Zeit derartige Vorgehensweisen und Modelle im Markt etabliert, und auch die Komplexität der Integration sei gesunken.

Von 3000 auf 24 Anforderungen

Vorläufiger Höhepunkt des Umbaus in der Siemens-IT ist der Wechsel des CRM-Systems von einer klassischen Software auf das Bereitstellungsmodell SaaS. Statt wie bisher rund 3000 individuelle Anforderungen an die Lösung zu berücksichtigen, schraubte Siemens die Zahl auf 24 herunter. "Wir sehen in diesem Teil der Marktschnittstelle keine Notwendigkeit, uns besonders differenzieren zu müssen", erläutert Kleinjohann die lohnenswerte Bescheidenheit.

Die Anpassung der Software dauerte lediglich drei Monate. Seit Januar werden alle sechs Wochen jeweils 500 weitere Mitarbeiter auf die Software aufgeschaltet, das mittelfristige Ziel sind etwa 10 000. Der Effekt gegenüber einer klassisch bereitgestellten und angepassten Lösung: Einsparungen sowie Geschwindigkeitszuwächse.

Nach dem Kassensturz

Die Motivation für den steilen und steinigen Weg ziehen der CIO und die IT-Organisation "aus vielen positiven Beispielen". Im Rahmen des Optimierungsprogramms "IT Challenge" wurde ein "Kassensturz" gemacht, welche Applikationen sich der Konzern überhaupt leistet. Auch in der Infrastruktur habe Siemens sehr viele individuelle Vorgehensweisen verfolgt, sagt Kleinjohann, die bei klarem Fokus auf Commodities "ein enormes Potenzial bieten, ohne dass darunter die Leistung leidet". Gemäß der Unternehmensstruktur wurden die einzelnen Bereiche intensiv abgearbeitet, teils mit großem Erfolg. Durch den Schwenk auf Standardlösungen spart der Konzern einen erheblichen Teil seiner jährlichen IT-Ausgaben.

Blindleistungs-Kompensationsanlage von Siemens auf der dänischen Insel Lolland stabilisiert das schwache Übertragungsnetz.

Beispielsweise wurden Mobiltelefonverträge regional vereinheitlicht und in einem ersten Schritt europaweit nur einem Anbieter pro Land übertragen. Dies senke die Kosten um rund 50 Prozent. Im weltweiten Datennetz berichtet Kleinjohann von einer Reduktion von 60 Prozent, und aktuell wurde das IT-Infrastruktur-Outsourcing analysiert, "um unsere Anforderungen marktgerechter zu gestalten", also die historisch gewachsenen Unterschiede in den Anforderungen zu egalisieren und somit die Gelegenheit zu schaffen, die Preise zu senken. Das Ganze werde katalysiert durch die Konzernprogramme. Siemens hat sich in den vergangenen Jahren verschiedenen Initiativen zur Verschlankung unterzogen, die nach Aussage des CIOs intern recht erfolgreich laufen: "Das hilft uns jetzt besonders."

Das Interesse an der Abstraktion beziehungsweise der Vereinfachung habe ihn seit seinem Studium und später in der Ära der Individual-Software begleitet, berichtet Kleinjohann. Natürlich hätten CIOs auch vor 25 Jahren davon geträumt, sich ganz auf das Kerngeschäft - "den Nerv des Unternehmens" - zu konzentrieren und das leidige Thema der Wartung individuell entwickelter Programme loszuwerden. Man müsse die Gedanken nur immer wieder reaktivieren und seine eigenen Entscheidungen nach einer gewissen Zeit in
Frage stellen, argumentiert der CIO.

IT optimieren für Business-Produkte

Mit seiner Forderung nach Entlastung bewegt sich Kleinjohann im Bereich einer grundlegenden Management-Qualität - Prioritäten zu setzen. Wenn etwa der Aufwand für das Application-Management reduziert wird, so der CIO, wäre jedem Unternehmen enorm geholfen. Die freien Mittel würden in Bereichen verwendet, "in denen ich noch etwas bewirken kann". Die Büro-IT zähle nicht dazu, so Kleinjohann. Hier sei der springende Punkt, mit effizientem Mitteleinsatz das notwendige Niveau zu halten. "Wenn einer meint, dass er da noch einen großen Hebel nutzen und durch weiteren Softwareeinsatz Aufwände halbieren kann, ist das Unsinn." Das Potenzial sei an dieser Stelle schlicht nicht mehr vorhanden.

Stichwort "digitale Fabrik"

Spielraum für Optimierung durch IT hat Kleinjohann auf anderen Feldern ausgemacht. So seien letztlich Produkte das entscheidende Kriterium, das ein Unternehmen auszeichnen würde: "Wenn eine Firma im Produktbereich nicht besser ist als die Wettbewerber, wird sie auf Dauer nicht die beste Firma sein." Der künftige Erfolg gründe auf Entwicklungsprozessen, dem Product-Lifecycle-Management (PLM), der Produktionsautomatisierung sowie der wirkungsvollen Verschmelzung dieser Bereiche.

Ein Stichwort hierfür lautet "digitale Fabrik", und auch Siemens wandelt sich immer stärker zum Softwareunternehmen im Umfeld der industriellen IT. "Diese Themen werden von uns auch selbst stärker angewendet", sagt Kleinjohann - nicht nur, um glaubwürdiger zu wirken, "sondern weil dort die IT noch echte Produktivität auslösen kann". Produktentwicklungszeiten ließen sich deutlich kürzen, Produktionskosten senken: "Da können wir durch individuelleren Einsatz von IT noch erheblich profitieren."