NSA-Spionage im Élysée

Frankreich erlebt Merkels Handy-Moment

25.06.2015
Wut in Paris: Auch François Hollande und seine Vorgänger standen wohl auf der Lausch-Liste der NSA. Die Inhalte der Veröffentlichungen sind für manchen peinlich, aber kaum dramatisch - doch sie verschaffen dem Spionageskandal in Frankreich neues Gewicht.

Der neue Coup der Enthüllungsplattform Wikileaks passt ausgedruckt auf gerade einmal vier DIN-A4-Seiten. Doch die nüchternen Zusammenfassungen über die Ergebnisse von Lauschangriffen auf drei französische Präsidenten haben im politischen Frankreich einen Aufschrei der Entrüstung ausgelöst. Von "Emotion und Wut" spricht Premierminister Manuel Valls. Das Land, das die Serie an Veröffentlichungen über die amerikanischen Späh-Aktivitäten lange Zeit eher zur Kenntnis nahm und dann schnell zur Tagesordnung überging, erlebt seinen Merkels-Handy-Moment.

Nach Bekanntwerden der Abhörattacken auf das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin vor zwei Jahren war die Debatte in Deutschland umgeschwenkt. Die Bundesregierung verlangte Erklärungen von Washington. Nun scheint klar, dass die amerikanischen Freunde ihre elektronischen Ohren auch auf Gespräche im Élyséepalast richteten.

Dieses Vorgehen sei unter Verbündeten inakzeptabel, heißt es aus dem Élyséepalast, wo Präsident François Hollande prompt Minister und Geheimdienstler um sich scharte. Das ist nicht so weit entfernt von Angela Merkels legendärem "Ausspähen unter Freunden - das geht gar nicht". Immerhin habe man gemeinsame strategische Interessen, sagt Regierungssprecher Stéphane Le Foll verstimmt. Frankreich ist ein enger Verbündeter der USA im Kampf gegen den islamistischen Terror, da kommt die als Misstrauen empfundene Lauschaktion nicht gut an.

Die Lehren aus der NSA-Affäre
Viktor Mayer-Schönberger, Professor für Internet Governance and Regulation
"Es geht nicht mehr um das Ausspähen der Gegenwart, sondern um einen Einblick in die Zukunft. Das ist der Kern von Prism. Präsident Obama hat schon recht, wenn er sagt, die von Prism gesammelten Daten seien doch für sich genommen recht harmlos. Er verschweigt freilich, dass sich daraus statistische Vorhersagen gewinnen lassen, die viel tiefere, sensiblere Einblicke gewähren. Wenn uns nun der Staat verdächtigt, nicht für das was wir getan haben, sondern für das was wir – durch Big Data vorhersagt – in der Zukunft tun werden, dann drohen wir einen Grundwert zu verlieren, der weit über die informationelle Selbstbestimmung hinausgeht."
Prof. Dr. Gunter Dueck, Autor und ehemaliger CTO bei IBM
"Ich glaube, die NSA-Unsicherheitsproblematik ist so ungeheuer übergroß, dass wir uns dann lieber doch gar keine Gedanken darum machen wollen, so wie auch nicht um unser ewiges Leben. Das Problem ist übermächtig. Wir sind so klein. Wir haben Angst, uns damit zu befassen, weil genau das zu einer irrsinnig großen Angst führen müsste. Wir haben, um es mit meinem Wort zu sagen, Überangst."
Oliver Peters, Analyst, Experton Group AG
"Lange Zeit sah es so aus, als würden sich die CEOs der großen Diensteanbieter im Internet leise knurrend in ihr Schicksal fügen und den Kampf gegen die Maulkörbe der NSA nur vor Geheimgerichten ausfechten. [...] Insbesondere in Branchen, die große Mengen sensibler Daten von Kunden verwalten, wäre ein Bekanntwerden der Nutzung eines amerikanischen Dienstanbieters der Reputation abträglich. [...] Für die deutschen IT-Dienstleister ist dies eine Chance, mit dem Standort Deutschland sowie hohen Sicherheits- und Datenschutzstandards zu werben."
Dr. Wieland Alge, General Manager, Barracuda Networks
"Die Forderung nach einem deutschen Google oder der öffentlich finanzierten einheimischen Cloud hieße den Bock zum Gärtner zu machen. Denn die meisten Organisationen und Personen müssen sich vor der NSA kaum fürchten. Es sind die Behörden und datengierigen Institutionen in unserer allernächsten Umgebung, die mit unseren Daten mehr anfangen könnten. Die Wahrheit ist: es gibt nur eine Organisation, der wir ganz vertrauen können. Nur eine, deren Interesse es ist, Privatsphäre und Integrität unserer eigenen und der uns anvertrauten Daten zu schützen - nämlich die eigene Organisation. Es liegt an uns, geeignete Schritte zu ergreifen, um uns selber zu schützen. Das ist nicht kompliziert, aber es erfordert einen klaren Willen und Sorgfalt."
James Staten, Analyst, Forrester Research
"Wir denken, dass die US-Cloud-Provider durch die NSA-Enthüllungen bis 2016 rund 180 Milliarden Dollar weniger verdienen werden. [...] Es ist naiv und gefährlich, zu glauben, dass die NSA-Aktionen einzigartig sind. Fast jede entwickelte Nation auf dem Planeten betreibt einen ähnlichen Aufklärungsdienst [...] So gibt es beispielsweise in Deutschland die G 10-Kommission, die ohne richterliche Weisung Telekommunikationsdaten überwachen darf."
Benedikt Heintel, IT Security Consultant, Altran
"Der Skandal um die Spähprogramme hat die Akzeptanz der ausgelagerten Datenverarbeitung insbesondere in den USA aber auch in Deutschland gebremst und für mehr Skepsis gesorgt. Bislang gibt es noch keinen Hinweis darauf, dass bundesdeutsche Geheimdienste deutsche IT-Dienstleister ausspäht, jedoch kann ich nicht ausschließen, dass ausländische Geheimdienste deutsche Firmen anzapfen."
Viktor Mayer-Schönberger, Professor für Internet Governance and Regulation
"Die NSA profitiert von ihren Datenanalysen, für die sie nun am Pranger steht, deutlich weniger als andere US-Sicherheitsbehörden, über die zurzeit niemand redet. Das sind vor allem die Bundespolizei FBI und die Drogenfahnder von der DEA. [...] Es gibt in der NSA eine starke Fraktion, die erkennt, dass der Kurs der aggressiven Datenspionage mittelfristig die USA als informationstechnologische Macht schwächt. Insbesondere auch die NSA selbst."
Aladin Antic, CIO, KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplationen e.V.
"Eine der Lehren muss sein, dass es Datensicherheit nicht mal nebenbei gibt. Ein mehrstufiges Konzept und die Einrichtung zuständiger Stellen bzw. einer entsprechenden Organisation sind unabdingbar. [...] Generell werden im Bereich der schützenswerten Daten in Zukunft vermehrt andere Gesichtspunkte als heute eine Rolle spielen. Insbesondere die Zugriffssicherheit und risikoadjustierte Speicherkonzepte werden über den Erfolg von Anbietern von IT- Dienstleistern entscheiden. Dies gilt auch für die eingesetzte Software z.B. für die Verschlüsselung. Hier besteht für nationale Anbieter eine echte Chance."
ein nicht genannter IT-Verantwortliche einer großen deutschen Online-Versicherung
"Bei uns muss keiner mehr seine Cloud-Konzepte aus der Schublade holen, um sie dem Vorstand vorzulegen. Er kann sie direkt im Papierkorb entsorgen."

Dabei ist der Inhalt der Veröffentlichungen gar nicht mal sonderlich brisant, wenn auch für manche Beteiligte ein wenig peinlich. So notierten die amerikanischen Spione im Jahr 2008 die Selbsteinschätzung des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, er sei der einzige, der die Finanzkrise lösen könne. Sein sozialistischer Nachfolger François Hollande soll sich kurz nach seinem Amtsantritt ganz und gar nicht schmeichelhaft über die Kanzlerin geäußert haben - und dann schnell ein Treffen mit den deutschen Sozialdemokraten arrangiert haben.

In anderen Top-Secret-Dokumenten ist die Rede von einer Friedensinitiative im Nahen Osten oder den Bemühungen Jacques Chiracs, eine UN-Personalie zu beeinflussen. Geschacher, das Regierungen lieber hinter dem Vorhang halten. Aber: Die Unterlagen aus den Jahren 2006 bis 2012 seien nicht in die Kategorie von Sensationen einzuordnen, die die Republik ins Wanken bringen könnten, kommentierte die linke französische Tageszeitung "Libération". Was zählt, ist der Vertrauensverlust, den Politiker aller Couleur beklagen - auch wenn die USA beteuern, aktuell werde Hollande nicht abgehört, ohne auf die Frage nach der Vergangenheit einzugehen. Der sozialistische Fraktionschef Bruno Le Roux spricht von einer Verletzung der französischen Souveränität.

"Im Grunde genommen ist es die Französische Republik, die systematisch von seinem angeblichen Verbündeten abgehört wurde", sagt Edwy Plenel von der investigativen Nachrichtenseite Mediapart, die mit Assange zusammenarbeitet und die Dokumente auswertete. Auch Regierungsbeamte, Politiker und Diplomaten seien abgehört worden. Wikileaks-Chef Assange kündigte bereits weitere Veröffentlichungen an.

Zudem könnte der Fall die Frage der Zusammenarbeit des deutschen Bundesnachrichtendienstes mit der NSA wieder aufs Tapet bringen: Der BND soll über Jahre geholfen haben, europäische Firmen und Politiker auszuspähen - auch Franzosen. Paris hatte diese Enthüllungen bislang gelassen kommentiert. Der deutsche Linken-Abgeordnete Jan Korte rief Frankreich schon mal auf, jetzt doch etwas genauer in Berlin nachzufragen.

Assange jedenfalls hob schon einmal einen Hinweis auf dem Dokument über Hollandes Merkel-Äußerungen hervor. Als Quelle sei dort "fremder Satellit" angegeben. Welches Land den Amerikanern dabei möglicherweise zur Seite stand, könnte noch für Diskussionen sorgen.

Deutschland sei es wohl nicht, sagt der NSA-Aufklärer im Bundestag, Patrick Sensburg. Nach einer ersten Prüfung erscheine es als "eher unwahrscheinlich", dass die Vorfälle in Paris etwas mit der Kooperation von NSA und Bundesnachrichtendienst zu tun hätten, sagte der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. (dpa/tc)