Warenwirtschaft bei Kaiser’s Tengelmann

Größtes IT-Projekt vor dem Abschluss

16.06.2009 von Frank Grünberg
Vor neun Jahren startete Kaiser’s Tengelmann das größte IT-Projekt seiner Unternehmensgeschichte. Die Umstellung der Warenwirtschaft erfolgte, um eine artikelgenaue Bestandsführung zu erreichen. Nun geht der Marathon in die Zielgerade.

Eine Million pro Stunde. Bei Kaiser’s Tengelmann (KTAG) ist das der Durchschnitt. Die Kassen von Deutschlands fünftgrößtem Lebensmitteleinzelhändler verbuchen nämlich bis zu eine Million Artikel pro Stunde. Herausforderung für die Datenlogistik ist dabei die Behandlung von jeweils 15 000 bis 18.000 aktiven Artikeln in mehr als 700 Filialen mit individuellen Sortimenten. Hinzu kommen weitere Saison- und Aktionsartikel, die die Filialen nur temporär führen, sodass insgesamt 85 Millionen Artikelreferenzen bestands- und wertegenau zentral verwaltet werden.

Besonders knifflig ist das Managen der Frischetheken für Fleisch, Obst und Gemüse. Dieses Angebot unterscheidet einen Vollsortimenter wie die KTAG von der Discounter-Konkurrenz, es erfordert aber einen hohen Änderungsaufwand bei der Sortimentsbildung und Preisgestaltung. Kostete der Spargel gestern noch neun Euro das Kilo, bekommt man ihn heute für 50 Cent weniger. Die tatsächliche Differenz zwischen Einkauf und Abverkauf im Blick zu behalten - darin besteht eine der Herausforderungen an das System.

Lange Zeit spiegelt sich diese Kennziffer allerdings nicht in den Warenwirtschaftssystemen (WWS) der KTAG wider. Im Jahr 2000 beschließt das Management, diesen blinden Fleck zu beseitigen und die sogenannte artikelgenaue Bestands- und Werteführung in den Filialen einzuführen. Angesichts einer heterogenen Systemlandschaft aus 43 unterschiedlichen Hard- und Softwaresystemen ist den Beteiligten allerdings sehr schnell klar, dass es nicht reichen wird, allein die Prozesse auf die Belange des Einzelhandels zu optimieren. "Wir mussten auch die gesamte IT-Infrastruktur standardisieren", blickt IT-Leiter Dieter Beye auf die Anfänge zurück. "Damit starteten wir das größte IT-Projekt in der Geschichte des Unternehmens."

Vor allem organisatorische Vorarbeiten prägen die ersten drei Jahre. Der Ist-Zustand muss beschrieben werden, alle Prozesse - von der Beschaffung über die Logistik, vom Rechnungswesen bis zum Verkauf - sind durch Befragung der Beteiligten zu dokumentieren. Die Herausforderung liegt in der Konzentration auf das Wesentliche. "Die einen beschreiben zu detailliert, die anderen zu grob", schildert Beye seine Erfahrung.

Fast die Hälfte der Prozesse geändert

Gemeinsam mit den "Prozesseigentümern", die für alle Einzelprozesse bestimmt werden, machen sich die Verantwortlichen anschließend daran, eine vollständige Soll-Prozessbeschreibung aller Geschäftsabläufe zu erarbeiten. Zwei entscheidende Fragen sind: "Wie sollen die Prozesse künftig ablaufen?" und "Was lässt sich bei den aktuellen Prozessen optimieren?" Die Antworten treiben das Projekt gleich in doppelter Hinsicht. Erstens liefern sie eine Blaupause für organisatorische Veränderungen. "Wir haben damals etwa 50 Prozent aller Prozesse verändert", sagt Beye. Zweitens bilden sie die Grundlage für die Ausschreibung des neuen WWS.

Dieter Beye, IT-Leiter, Kaiser’s Tengelmann AG: "Erstmals im Lebensmitteleinzelhandel gelingt die Umstellung auf eine schnittstellenfreie integrierte Software über alle Prozesse hinweg."

Potenziellen Softwarelieferanten lassen die Verantwortlichen nur wenig Spielraum. Klar ist, die IT muss sich an die Prozesse anpassen und nicht umgekehrt. Das Rennen macht die Compex Systemhaus GmbH aus Heidelberg. Das Softwarehaus bringt die Standardsoftware "Compex Commerce" mit, die sich tatsächlich unkompliziert entlang den KTAG-Bedürfnissen entwickeln lässt. "Die Software kann flexibel modelliert werden, ohne den Kern verändern zu müssen", erklärt Beye. "Damit ist sichergestellt, dass wir den Standard sehr individuell an unsere Bedürfnisse anpassen können, ohne nachhaltige Störungen zu riskieren, und dies bei voller Release-Kompatibilität." Ende April 2004 werden beide Seiten handelseins.

Zehn Anwendungen in einer

In den folgenden zwölf Monaten geht es ans Eingemachte. Die Projektteams erstellen insgesamt 25 Fein-Pflichtenhefte, in denen sie Prozesse wie "Verkaufspreise pflegen", "Rechnungen prüfen", "Wareneingang" oder "Kommissionierung" en detail beschreiben. Dies wird in einer Dokumentation von über 17 000 Seiten zusammengestellt. Erst dann wird das Ganze "in Software gegossen", und zehn der früheren Softwarelösungen werden in einer einzigen vereint.

Auch die Datenmigration aus den heterogenen Altsystemen ist bis dahin gelöst. Es gilt, die Artikelnummern für Lager und Filialen so zu vereinheitlichen, dass sich Artikel künftig aus einer Software heraus und ohne Medienbruch verwalten lassen. Die Größenordnung ist beeindruckend: 3200 Lieferanten, 81 000 Artikel und 130 000 Einkaufspreise müssen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, 380 Millionen Abverkäufe und 36 Millionen Verkaufspreise aus dem alten in das neue System übertragen werden - ein Kraftakt, aber für den Aufbau des modernen Dispositionssystems unumgänglich. "Wir stellen den Filialleitern heute automatisiert Bestellvorschläge zur Verfügung, die diese bestätigen, abändern oder unverändert übernehmen können", erklärt Beye. "Damit lassen sich unsere Warenpräsenz verbessern und weitere Umsatzpotenziale heben."

Zunächst aber muss das neue WWS umfassende Tests bestehen, die das übliche Maß weit überschreiten. Nicht nur, weil 17 Test-, Schulungs-, Entwicklungs- und Performance-Umgebungen eingerichtet wurden. Die Verantwortlichen ergänzen die Funktions-, Anwendungs- und Integrationstests auch um einen "Wirklichkeitstest". Sie bilden einzelne Tage der KTAG durch Echtdaten aus der Vergangenheit nach. Insgesamt werden 32 000 Testfälle in rund 550 Szenarien abgearbeitet. Darüber hinaus werden 18 Kernprozesse mit Massendaten auf ihre Verarbeitungsgeschwindigkeit geprüft.

2008 geht das erste Lager live

Am 11. Januar 2008 - fast acht Jahre nach den ersten Überlegungen und knapp fünf Jahre nach Projektbeginn - wird das erste Lager live aufgeschaltet. Nur zehn Tage später folgt die erste Filiale, zunächst allerdings nur für die Obst- und Gemüsesortimente. "Diese Sortimente sind schwierig zu managen, bleiben aber überschaubar", erläutert Beye diese Vorgehensweise. "Sie eignen sich auch gut, um die Mitarbeiter zu schulen."

Bis heute hält der Roll-out an. Für die 14 Lager - zwölf sind inzwischen "live" - soll er Ende Juni 2009 und für die Filialen Mitte 2010 abgeschlossen sein. Erst dann laufen alle Sortimente an allen Standorten unter der einheitlichen Software "Compex Commerce". Warum so lange? Aus reiner IT-Sicht ginge die Umstellung schneller. "Weil bei diesen erheblichen Prozessveränderungen auch die Menschen mitgenommen werden müssen", erklärt Beye.

Diese Prämisse dient dem Projektleiter von Anfang an als Erfolgsvorlage. Er besetzt alle Projektteams nicht nur mit Mitarbeitern von Compex und seiner IT-Abteilung, sondern auch mit Kollegen aus den Fachbereichen. "Das Ganze war kein IT-Projekt", betont er, "sondern ein Projekt unserer Fachbereiche."

Fakten zu Tengelmann.

Beye lässt schon frühzeitig alle wichtigen Themen - angefangen bei administrativen Tätigkeiten über den Umgang untereinander bis hin zur Durchführung von Testverfahren - in einem Handbuch beschreiben und von allen Beteiligten abzeichnen. Darüber hinaus nehmen alle drei Vorstände nicht nur regelmäßig an den Sitzungen des Lenkungsausschusses teil, sondern sind auch in den Projektablauf integriert. Dieser Aufwand zahlt sich aus. "Ohne das Vertrauen des Vorstands", sagt Beye, "hätten wir dieses Projekt nicht über so viele Jahre hinweg zum Erfolg führen können."

Mit dem Erreichten zeigt er sich sehr zufrieden. Der KTAG sei mit Compex Commerce "erstmals im Lebensmitteleinzelhandel die Umstellung auf eine durchgängige schnittstellenfrei integrierte Software über alle warenwirtschaftlichen und logistischen Prozesse der Zentrale und Filialen hinweg einschließlich artikelgenauer Bestands- und Werteführung in allen Bereichen gelungen".

Künftig kann das Management mit den tatsächlichen Abverkaufsspannen kalkulieren. Es kann außerdem barrierefrei mit den Filialen kommunizieren. Denn die Filialleiter senden und empfangen alle wichtigen Informationen über mobile Geräte, die über drahtlose Netze direkt mit der Zentrale und dem neuen WWS gekoppelt sind. Alle Prozesse sind als Workflow direkt im System hinterlegt und werden durch eine automatische Wiedervorlage unterstützt. "Wir befreien die Filialleiter nicht nur von jeder Menge Papierkram", sagt Beye. "Wir ermöglichen ihnen auch, sich mehr im Verkaufsraum statt im Büro zu bewegen."

Warenwirtschaft befreit Filialleiter von Papierkram

Auch technologisch hat der IT-Leiter vorgesorgt. Für die Wartung und Pflege der Programme ist die Arbeit klar geteilt. Compex kümmert sich um die Realisierung aller Kernthemen des WWS, die KTAG verantwortet die Reporting- und Schnittstellenthemen. "Wir haben sehr tiefe Einblicke in die Struktur der Software erhalten", erklärt Beye, "und damit wichtiges Know-how aufgebaut."