Neues Datenmodell

Hermes UK vertraut seine IT Amazon an

06.08.2019 von Peter Sayer
Das britische Logistikunternehmen Hermes hat sein Datenmodell angepasst und ist in die Amazon-Cloud gewechselt. Ziel war es, flexibler zu werden und neue Dienstleistungen rund um die Paketzustellung anbieten zu können.

Die Paketzustellung ist ein mörderisches Geschäft mit Margen, die im Bereich von Cent-Beträgen liegen. "Wenn Sie es schaffen, einen Extra-Penny aufgrund einer verbesserten Technologie oder einer optimierten Customer Journey zu bekommen, oder wenn Sie die Kosten auch nur um einen Penny drücken können, werden Sie das sofort auf der Ertragsseite spüren", sagt Chris Ashworth, CIO von Hermes UK. Den Großteil seiner Einnahmen erwirtschaftet Hermes mit Partnern aus dem Groß- und Einzel- sowie dem Online-Handel. "80 Prozent der Top-100-Händler arbeiten mit uns zusammen", sagt Ashworth. Hermes betreibt zudem ein Netzwerk von über 4.500 Paketshops, aus denen heraus kleine Betriebe und Einzelpersonen Pakete versenden können.

Hermes will flexibler werden und Kunden mit neuen Dienstleistungen überzeugen.
Foto: hermesworld.com

Amazon sitzt Hermes im Nacken

In Großbritannien ist die nationale Post, die Royal Mail, mit einem Marktanteil von 39 Prozent der größte Paketzusteller. 2017 war Hermes mit zehn Prozent der Sendungen die Nummer zwei, doch Amazon, das bereits sieben Prozent der britischen Pakete transportiert, sitzt dem Unternehmen im Nacken. Da vier von zehn Briten das Amazon-Prime-Programm nutzen und immer mehr in diesem Zusammenhang auch den Service Same-Day-Delivery in Anspruch nehmen, nimmt der Druck auf Hermes permanent zu.

Für Hermes stellt Amazon eine existenzielle Bedrohung dar - und dennoch hat der Logistiker entschieden, in die Cloud-Infrastruktur seines großen Rivalen zu wechseln. Hintergrund war die bessere Skalierbarkeit der Cloud-Systeme: Hermes war mit seinen Batch-orientierten IT-Systemen, die im Hamburger Rechenzentrum liefen, ständig am Limit. "Wir hatten kaum noch die Zeit, unsere Batch-Jobs abzuschließen", sagt Ashworth.

"Das Tracking der Lieferungen hat ein Drittel der Workloads beansprucht, der Bezahlprozess ein weiteres Drittel", berichtet der IT-Manager. "Beide waren essenziell für uns. Das Reporting, insbesondere für Kunden, machte das letzte Drittel aus. Hier konnten wir Verzögerungen noch am ehesten kompensieren", berichtet Ashworth. Das habe funktioniert, weil der Sendebetrieb meist ohnehin reibungslos lief. Die Kunden hatten kein Problem mit Zusendungen, das Kundenerlebnis war ungetrübt. Aber für die Entwicklung neuer Angebote gab es kaum Spielraum.

Als dann die deutsche Hermes-Niederlassung ihr Rechenzentrum schließen und das Hosting eines Dienstleisters in Anspruch nehmen wollte, entschied Ashworth, dass die Zeit reif war, in Richtung Cloud Computing zu gehen. Amazon sei am besten geeignet gewesen, zumal AWS-gehostete Lösungen im eigenen Lieferanten- und Kundennetzwerk weit verbreitet waren. Drei Jahre sind seitdem vergangen, etwa die Hälfte der Hermes-Systeme befindet sich inzwischen in der Cloud. Ashworth erwartet, dass die andere Hälfte schneller migriert werden kann.

Zum Zeitpunkt der Entscheidung hatten Ashworth und sein Team 15.000 Batch-Prozesse und 300.000 Stored Procedures gezählt, die in Dienste und APIs umgewandelt werden mussten. "Heute haben wir 13.000 dieser Batch-Prozesse durch Realtime Services ersetzt und wahr­scheinlich einen prozentual ähnlich hohen Anteil an Stored Procedures überführt", sagt er. "Wir haben jetzt kein Skalierungsproblem mehr."

Generalüberholung der Dateninfrastruktur

Im Zuge der Migration musterte Ashworth einige DB2- und Oracle-Systeme aus und wechselt zu SAP HANA in der Cloud. Die meisten Daten wurden in das neue Datenbanksystem verschoben, beginnend mit den Datenströmen, die das traditionelle BI-System des Unternehmens fütterten, und ergänzt um viele andere - darunter auch Schatten-IT-Projekte - die Ashworth entdeckt hatte.

Heute nutzt Hermes 14 operative Datenspeicher für verschiedene Zwecke, darunter einen, der einen lückenlosen Überblick über die Kunden bietet. "Wir können jetzt sofort sehen und verstehen, welche Interaktionen Kunden mit uns haben - ob Sie ein Paket oder tausend Pakete verschickt haben und ob Sie in der Vergangenheit Probleme hatten", so der CIO. Das ist möglich, weil Hermes sein Datenmodell neu aufgebaut hat. "Unser BI-Modell war historisch nicht um den Kunden, sondern um das Paket herum aufgebaut", blickt Ashworth zurück. "Wenn ich meine Kundenbeziehung verstehen wollte, musste ich im Grunde die Informationen über jedes Paket analysieren, das der Kunde jemals aufgegeben hat."

Kurzfristige Zustellung auf Kundenwunsch

Mit dem neuen Datenmodell und einer GPS-­fähigen App, mit der die Zusteller ausgestattet sind, kann Hermes heute Sendungen auch kurz­fristig dorthin zustellen, wo der Kunde sie in Empfang nehmen möchte. Das betrifft nicht nur die postalische Adresse, sondern beispielsweise auch den Namen eines vertrauenswürdigen Nachbarn, der das Paket annehmen soll, oder einen sicheren Ort, an dem die Lieferung abgestellt werden kann, wenn der Empfänger unterwegs sein sollte.

"Das neue Datenmodell und die Einführung des in Übereinstimmung mit allen DSGVO-Regeln eingeführten Datenspeichers waren für unseren Erfolg entscheidend", sagt Ashworth. Damit sei es Hermes nun auch möglich, neue Dienstleistungen anzubieten, für die ein paar mehr Cent pro Lieferung berechnet werden können. Beispielsweise können Kuriere nun Pakete an andere, lokal zuständige Kuriere weiterreichen. Und Sendungen, die bereits auf dem Weg sind, lassen sich in eine nahegelegene Abholstation, ein Schließfach oder an eine andere Wunschadresse innerhalb einer Zustell­zone umleiten. "Wenn wir es früh genug wissen, können wir überall hin umleiten", freut sich Ashworth.

Im Innovationsinkubator wird getüftelt

Um solche neuen Business-Szenarien zu identifizieren und zu entwickeln, richtete Ashworth einen Innovationsinkubator ein, wo besonders schnell Anwendungen entwickelt werden können. Ein früher Erfolg war etwa der Service "Print in Store", der binnen fünf Tagen von der Idee zum funktionierenden Prototyp umgesetzt wurde. Dabei handelt es sich um ein Angebot für Kunden, die häufig Pakete an Online-Händler zurücksenden. Sie können in England in ausgewählte Paketshops gehen, mit geringem Aufwand an einem Automaten ein Etikett mit QR-Code ausdrucken und ihr Paket ohne Warte­zeiten aufgeben.

Die größeren Entscheidungen über neue digitale Produkte und Services fällt bei Hermes das sogenannte Strategic Development Board, das Ashworth selbst leitet. Dort reden Vorstandsmitglieder aus den Bereichen Operations, Marketing, Vertrieb und Customer Experience mit. Der CIO lenkt das Augenmerk aller stets auf den Kunden und seine Customer Journey, die für jeden der rund 500 Einzelhandelskunden, mit denen Hermes zusammenarbeitet, unterschiedlich sein kann.

"Nahezu jedes Projekt, das wir angehen, orientiert sich heute an der Kundenerfahrung", sagt der CIO. "Ich denke mehr über Produkte, Produktspezifikationen, Produktentwicklung und die Art und Weise des Verkaufs nach, als ich es jemals zuvor getan habe."