Kurzen Wartezeiten und niedrigen Zugangsbarrieren stehen Defizite bei der Patienteninformation gegenüber

Hohes Qualitätsurteil über das deutsche Gesundheitswesen

21.06.2006
Deutschland hat im internationalen Vergleich die kürzesten Wartezeiten, Laborbefunde sind verlässlicher und liegen schneller vor, Patienten haben mehr Möglichkeiten bei der Arztwahl, bekommen im Krankenhaus seltener eine Infektion und wer chronisch krank ist, wird häufiger und regelmäßiger vorbeugend untersucht. Dennoch sind Deutsche mit ihrem Gesundheitswesen weitaus unzufriedener als Patienten in anderen Ländern. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Umfrage unter schwerer erkrankten Erwachsenen in Kanada, Australien, Neuseeland, Großbritannien, den USA und Deutschland. Schwachstellen zeigt das deutsche Versorgungssystem laut Studie bei der Patienteninformation und bei der Koordination zwischen Leistungsebenen.

An der vom Commonwealth Fund (CWF) bereits seit 1999 durchgeführten Erhebung zur Qualität der Versorgung hat sich 2005 erstmals auch die Bundesrepublik beteiligt, wo das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Köln, die Studie leitete. Befragt wurde jeweils eine repräsentative Zufallsstichprobe von Erwachsenen, die einen schlechten Gesundheitszustand haben, an einer chronischen Erkrankung leiden oder sich in den vergangenen beiden Jahren einer schweren Operation hatten unterziehen müssen. In der Bundesrepublik beantworteten 1.474 Männer und Frauen am Telefon durchschnittlich 55 Fragen. Ungewöhnlich dabei war, dass alle, die angesprochen wurden, bereitwillig Auskunft gaben.

“Das Design der Studie erlaubt einen echten Benchmark-Vergleich zwischen den teilnehmenden Ländern“, erläutert IQWiG-Chef Peter Sawicki. „So war es möglich, konkrete und behebbare Versorgungsdefizite aufzudecken – und das national wie international. Deutschland schneidet in der Gesamtbilanz sehr gut ab, an einigen Stellen gibt es aber auch hierzulande Raum für Verbesserungen.“

Dass deutsche Patienten ihrem Gesundheitswesen in den meisten Einzelaspekten eine hohe Qualität bescheinigen, andererseits grundlegende Reformen für nötig halten, sei paradox. Deutsche Patienten scheinen mit ihrem Gesundheitssystem wesentlich kritischer umzugehen als Patienten in anderen Länder und vor allem die Nachteile wahrzunehmen.

Niedrige Zugangsbarrieren und kurze Wartezeiten

Ein dickes Plus verzeichnet die Bundesrepublik beim Zugang zu medizinischen Leistungen: Ambulante und stationäre Behandlungen sind gleichermaßen schnell und einfach zu bekommen - und das unabhängig von Einkommen, Versichertenstatus oder Wohnort. Nur ein Viertel der deutschen Befragten berichtete, dass es schwierig war, zu ungewöhnlichen Zeiten, wie in der Nacht oder in der Ferienzeit einen Arzt zu erreichen. In Neuseeland waren es 28%, in Großbritannien 38%, in Kanada 53%, in Australien 59% und in USA sogar 61%.

Deutschland hat mit Abstand die kürzesten Wartezeiten, lediglich im ambulanten Sektor hat Neuseeland noch bessere Werte. 22% der deutschen Patienten mussten weniger als eine Woche auf eine geplante OP warten – natürlich vor dem Streik der Klinik-Ärzte und -Mitarbeiter – , in den anderen Ländern waren es dagegen nur zwischen 2% (Neuseeland) und 13% (Australien).

Deutsche Patienten haben zudem bessere Wahlmöglichkeiten, wenn es darum geht, einen Operateur zu bekommen: Wie in den USA gaben 23% der Befragten an, keine Wahl gehabt zu haben. In Australien war das bei 34%, in Kanada bei 36% und in Großbritannien bei 44% der Patienten der Fall. Westdeutsche waren hier Ostdeutschen gegenüber im Vorteil (26% zu 15%).

Zeitnahe Befunde und niedrige Rate von Infektionen im Krankenhaus

Falsche oder verspätete pathologische Befunde sind in Kliniken hierzulande seltener als anderswo: Nur 9% der deutschen Befragten hatte diese Erfahrung machen müssen, in den Vergleichsländern waren es hingegen zwischen 14% und 23 %. Wechseln Patienten den Arzt oder werden sie in Kliniken eingewiesen, liegen Laborberichte oder Diagnosen in der Regel vor: Laut Umfrage fehlten dies Informationen bei 11% der deutschen Patienten, in den Vergleichsländern trat dieser Fall mit 12% bis 23% zum Teil deutlich häufiger auf.

Mängel in der ärztlichen oder pflegerischen Organisation sind häufig die Ursache, wenn sich Patienten bei Klinikkaufenthalten infizieren. In Deutschland ist dieses Risiko aber relativ gering: 3% der Interviewpartner berichten davon, in den angelsächsischen Staaten sind dagegen 7% bis 10% der Patienten betroffen.

Regelmäßige Checks für chronisch Kranke

Chronisch kranke Menschen werden in Deutschland besser mit präventiven Standardmaßnahmen versorgt: Kontroll-Untersuchungen und -Messungen, wie etwa die Bestimmung des Blutdruck oder der Cholesterinwerte werden häufiger und regelmäßiger vorgenommen als in den anderen Ländern. Allerdings erhalten deutsche Patienten seltener (37%) einen Plan, wie sie ihre Erkrankung zu Hause in eigener Regie behandeln sollen (übrige: 45% bis 65%).

Patienten werden nicht ausreichend informiert

Was Behandlungsfehler betrifft, liegt Deutschland im Mittelfeld: 19% der Patienten berichten darüber, was weniger ist als in den USA (22%) und etwa dem Anteil in den übrigen Ländern entspricht (17% bis 19%). Allerdings wurden hierzulande nur gerade einmal 15% der Betroffenen vom medizinischen Personal darüber informiert. In den anderen Ländern herrscht offenbar eine andere „Kultur“ im Umgang mit Fehlern, wo man in 23% bis 35% der Fälle offen über sie sprach.

Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist eindeutig eine der Schwachstellen im deutschen Gesundheitswesen – mit zum Teil nicht unerheblichen Folgen für die Patientensicherheit. 61% der Befragten gibt an, dass ihr Arzt sie nicht immer über Behandlungsalternativen aufklärt und nach ihrer Meinung befragt; in 46% der Fälle werden Behandlungsziele selten oder nie erklärt und 42% vermissen Hinweise auf mögliche Warnsymptome.

In den meisten anderen Ländern ist die Situation laut Umfragedaten allerdings ähnlich, einzig die neuseeländischen Ärzte scheinen etwas mitteilsamer zu sein. Dass sie „selten“ oder „nie“ über Nebenwirkungen von Medikamenten aufgeklärt werden, geben aber 38% der deutschen Patienten und damit mehr als in allen anderen Ländern (19% bis 32%) an. Zumindest in Deutschland werden derlei Informationsdefizite häufiger von Frauen als von Männern angemahnt.

Entlassungen aus Kliniken werden schlecht geplant

Die Mängel bei der Patienteninformation sind beachtlich, aber offenbar kein typisch deutsches Phänomen. Eine negative Sonderstellung im Sechs-Länder-Vergleich nimmt Deutschland allerdings im Bereich der Koordination von Leistungserbringern und -sektoren ein. Herausragend schlecht funktioniert vor allem das Entlassungsmanagement von Kliniken: Nur 39% deutscher Patienten wurden vorher über Warnsymptome aufgeklärt, erhielten einen Termin für eine Anschlussbehandlung und bekamen einen Ansprechpartner benannt. In den anderen Ländern waren es zwischen 58% und 65%. Zu höheren Wiedereinweisungsraten führte dies allerdings nicht. Im Gegenteil: Mit 10% liegt die deutsche Quote deutlich unter der der übrigen Länder (14% bis 20%).

Ausdruck von Koordinationsproblemen sind auch die sich in Deutschland häufenden Doppeluntersuchungen: Ein Fünftel der Patienten gab an, dass Ärzte überflüssige diagnostische Test angeordnet hatten, die bereits anderswo durchgeführt worden waren. Nur in den USA war dies annähernd so häufig der Fall (18%), in allen anderen Ländern lag die Quote mit 6% bis 11% erheblich tiefer.

Privat Versicherte werden nicht unbedingt besser behandelt

Deutsche privat Versicherte berichten öfter von Mehrfachuntersuchung als Mitglieder der GKV (33% zu 18%), was auf eine Überversorgung hinweisen kann. Gestützt wird diese Vermutung auch durch die bei privat Versicherten höhere Frequenz von geplanten Operationen: In dieser Gruppe waren 21% operiert worden, bei den gesetzlich Versicherten nur 15%. „Mehr“ heißt nicht immer „besser“, auch wenn sich Privatpatienten in der Umfrage subjektiv zufriedener über ihre Versorgung zeigen als GKV-Mitglieder. Denn Untersuchungen und Eingriffe können mit Risiken behaftet sein und wer sich überflüssigen Maßnahmen unterziehen muss, wird auch überflüssigen Risiken ausgesetzt. Allerdings bekommen privat versicherte Patienten noch schneller Termine für Facharzt- und Klinikbehandlungen als gesetzlich versicherte.

Paradox von hohem Versorgungsniveau und geringer Zufriedenheit

Zu den auffälligsten Befunden gehört zweifellos die Kluft zwischen subjektiv guter Bewertung in den meisten Einzelaspekten einerseits und dem reklamierten hohen Reformbedarf andererseits: Nur 16% der deutschen Patienten glauben, dass „alles in allem das System nicht schlecht funktioniert, und nur einige Kleinigkeiten zu ändern (sind), dann würde es noch besser funktionieren.“

Dies sind deutlich weniger als in allen übrigen Staaten, nämlich 30% in Großbritannien, 27% in Neuseeland, je 23% in den USA und in Australien und 21% in Kanada. Dagegen ist ein knappes Drittel (31%) der deutschen Interviewpartner der Ansicht, das Gesundheitssystem müsse von Grund auf verändert werden.

Ähnlich kritisch sind nur Amerikaner (30%) und Australier (26%). Patienten in Neuseeland (20%), Großbritannien (14%) und Kanada (17%) beurteilen ihr Gesundheitssystem weitaus positiver. Grundlegenden Reformbedarf sehen in Deutschland häufiger Patienten aus den neuen Bundesländern, gesetzlich Krankenversicherte, Patienten mit niedriger Schulbildung und solche, die mehr als 1.000 Dollar jährlich aus eigener Tasche zuzahlen müssen und bei denen Behandlungsfehler aufgetreten sind. Aber nicht nur bei der „Systemfrage“ sind deutsche Patienten kritischer. Um eine Bewertung ihrer individuellen Versorgung durch Hausärzte, Fachärzte und im Krankenhaus gebeten, vergeben sie seltener das Prädikat „exzellent“ oder „sehr gut“ als Patienten in den Vergleichsländern.

Andreas Voss, MBmedien GmbH