Warum Industrie 4.0 stockt

Inkompetenz, Mutlosigkeit, Führungsschwäche

01.06.2015 von Christoph Lixenfeld
Die deutsche Wirtschaft könnte massiv von Industrie 4.0 profitieren. Aber nur, wenn sie einige Hindernisse beseitigt, wie Studien von BCG, EY sowie VDI und Deloitte zeigen.
  • Der vierten Industriellen Revolution fehlen die Fachkräfte.
  • Dringend notwendig sind auch mehr Standards.
  • Gerade der Mittelstand könnte massiv von Industrie 4.0 profitieren.

Die Zahlen sind beeindruckend: 390.000 neue Jobs sollen in den kommenden Zehn Jahren allein in Deutschland durch die Digitalisierung von Produktionsprozessen entstehen, so eine aktuelle Studie der Boston Consulting Group (BCG). Investitionen von 250 Milliarden Euro werden demnach ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von einem Prozent bringen.

Erfüllen kann sich dieses Heilsversprechen aber nur, wenn es gelingt, eine Reihe von Problemen zu lösen, die kompromissloser Digitalisierung bisher im Wege stehen.

Eines dieser Hindernisse nennt die erwähnte BCG-Studie ("Industry 4.0: The Future of Productivity and Growth in Manufacturing Industry.") selbst: "Ohne IT- und Softwarekompetenz verliert Deutschland den Vorsprung bei Automatisierung und Arbeitsplätzen", so Michael Rüßmann, BCG-Partner und einer der Studienautoren.

Schau mit in die Augen: Ein Ziel von Industrie 4.0 ist die direkte Kommunikation zwischen Maschinen.
Foto: bugphai - Fotolia.com

Will sagen: Nur wenn genug Fachkräfte vorhanden sind, die das Thema wirklich beherrschen, kann die Prognose eintreten. Danach sieht es aktuell nicht aus. Laut einer Umfrage von Ernst & Young (EY) beklagen deutsche Firmen öfter als solche aus anderen Ländern, ihnen fehle es an Geld, Personal und Know-how, um ihre Digitalisierungsziele zeitnah umzusetzen.

Die Berater von EY hatten 1025 Unternehmen aus zwölf Ländern über Soll und Ist der Digitalisierung in ihrem Haus gefragt. Vor allem bei den Deutschen zeigte sich dabei ein Dilemma: Die Notwendigkeit und die Bedeutung von mehr Digitalisierung haben alle begriffen, aber die Umsetzung stockt aus den genannten Gründen.

IT-Know-how eigener Mitarbeiter stärken

Zwar ging es in der Untersuchung nicht nur um das produzierende Gewerbe, aber ihre Ergebnisse sind auf das engere Thema Industrie 4.0 - also auf die Digitalisierung und Vernetzung von Produktionsprozessen - übertragbar. Schließlich sind Fachkräfte, die den IT-Einsatz in Fabriken konzipieren und steuern können, noch knapper als entsprechende Experten in anderen Branchen.

Warum Sie sich jetzt um Industrie 4.0 kümmern sollten
Warum Sie sich jetzt um Industrie 4.0 kümmern sollten
Industrie 4.0 bietet zahlreiche Chancen, um die Herstellungsprozesse nicht nur nachhaltig zu verbessern, sondern einen Quantensprung innerhalb der Produktion zu erreichen.
Individualisierung von Kundenwünschen ...
... durch Rentabilität bei der Produktion von Kleinstmengen (Losgröße 1), Berücksichtigung individueller und kurzfristiger Kundenwünsche beim Design sowie in der Planung und Produktion.
Flexibilisierung und Verkürzung ...
... der Lead Time und Time to Market.
Dynamische Geschäftsprozess-Gestaltung ...
... durch Verkürzung von Entwicklungszeiten und Ad-hoc-Vernetzung von cyber-physischen Produktionssystemen.
Schnelle, flexible Reaktion auf Veränderungen ...
... wie Ausfälle von Zulieferern oder kurzfristige Erhöhung von Liefermengen. - Durchgehende (digitale) Transparenz in Echtzeit, dadurch schnelle und flexible Entscheidungen sowie globale Optimierungen in Entwicklung und Produktion.
Optimierung der Produktion ...
... hinsichtlich Ressourcen- und Energieverbrauch sowie Emissionen.
Predictive Maintenance ...
... im Produktionsbereich (Vorhersage und Optimierung von erforderlichen Wartungsprozessen).
Innovative Geschäftsmodelle, ...
... Dienstleistungen und B2B-Services durch Themen wie Big Data und RFID-Chips, Angebote für komplette Lösungen und Rundum-Dienstleistungen.
Demografieorientierte Arbeitsgestaltung ...
... durch das Zusammenspiel zwischen Mensch und technischen Systemen.
Verbesserte Work-Life-Balance ...
... aufgrund höherer Flexibilität in der Arbeitsorganisation.

Aus diesem Grund raten die Autoren der eingangs zitierten BCG-Studie, die Industrie solle in Zukunft eher systematisch das IT-Know-how der eigenen Mannschaft stärken, anstatt zu sehr auf ideale Bewerber von außen zu hoffen.

Das gelte auch deshalb, weil bei der Produktionsplanung und der damit verbundenen Digitalisierung von Prozessen Software- und IT-Unternehmen den Industrieausrüstern und Maschinenbauern zunehmend Konkurrenz machen.

Bosch ist in der deutschen Industrie führend beim Thema Industrie 4.0.
Foto: Bosch

Markus Lorenz von BCG: "Bei Partnerschaften mit IT-Unternehmen muss die deutsche Industrie deshalb darauf achten, ihr Anwendungs- und Fertigungs-Know-how zu schützen. Außerdem sollten die Unternehmen eigene Kompetenzen bei der Softwareentwicklung ausbauen."

Mittelstand leidet unter fehlenden Standards

Verglichen mit anderen Ländern, so BCG, ist die deutsche Industrie beim Thema Vier-Punkt-Null allerdings gut aufgestellt und könnten International sogar eine Führungsrolle übernehmen.

Vorausgesetzt - und das ist der zweite Industrie 4.0-Hemmschuh - es entstehen zeitnah dringend benötigte Standards. "Deutsche Unternehmen müssen hier noch mehr Akzente setzen", schreibt BCG dazu.

Auf der Suche nach solchen Standards für die Kommunikation zwischen Maschinen hat das US-geführte Industrial Internet Consortium (IIC) die deutsche ‚Plattform Industrie 4.0‘ zuletzt immer mehr abgehängt.

Negativ wirkt sich hier vor allem die sprichwörtlich europäische Uneinigkeit aus: Eine Reihe von Unternehmen ist Mitglied in beiden Konsortien; was fehlt, ist ein koordiniertes, gemeinsames Vorgehen auf deutscher oder europäischer Ebene.

Investitionen rechnen sich schnell

Ärgerlich ist das auch deshalb, weil gerade mittelständische Industrieunternehmen auf einheitliche Kommunikationsstandards und auf Interoperabilität im Produktionsverbund mit anderen, in der Regel größeren Firmen angewiesen sind.

Notwendigkeiten und Chancen von Industrie 4.0 sind für viele Manager noch immer ein Rätsel.
Foto: Sergey Nivens - Fotolia.com

Und weil es viel zu gewinnen gäbe: Investitionen in Industrie 4.0-Projekte amortisieren sich für Mittelständler im Durchschnitt bereits nach sechs Jahren.

Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Instituts für Innovation und Technik des VDI. Und sie stellte fest, dass Mittelständler trotz der großen Chancen eher zögerlich agieren, weil sie die für Industrie 4.0-Lösungen notwendigen Investitionen tendenziell über, das daraus resultierende Umsatzwachstum dagegen unterschätzen.

Führungsschwäche bei Managern

Digitalisierung und Industrie 4.0 brauchen eben Mut und den richtigen Mindset. Davon sind auch die Verantwortlichen von Deloitte Digital (eine Beratung in Sachen Digitalisierung) und dem Personalberater Heads! überzeugt.

Industrie 4.0 - So sieht die Fabrik der Zukunft aus
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Neue Organisationsformen, innovative Technologien und ein kultureller Wandel – ERP-Anbieter IFS erläutert, welche Trends die Produktion von morgen gestalten.
Stärkere Lokalisierung
Fertigungsunternehmen werden künftig noch wesentlich stärker ausdifferenziert und verteilter sein. Kleinere, aber dafür mehr Standorte sorgen dann dafür, dass sie einen besseren Zugang zu lokalen Ressourcen haben und auf neue Marktanforderungen direkt vor Ort reagieren können. Das ermöglicht ihnen, ihre Supply Chains zu optimieren, agiler zu sein und die Lieferzeiten deutlich zu verkürzen. Daneben wird es aber auch weiterhin sehr große Fertigungsstandorte geben, an denen die Unternehmen ihre größten und wichtigsten Teile herstellen oder montieren.
Fortschreitende Digitalisierung
Durch die stärkere Lokalisierung der Supply Chain spielt die Informationstechnologie in Zukunft eine noch größere Rolle, als das in der Branche ohnehin schon der Fall ist. Ein Beispiel dafür ist der 3D-Druck. Er wird es etwa ermöglichen, dass ein lokaler Vertriebsstandort zumindest bei kleineren Ersatzteilen einfach die Blaupause herunterlädt und sie direkt vor Ort druckt. Darüber hinaus wird die zunehmende Verbreitung von Cloud Computing und des Internets der Dinge eine neue Generation intelligenter Objekte hervorbringen, die Fertiger mit Echtzeitdaten versorgen können. Sensoren von Anlagen und Maschinen, die bei Kunden installiert sind, liefern den Herstellern dann beispielsweise selbstständig wertvolle Informationen für die Wartung und Instandhaltung, mit deren Hilfe sich bessere After-Sales-Services erbringen lassen.
Ausweitung von Kooperationen
Produktionsunternehmen gehen künftig deutlich mehr Partnerschaften ein und arbeiten wesentlich enger zusammen, als sie das heute tun. Zum einen werden sie Partnerschaften mit Universitäten schließen, um sich frühzeitig die besten Talente zu sichern. Aber auch untereinander werden sie stärker kollaborieren. In ersten Ansätzen hat dies beispielsweise der britische Hersteller von Transportverpackungen Loadhog bereits realisiert. Er hat mit einem seiner wichtigsten Zulieferer ein Austauschprogramm für Auszubildende ins Leben gerufen, von dem beide Unternehmen profitieren.
Flexiblere Konfigurierbarkeit
Die Fertigungsstandorte werden immer häufiger so konzipiert sein, dass sich ihre Strukturen schneller und flexibler an neue Marktanforderungen anpassen lassen. Die Elemente von Werkstätten und Produktionshallen – vom einzelnen Arbeitsplatz bis hin zu den Maschinen – sind heute meist noch sehr starr organisiert. In Zukunft werden sie aber zahlreiche unterschiedliche "Konfigurationen" ermöglichen, die jeweils ideal zu den konkreten Anforderungen passen.
Kultureller Wandel
Mit den genannten Änderungen einher geht auch ein Wandel der Unternehmenskultur. Die Außenwelt wird Fabriken nicht länger als staubige und ölverschmierte, sondern vielmehr als offene und stark vernetzte Orte wahrnehmen. Diese Entwicklung hat bereits begonnen und so erinnern viele Fabriken den Betrachter heute schon stärker an einen Bürokomplex als an eine klassische Fertigungsstätte.

Gemeinsam haben sie die Studie "Überlebensstrategie Digital Leadership" erstellt, aus deren Ergebnissen sich die dritte potenzielle Bremse für mehr und erfolgreichere Digitalisierungsprojekte ableitet. Sie lautet: Führungsschwäche.

Digitale Transformation funktioniere nur mit aktiver Gestaltung durch die passenden Manager. Über die, so die Studie, verfügt aber nur eine Minderheit der Unternehmen. "Gewinner werden diejenigen sein, die Paradigmenwechsel im eigenen Unternehmen als Standard etablieren und immer wieder neue Geschäftsmodelle erschaffen", so Andreas Harting, Partner bei Deloitte Digital.