Offensive vs. defensive IT-Strategien in der Praxis

IT-Strategien richtig überwachen - Teil 2

21.08.2006 von Richard Nolan und F. Warren McFarlan
IT-Investitionen zu steuern ist eine schwierige Aufgabe. Unternehmen sind von der Technik abhängig, und gleichzeitig nimmt deren Komplexität zu. Eine Kontrolle der IT-Aktivitäten auf Aufsichtsratsebene ist notwendig. Aber sie muss zur Firmenstrategie passen. In zweiten Teil der Serie zeigen die Autoren, welche Vor- und Nachteile eine defensive oder offensive Ausrichtung der IT-Strategie haben.

Es ist hilfreich, anhand zweier Fragen zu beurteilen, wie stark sich der Aufsichtsrat engagieren sollte. Erstens: Wie abhängig sind Unternehmen von kostengünstigen, störungsfreien, sicheren und zuverlässigen Technologiesystemen? (Wir nennen dies "defensive" IT.)

Zweitens: Wie abhängig ist die Wettbewerbsposition des Unternehmens von Systemen, die zusätzlichen Wert durch Dienstleistungen und Produkte stiften oder die für das Reagieren auf Kundenwünsche entscheidend sind (von uns "offensive" IT genannt)?

Anhand dieser Fragen lassen sich Unternehmen in die strategische Matrix zur Messung des IT-Einflusses einordnen. Entweder ist das Thema Technologie eine Routineaufgabe, die das bereits bestehende Audit Committee erledigen kann, oder es gehört zu den Kernaufgaben eines Aufsichtsrats und erfordert intensive Überwachung und Unterstützung.

Sieht das Unternehmen das Thema IT aus einer eher defensiven Warte, geht es im Wesentlichen um Zuverlässigkeit. IT-Systeme zu pflegen und am Laufen zu halten ist wichtiger für das operative Geschäft als dafür, die Konkurrenz zu überholen.

Effiziente IT-Lösungen auf allen Ebenen wichtig

American Airlines setzt auch noch nach fast 40 Jahren auf sein Reservierungssystem Sabre.
Foto: Flughafen Düsseldorf

Ein bekanntes defensives Unternehmen ist American Airlines. Der Konzern entwickelte in den späten 60er Jahren das Reservierungssystem Sabre. Damals galt das System noch als Innovation und als strategischer Vorsprung.

Heute gehört es zum Standard im operativen Geschäft von American Airlines: Stürzt das System ab, funktioniert bei der Fluggesellschaft überhaupt nichts mehr. Das Top-Management solcher Unternehmen muss sich darauf verlassen können, dass die Systeme hundertprozentig gegen Ausfälle - Computerfehler, Stromausfälle, Hackerangriffe - geschützt sind und dass die Kosten überschaubar bleiben.

Bei der eher offensiven Betrachtungsweise sind strategische Themen genauso wichtig wie die Zuverlässigkeit des Systems, wenn nicht wichtiger. Offensive IT-Projekte sind in der Regel ehrgeizig und risikoreich, da dafür oft erhebliche Umstrukturierungen nötig sind.

Unternehmen müssen offensiv vorgehen, wenn sie ihre technologische Ausrichtung verändern müssen, um wettbewerbsfähiger zu werden oder um sich als Branchenführer zu etablieren. Auf Grund der Mittel, die für eine offensive Position erforderlich sind, müssen finanziell starke und wettbewerbsfähige Unternehmen effiziente IT-Lösungen auf allen Ebenen einsetzen.

Wal-Mart zum Beispiel ersetzt Barcodes durch Etiketten, die über Funk die Preisinformation übermitteln (RFID). Dadurch lässt sich eine effiziente Steuerung logistischer Abläufe vom Zulieferer bis ins Lager erreichen. Personal zum Scannen der Ware ist nicht mehr nötig.

Firmen können einen defensiven oder einen offensiven IT-Strategieansatz verfolgen. Wir nennen diese Ansätze "Modi". Im Folgenden wollen wir uns die unterschiedlichen Modi näher ansehen.

Supportmodus (defensiv)

Firmen in diesem Modus stellen geringe Anforderungen an die Zuverlässigkeit und die strategische Ausrichtung ihrer IT. Sie soll in erster Linie die Mitarbeiter bei ihrer Arbeit unterstützen.

Das spanische Bekleidungsunternehmen Zara zum Beispiel fing als kleiner Einzelhändler an. Immer noch hält das Management die Steuerung seiner Supply-Chain streng in eigener Hand. Zara entwirft die Ware selbst, stellt sie her und vertreibt sie.

IT kommt in diesem Bereich zwar zum Einsatz, das Unternehmen würde aber nicht viel verlieren, wenn das System ausfiele. Operative Kernsysteme arbeiten in der Regel sequenziell. Fehler werden manuell behoben, und auch die Sicherungsmechanismen laufen nicht automatisch ab. Kunden und Zulieferer haben keinen Zugang zu internen Systemen.

Unternehmen im Supportmodus können wiederholt bis zu zwölf Stunden ohne ernsthafte Umsatzeinbußen auf IT-Systeme verzichten. Auch hoch leistungsfähige Internetverbindungen sind nicht entscheidend.

Bei solchen Unternehmen kann das Audit Committee die IT-Vorgänge überwachen. Die Mitglieder müssen sich vor allem die folgenden Fragen stellen: "Sollten wir im Supportmodus bleiben oder sollten wir unsere IT-Strategie ändern, um mit der Konkurrenz Schritt zu halten oder sie zu überholen?" und "Investieren wir das Geld vernünftig und jagen nicht nur Technologietrends hinterher?" Bei diesem Modus heißt die Maxime "Kein Geld verschwenden".

Fabrikmodus (defensiv)

Unternehmen in diesem Modus brauchen außerordentlich zuverlässige Systeme, sind aber nicht unbedingt auf neueste Technik angewiesen. Das Geschäft dieser Firmen gleicht einer Fabrik: Fällt das Fließband aus, kommt die Produktion zum Erliegen. In diese Gruppe gehören Fluggesellschaften und andere Unternehmen, die auf schnelle und sichere Datenübertragung in Echtzeit angewiesen sind.

Diese Unternehmen sind weitaus abhängiger vom störungsfreien Betrieb ihrer Systeme als Firmen im Supportmodus, da die meisten ihrer Kernsysteme online arbeiten. Ihr Umsatz sinkt unmittelbar, wenn die Systeme auch nur für eine Minute ausfallen; eine Rückkehr zu manuellen Verfahren ist schwierig, wenn nicht unmöglich.

Unternehmen im Fabrikmodus verlassen sich in der Regel auf ihre externen Netze, um mit Kunden und Zulieferern in Kontakt zu treten. Unternehmen in diesem Modus sind kaum daran interessiert, neue Technologien als Erste einzusetzen. Management und Aufsichtsrat müssen aber innovative Verfahren und das Verhalten der Wettbewerber aufmerksam beobachten, weil diese Faktoren einen aggressiveren IT-Kurs erfordern könnten.

Da es für diese Firmen entscheidend ist, dass die IT-Systeme störungsfrei laufen, muss der Aufsichtsrat sicherstellen, dass Notfallsysteme und Sicherheitsmaßnahmen vorhanden sind. Das Audit Committee eines Klinikums an der Ostküste der USA veranlasste zum Beispiel vor kurzem eine vollständige Überprüfung dieser Systeme und des operativen Umfelds, um sicherzustellen, dass geeignete Vorkehrungen getroffen sind.

Die Studie war teuer, aber notwendig, da das Leben der Patienten auf dem Spiel stand, wenn die Systeme ausfielen. In diesem Modus heißt die Maxime "Nicht am falschen Ende sparen".

Umstrukturierungsmodus (offensiv)

Unternehmen, die gerade umstrukturieren, setzen oft auf neue Technologien. In diesem Modus betragen die Ausgaben für IT in der Regel mehr als die Hälfte der gesamten Investitionen und 15 Prozent der Gesamtkosten. Neue Systeme versprechen erhebliche Verbesserungen bei Prozessen und Services.

Außerdem sinken die Kosten, und das Unternehmen kann eine bessere Position im Wettbewerb erlangen. Gleichzeitig legen diese Unternehmen verhältnismäßig wenig Wert auf Zuverlässigkeit, wenn es um bereits bestehende Systeme geht.

Wie beim Supportmodus können Firmen mehrmalige Ausfälle von bis zu zwölf Stunden ohne ernsthafte Folgen verkraften; wichtige Tätigkeiten werden weiterhin sequenziell verarbeitet. Sind die neuen Systeme aber erst einmal installiert, können diese Firmen nicht mehr zu manuellen Systemen zurückkehren, da alle Vorgänge in Datenbanken erfasst sind.

Unternehmen landen in der Regel im Umstrukturierungsmodus, wenn sie ein größeres IT-Projekt in Angriff nehmen und ihre Prozesse neu einrichten müssen. Oft entscheidet das Management in dieser Phase auch, ob es einen wesentlichen Teil der Unternehmensleistungen auslagert.

Die meisten Firmen bleiben nicht lange in diesem Modus. Ist die Umstrukturierung abgeschlossen, wechseln sie in den Fabrikmodus oder den strategischen Modus. American Airlines arbeitete nach dem Umstrukturierungsmodus, während die Fluggesellschaft das Sabre-System entwickelte. Heute funktioniert das Unternehmen nach dem Fabrikmodus.

Ebenso agierte der kanadische Zement- und Betonhersteller St. Marys Cement im Supportmodus, bis er damit begann, seine Fahrzeuge mit dem Navigationssystem GPS auszustatten. In dieser Zeit trat das Unternehmen vorübergehend in den Umstrukturierungsmodus ein.

Kontrolle durch den Aufsichtsrat ist entscheidend, wenn sich Unternehmen im Umstrukturierungsmodus befinden. Es gilt, strategische IT-Pläne im Rahmen des festgelegten Zeitplans und Budgets umzusetzen, insbesondere, wenn daraus ein Wettbewerbsvorteil entstehen soll. In diesem Fall heißt die Maxime "Nichts falsch machen".

Strategischer Modus (offensiv)

Für manche Unternehmen stehen Innovationen an erster Stelle. Neue Technologien spielen nicht nur eine Rolle für die strategische Marktpräsenz der Unternehmen, sondern auch für die täglichen Abläufe. Firmen im strategischen Modus brauchen ein genauso zuverlässiges System wie Unternehmen im Fabrikmodus, aber sie ergreifen zusätzlich jede Gelegenheit, um Prozesse und Services zu optimieren, Kosten einzusparen und Wettbewerbsvorteile aufzubauen. Wie bei der Umstrukturierung geben sie erhebliche Summen für IT aus.

Nicht jedes Unternehmen will oder muss in diesem Modus sein. Manchmal zwingt der Wettbewerbsdruck Firmen dazu.

Nehmen wir Boeing , ein Unternehmen, das die Produktion von Maschinen für die zivile Luftfahrt dominierte, bis es von Airbus überholt wurde. Das Boeing-Management war überzeugt davon, dass die Zukunft davon abhing, eine neue Maschine für die zivile Luftfahrt zu konstruieren, zu vermarkten und erfolgreich in den Markt einzuführen.

Deshalb startete Boeing ein ehrgeiziges Projekt, das das Unternehmen an die Spitze des Marktes bringen sollte. Die für 2008 geplante neue Boeing 787 wird mit einer leichten Kohlefaserbeschichtung ausgestattet sein. Da dieser Werkstoff zum ersten Mal in großem Stil in einem Passagierflugzeug zum Einsatz kommt, wird eine spezielle lernfähige Software in Rumpf und Flügeln integriert, um konstant Belastungen zu messen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen.

Die Boeing 787 wird durch das größte Projekt-Management weltweit hergestellt und zusammengebaut werden. Dieses Management wird gleichzeitig tausende Computer koordinieren und eine integrierte Versorgungskette mit hunderten von internationalen Partnern automatisieren.

Jeder Zulieferer wird Komponenten mit Hilfe speziell ausgestatteter Flugzeuge zu Boeings Fertigung in Everett/Washington schicken, wo die 787 in nur drei Tagen zusammengebaut wird. Durch die schnelle Auslieferung bleiben die Kosten niedrig. Das Flugzeug ist wie ein Puzzle, dessen Teile auf Anhieb perfekt ineinander greifen müssen. Das Projekt macht Boeing sowohl operativ als auch strategisch abhängig von seiner IT.

Wie für Unternehmen im Umstrukturierungsmodus, ist die Überwachung der IT auf Aufsichtsratsebene im strategischen Modus von entscheidender Bedeutung. Firmen brauchen einen starken IT-Ausschuss mit mindestens einem Experten für dieses Sujet. Die Maxime für den strategischen Modus heißt: "Ausgeben, was nötig ist, bei unerbittlicher Kontrolle der Ergebnisse".

Welche Aufgaben ein Unternehmen erledigen sollte, wenn es einen Überblick über seine IT-Aktivitäten behalten will, hängt vom Modus ab, in dem es sich befindet. Unabhängig von seinem Geschäftsmodell sollte jedes Unternehmen seine Aktivitäten unter IT- Gesichtspunkten gründlich analysieren. Dadurch erhält es eine viel konkretere Vorstellung davon, welche Faktoren wichtig für den Erfolg sind.

Richard Nolan ist Professor für Wirtschaft an der Harvard Business School in Boston und Professor für Management and Organization an der University of Washington Business School in Seattle. F. Warren McFarlan ist Professor an der Harvard Business School.

Bereits erschienen in dieser Reihe sind folgende Artikel:

IT-Strategie richtig überwachen - Serie - Teil 1