Neuer Premier in London

Kommt nun der Chaos-Brexit zu Halloween?

22.07.2019
Boris Johnson geht im Rennen um das Amt des britischen Premierministers am Dienstag wohl mit großem Abstand als Sieger ins Ziel. Der Brexit-Hardliner verlangt Zugeständnisse von der EU, doch seine Forderungen scheinen unerfüllbar. Was nun, Britannia?

"Verschwenden Sie diese Zeit nicht." Mit diesen Worten warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk die Briten, als der Brexit im April zum zweiten Mal verschoben wurde. In der neuen Frist bis 31. Oktober sollte das britische Parlament eine Mehrheit für das Abkommen zum EU-Austritt finden - so stellte sich die Europäische Union das zumindest vor. Doch in den drei Monaten seither sind die Briten keinen Schritt vorangekommen.

Unter einem Premier Johnson wird ein chaotischer Brexit befürchtet.
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An diesem Mittwoch geht Premierministerin Theresa May, die den Brexit-Vertrag ausgehandelt hatte und drei Mal im Unterhaus damit krachend gescheitert war. Für sie kommt voraussichtlich der Brexit-Hardliner Boris Johnson, der in Umfragen bei der Parteientscheidung weit vor seinem Konkurrenten Jeremy Hunt liegt.

Johnson macht vollmundige Versprechen für Änderungen am Abkommen - die die EU jedoch kategorisch ausschließt. Ein Brexit ohne Vertrag am 31. Oktober mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche ist daher immer wahrscheinlicher. Johnson und auch Hunt wollen das in Kauf nehmen.

Hauptproblem Backstop

Als Hauptproblem beim Brexit-Deal haben die beiden den sogenannten Backstop ausgemacht. Das ist eine Garantieklausel, die verhindern soll, dass zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland wieder Grenzkontrollen eingeführt werden müssen. Denn das könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren.

Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange Teil einer Zollunion mit der EU bleibt, bis das Problem auf andere Art gelöst ist. Für Nordirland sollen zudem teilweise Regeln des Europäischen Binnenmarkts gelten. Die Klausel sei ein "Instrument der Einkerkerung" Großbritanniens in Zollunion und Binnenmarkt, polterte Johnson kürzlich bei einem Radioduell. Er verlangt, den Backstop zu streichen und die irische Grenzfrage erst nach dem Austritt in einem künftigen Freihandelsabkommen mit der EU zu lösen. "Der Backstop ist tot", versicherte auch Hunt.

Die EU versteift sich auf die Gegenposition. "Das Austrittsabkommen lebt", sagte der deutsche Europastaatsminister Michael Roth. Und auch die EU-Kommission wiederholt stets das Mantra: Es wird nicht nachverhandelt. Vage Hoffnung hat man in Brüssel, dass die britischen Kandidaten im Wahlkampf nur Schaum schlagen. "Das hat sich zu einem politischen Schmierentheater entwickelt", meint zum Beispiel die Grünen-Europaabgeordnete Terry Reintke. "Da wird viel geblufft."

Rhetorik wird härter

Die Rhetorik wird auch in Brüssel härter. Die Rede ist von einer "Fantasiewelt" der Kandidaten. "In der echten Welt bedeuten (die Ideen der Kandidaten) einen No Deal mit verheerenden Konsequenzen", sagte ein EU-Diplomat. "Wenn Großbritannien das will, wird es das bekommen. Wenn nicht, muss es der Realität ins Auge blicken und sich entsprechend verhalten."

Der Kandidat, der sich durchsetzt, wird von Königin Elizabeth II. am Mittwoch mit der Regierungsbildung beauftragt. Höchstwahrscheinlich wird es Johnson. Er übernimmt eine Regierung, die mit gerade einmal drei Stimmen nur über eine hauchdünne Mehrheit im Parlament verfügt.

Wie groß das Misstrauen gegen Johnson ist, zeigte eine Abstimmung am vergangenen Donnerstag. Die Abgeordneten votierten überraschend deutlich für einen Gesetzeszusatz, der es Johnson sehr schwer machen würde, das Parlament für eine No-Deal-Lösung vorübergehend auszuschalten.

Worauf gründet Johnson dann seinen Optimismus? Der frühere Londoner Bürgermeister und Ex-Außenminister setzt wohl darauf, dass die EU einknicken wird, wenn klar wird, wie ernst er es mit einem No Deal meint. Vor allem das EU-Mitglied Irland, das für die Grenzkontrollen zum britischen Nordirland sorgen müsste, werde nachgeben, hoffen die Johnson-Anhänger.

Bisher deutet nichts darauf hin. Die EU beharrt auf der Linie, dass bestenfalls die Politische Erklärung über die künftigen Beziehungen beider Seiten noch zur Debatte steht. Es wird erwartet, dass Johnson im Sommer durch europäische Hauptstädte touren wird, um die bisher felsenfeste Front der EU aufzumeißeln. Weit oben auf der Liste stehen neben der irischen Hauptstadt Dublin Berlin und Paris.

Parlament in der Zwickmühle

Die Möglichkeiten des Parlaments in London sind beschränkt. Nur einen Tag nach Johnsons Amtsantritt beginnt die Sommerpause. Zum Showdown dürfte es erst im September oder sogar im Oktober kommen. Die Abgeordneten müssten die Kontrolle über den Parlamentskalender an sich reißen und die Regierung per Gesetz zu einer weiteren Verschiebung des EU-Austritts zwingen. Gelänge das nicht, bliebe den proeuropäischen Rebellen in der Tory-Fraktion nur noch, ihre eigene Regierung zu stürzen. Die Hemmschwelle ist hoch.

Allerdings haben etliche EU-Rebellen die Nase gestrichen voll. Der besonnene Finanzminister Philip Hammond, eher ein Mann der leisen Töne, hat wie Justizminister David Gauke am Wochenende bereits den Rücktritt angekündigt, sollte Johnson Premier werden. Weitere Minister dürften folgen. Hammond könnte sogar ein Misstrauensvotum gegen Johnson unterstützen. Er schließt "im Moment gar nichts aus".

Angesichts der verfahrenen Situation im Parlament gilt eine baldige Neuwahl inzwischen als wahrscheinlich. Die Frage ist, ob sie vor oder nach dem EU-Austritt stattfindet. Aus Teilen der Staatengemeinschaft gab es bereits Signale, dass der Brexit-Termin am 31. Oktober für eine Wahl noch einmal verschoben werden könnte.

"Ich bin bereit zu einer weiteren Verschiebung des Austrittsdatums, wenn aus einem guten Grund mehr Zeit nötig ist", sagte die künftige EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Die Aussicht ist ja auch nicht verlockend, zum Amtsantritt 1. November als Krisenmanagerin von Spannungen auf der irischen Insel, Lastwagenstaus am Ärmelkanal und Produktionsausfällen in der Industrie beginnen zu müssen.

Allerdings hat Johnson eine Verschiebung des Brexit-Datums ausgeschlossen. Wie sein Konkurrent Hunt will er auch keine Wahl vor dem Austritt, aus Furcht vor dem Verlust von Wählerstimmen an die Brexit-Partei von Nigel Farage. Andererseits könnte Johnson den von ihm angedrohten No Deal kaum ohne klare Mehrheit im Parlament durchziehen. Nur ein neues Mandat der Wähler könnte wohl einen solch drastischen Schritt absichern. (dpa/ad)