Radikale Migration bei VBG

Linux für 2000 Mitarbeiter

02.12.2004 von Heinrich Seeger
Die Verwaltung-Berufsgenossenschaft (VBG) hat ihre IT auf Open-Source-Produkte umgestellt. Der Effekt: höhere Qualität der meisten IT-Services und deutlich geringere Kosten. Das Projekt wird auf den Hamburger IT-Strategietagen vorgestellt.

SO KANN ES GEHEN in der IT einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft: Da macht man ein Großprojekt, und ein paar Monate später steht der Bundesrechnungshof vor der Tür – weil der Sparerfolg so groß war und die Prüfer Argumente sammeln, um andere öffentliche Einrichtungen in dieselbe Richtung zu drängen. Passiert ist das Bernd Kieseler, dem Leiter DV-Informationswesen in der Hauptverwaltung der VBG. Die Berufsgenossenschaft der Dienstleistungsberufe, die mit knapp 2000 Mitarbeitern mehr als 500000 Unternehmen mit gut 6,5 Millionen Beschäftigten versichert, hat auf einen Schlag 17 Prozent aus ihrem IT-Haushalt herausgebrochen – mit einer radikalen Umstellung der Systeme und Anwendungen auf Open- Source-Software.

Bis Anfang 2003 betrieb die VBG einen IBM-Großrechner mit dem OS/390-Betriebssystem, 120 Windows- Server (NT und 2000) und rund 2400 PC unter Windows 2000. Die Bürokommunikation wurde mit Microsoft Exchange und Outlook erledigt, die Office- Anwendungen mit dem gleichnamigen Produkt, ebenfalls von der Gates-Company. Zentrales Anwendungssystem war das in Cobol programmierte Paket „BG/Standard“.

Bei den strategischen IT-Zielen im Zusammenhang mit der radikalen Umstellung von Systemen und Anwendungen, die vom VBG-Vorstand im Oktober 2002 festgelegt wurden, stand ein Punkt ganz oben an: Kostenreduzierung – gefolgt von Effizienzsteigerung sowie der Vereinfachung von Netzadministration und Systemarchitektur. Das hört sich sehr vertraut an, auch für in zahllosen Sparrunden gestählte Business- CIOs. Bernd Kieseler ist ohnehin davon überzeugt, dass sich der öffentliche Sektor und die Privatwirtschaft in Sachen IT nicht prinzipiell unterscheiden: „Es gibt keine öffentlich-rechtliche Datenverarbeitung.“

So ganz stimmt das freilich nicht; Kieselers Spending- Möglichkeiten speisen sich aus einem Haushalt, wie er öffentlich-rechtlichen Körperschaften zu Eigen ist. Mit einem Controlling, das die Kosten mit den Leistungen der IT vergleicht, braucht er sich nicht herumzuärgern. „Wenn es nach mir ginge, wäre das anders“, wendet Kieseler allerdings ein.

Im März 2003 war die Entscheidung pro Open Source gefallen, und das Projekt konnte starten. „Ich war zu der Zeit kein Linux-Apostel“, sagt Kieseler heute. Es waren vor allem Kostengründe, die die VBG dazu bewogen, sich für das quelloffene Betriebssystem in Form der deutschsprachigen Suse-Distribution zu entscheiden. Allein für Lizenzkosten musste Kieseler bis dato pro Arbeitsplatz 200 bis 250 Euro jährlich aufwenden, insgesamt also rund eine halbe Million Euro. Als ärgerlich empfand man bei der VBG auch die Lizenzpolitik von Microsoft, das Windows-Updates zuteilt, auch wenn sie aus Anwendungssicht nicht erforderlich sind.

Kaum Variation am Frontend

Im Frühjahr und Sommer 2003 durchlief das Projekt die Konzeptions- und Testphase. Um die wenig IT-affinen Sachbearbeiter sanft an die neue Welt heranzuführen, wurde eigens für die VBG ein Trainingsprogramm entwickelt. Zusätzlich gab es vor der Einführung der neuen Systeme eintägige Schulungen von internen Multiplikatoren. Erleichtert wurde der Umstieg zusätzlich dadurch, dass das zentrale Anwendungsprogramm BG/Standard, das von nahezu 90 Prozent aller Mitarbeiter genutzt wird, sich in der neuen, mit Java neu entwickelten Variante optisch nur unwesentlich von der alten Cobol-Applikation unterscheidet. Die eigentliche Umstellung der Desktop-Rechner fand wenige Tage vor Weihnachten statt. Die Produktion in der neuen IT-Fabrik wurde am 29. Dezember aufgenommen.

Im Mai 2004 ging dann noch der Großrechner in Rente und wurde durch einen Server unter dem Sun- Microsystems-Betriebssystem „Solaris“ ersetzt. „Die Versicherten-Stammdaten waren uns dann doch zu kritisch, um sie in eine Open-Source-Umgebung zu überführen“, offenbart Kieseler die Grenzen seines Vertrauens in Linux.

Statt 120 Windows-Servern betreibt die VBG jetzt nur noch 41 Linux-Server. Vier Windows-Server und 200 Clients (100 allein mit Windows, weitere 100 mit Windows 2000 und Linux im „Dual Boot“) haben die ITRevolution überstanden; sie werden noch für Scan- Arbeitsplätze und für die Reisekostenabrechnung benötigt. Diese „Microsoft-Inseln“ werden allerdings sukzessive auch vom Linux-Pinguin bevölkert werden, kündigt Kieseler an. Vor dem übernächsten Jahr dürfte es nach seiner Einschätzung damit jedoch noch nicht vollständig klappen.

Kieseler ist mit seiner neuen Systemlandschaft hoch zufrieden. Er lässt sich sogar hinreißen zu sagen: „Ich bin jetzt so was wie ein Linux-Apostel“. Kein Wunder: Im ersten Jahr nach der Migration konnte er seinen IT-Haushalt um 17 Prozent senken; 2005 soll es noch mal „um einen zweistelligen Prozentbetrag runtergehen“. Die Performance der quelloffenen Systeme bezeichnet Kieseler darüber hinaus als „unschlagbar“; der Administrationsaufwand sei gering.

Da falle es kaum ins Gewicht, dass die Managementund Überwachungswerkzeuge, die nach der Ablösung der teuren IBM-Lösung „Tivoli“ verwendet werden, unzureichend seien. Um die Akzeptanz seitens der „normalen“ Anwender sei es auch gut bestellt, wenn man von IT-Spezialisten aus dem Windows-Lager absehe, die ihre Spielzeuge vermissten.

Massive Probleme macht den VBG-Datenverarbeitern indes ausgerechnet die einzige Anwendung, die zwar unter Linux läuft, deren Quellcode jedoch nicht offen ist. Kieselers Urteil über die Groupware „Open Exchange“ ist vernichtend: „Das System ist nicht geeignet für professionelle Großanwender-Umgebungen“. Einmal täglich gehe die Performance dramatisch in den Keller, regelmäßig sicheres Anzeichen eines bevorstehenden Server-Absturzes. „Es reicht zwar, den Server wieder hochzufahren, damit die Anwender wieder Zugriff auf ihre E-Mail-, Kalender-, Aufgaben- und Kontaktdaten haben“, berichtet Kieseler. „Aber das kann es auf Dauer ja wohl nicht sein!“

Sauer auf Suse

Regelrecht sauer macht den VBG-CIO der miserable Support durch den Softwarelieferanten Suse (im Besitz von Novell): Bereits für den vergangenen Februar habe dieser zugesagt, den Fehler zu beheben. „Aber bisher war noch niemand mit technischer Ahnung da – immer nur Vertriebsleute, die viel versprochen und nichts gehalten haben“, grollt Kieseler. Seine Geduld ist am Ende, und in der Hauptverwaltung der VBG wird immer lauter über einen möglichen Wechsel zu einem echten Open-Source-Produkt nachgedacht.

Von diesem Flop einmal abgesehen: Kieseler bewert die Linux-Migration als „sehr erfolgreich“. Nach eigener Einschätzung hat er es geschafft, auch bei der Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), die das Anwendungssystem BG/Standard noch in der alten Cobol-Variante verwendet, ernsthaftes Interesse zu wecken. Eine „intensive Zusammenarbeit“ mit der Partner-Berufsgenossenschaft in Sachen IT wäre sinnvoll, so der IT-Chef vorsichtig.