IT-Manager wetten

Process Mining deckt versteckte Kosten auf

19.05.2016 von Camillo C. Zbinden und Stefan Weber
Stefan Weber, Head of IT Shared Service Center und Mitglied der Direktion bei der PostFinance AG, und Camillo C. Zbinden, Head of Compliance und Mitglied des Executive Board bei der Société Générale Zürich im Corporate & Investment Banking, wetten, dass die Digitalisierung in zehn Jahren 90 Prozent der Transaktionskosten in Unternehmungen sichtbar gemacht haben wird.
Autor Stefan Weber ist Head of IT Shared Service Center und Mitglied der Direktion bei der PostFinance AG.
Foto: PostFinance AG

Sie kennen das Problem: Sie kommen von einer Geschäftsreise aus London zurück und reichen die Spesenabrechnung ein. Das System meldet: Kostenüberschreitung! Es ist ja nicht Ihre Schuld, dass Sie während des Tennisturniers in Wimbledon nach London reisen und deshalb mehr Kosten für die Übernachtung zahlen mussten.

Die Verantwortung für die Spesenbewilligung wird nun zwischen den verantwortlichen organisatorischen Stellen hin- und hergeschoben. Die mühsamen Diskussionen müssen Sie führen und verschwenden dabei wertvolle Zeit. Stellen Sie sich nun vor, ihre Unternehmung würde im Alltag nicht nur die sichtbaren Kosten messen können, sondern auch die nicht sichtbaren Kosten. Diese nicht sichtbaren Kosten nennen wir Transaktionskosten.

Transaktionskosten entstehen durch die innerbetriebliche Hin- und Herschieberei. Viele, vor allem größere Unternehmungen leiden zunehmend an bürokratischen Wasserköpfen und der Verlangsamung von Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen.

In all diesen Prozessen entstehen immense Transaktionskosten. Leider sind diese Transaktionen in den Unternehmungen aber nicht sichtbar. Und weil sie nicht sichtbar sind, können sie auch nicht gemessen werden. Es gibt keine Kostenstelle. Es existiert keine Kostenplanung wie bei den Reise-, Werbe- und Personalkosten. Deshalb blähen sich die Transaktionskosten in Unternehmen mehr und mehr auf, ohne dass sie jemand als Kosten wahrnimmt oder gar thematisiert.

Transaktionskosten werden übersehen und ignoriert. Dabei sollte es das Ziel jeder Unternehmung sein, diese Transaktionskosten zu senken. Denn alles, was im Unternehmen Transaktionskosten senkt, ist produktiv, alles, was sie steigen lässt, ist kontraproduktiv.

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3 zentrale Anforderungen

Was kann getan werden, um in Unternehmungen Transaktionskosten nachhaltig zu senken? Drei zentrale Anforderungen sind zu erfüllen: Transaktionskosten sollten als Erstes mit einem vertretbaren Aufwand sichtbar gemacht werden (Erkennung). Damit werden sie als Zweites mess- und vergleichbar (Übereinstimmung) und letztlich als Drittes auch erweiter- beziehungsweise verbesserbar (Erweiterung).

Um die genannten Anforderungen zu erfüllen, bietet die Verbindung der digitalen mit der realen Welt heute und vor allem auch künftig ganz neue Möglichkeiten. Die digitale Welt ermöglicht es, Ereignisse aufzuzeichnen und zu analysieren.

Ereignisse können sein: Abheben von Geld an einem Geldautomaten, Beantragen eines neuen Führerscheins, Empfang eines Tickets für eine Flugreise, Einreichen der Spesen für eine Geschäftsreise oder vieles mehr. Um all diese Ereignisse nun digital sichtbar zu machen, wurde Process Mining entwickelt. Process Mining ist eine vergleichsweise junge Wissen-schaftsdisziplin und stellt eine wichtige Brücke zwischen Data Mining und der Geschäftsprozessmodellierung dar.

Im Kern ist Process Mining eine moderne Technologie innerhalb des Prozess-Managements. Diese Technologie verfolgt das Ziel, größtmögliche Transparenz und Wissen über die jeweiligen Prozesse anhand von Informationen und Spuren in den IT-Systemen zu extrahieren (Mining). Dieses Wissen wird dazu verwendet, Ineffizienzen in den Prozessen zu korrigieren und dadurch die Prozesse effizienter bezüglich Zeit und Kosten zu gestalten.

Autor Camillo C. Zbinden ist Head of Compliance und Mitglied des Executive Board bei der Société Générale Zürich im Corporate & Investment Banking
Foto: Société Générale

Ausgangspunkt für Process Mining sind Ereignislogdaten. Diese Ereignislogdaten enthalten Informationen wie beispielsweise den Zeitpunkt, die durchgeführte Aktivität, den verantwortlichen Mitarbeiter oder den übergeordneten Prozess mit Bezug zum aktuellen Prozessschritt. Diese Ereignislogdaten können nun für drei Arten des Process Mining genutzt werden:

Die erste Art ist die Erkennung: Process Mining nimmt die Ereignislogdaten aus dem Softwaresystem als Eingabe und erzeugt ein Prozessmodell, ohne dafür weitere Informationen zu benötigen. In diesem Prozessmodell ist der tatsächliche Prozess, wie er in der Unternehmung abläuft, detailliert ersichtlich. Diese Art des Process Mining dient der Erfassung und Analyse der bereits bestehenden, aber wenig transparenten Prozesse. Prozesserkennung ist die bekannteste Process-Mining-Methode.

Die zweite Form von Process Mining ist die Übereinstimmungsprüfung. In dieser Form wird das im Unternehmen bestehende Prozessmodell mit zugehörigen Ereignislogdaten verglichen. Mit dieser Form wird bestimmt, inwiefern die in den Logdaten dokumentierte Realität tatsächlich mit dem Modell übereinstimmt. Diese Form kann sich auf unterschiedliche Modelle beziehen, zum Beispiel Ablaufmodelle, Organigramme, Geschäftsregeln oder Richtlinien.

Die dritte Form von Process Mininig ist die Erweiterung. Die Idee dabei ist die, das Prozessmodell auf Basis der Informationen aus den Ereignislogdaten zu erweitern und zu verbessern. Diese Form von Process Mining zielt darauf ab, das Modell zu verändern. Zum Beispiel können im Modell Zeitstempel, Engpässe, Durchlaufzeiten oder Häufigkeiten wie Mengen angezeigt werden. Die erzeugten Modelle sind typischerweise Prozessmodelle wie BPMN oder EPK, können aber auch andere Perspektiven beschreiben. Process Mining kennt derer drei: Prozesssicht, Organisationssicht und Fallsicht.

Process Mining in jeder Branche einsetzen

Die Prozesssicht fokussiert auf Abläufe und Reihenfolgen. Zum Beispiel die verschiedenen Schritte eines Kreditprozesses. Die Organisationssicht fokussiert auf die Struktur einer Organisation, um herauszufinden, ob die richtigen Akteure in den Prozess involviert sind und dort die richtige Position oder Interaktion mit anderen Akteuren haben. Die Fallsicht fokussiert auf fallspezifische Anforderungen zusätzlich zu den Prozessen und Organisationen.

Process Mining kann eigentlich überall eingesetzt werden, wo die Prozesse auf IT-Systemen basieren. Dies bedeutet heutzutage, dass es eigentlich in fast jeder Industrie eingesetzt werden kann. Insbesondere stark regulierte Branchen wie die Bankbranche sind zu ständigen Anpassungen in ihren IT-Systemen gezwungen. Der Kosten- und Zeitdruck führt leider oft dazu, dass derartige Anpassungen nicht immer optimal ablaufen und gewisse Ineffizienzen bewusst in Kauf genommen werden, damit man die regulatorischen Anforderungen erfüllt.

Wenn nun aber schon das nächste Projekt ansteht, geht dieser geplante zweite Schritt leider zu oft verloren. Process Mining hilft, diesen zweiten Schritt einfach und kurz zu halten, sodass Sie ihn auch parallel zu anderen Projekten ausführen können.

Der Fall PostFinance

Die PostFinance AG hat den aufgezeigten Lösungsansatz mit Process Mining im Rahmen eines Proof of Concept mit einer innovativen Softwarelösung von Celonis angewendet. Dies wurde möglich, da PostFinance seine Geschäftstätigkeit seit 2007 konsequent an den E2E-

Prozessen ausrichtet. In einer ersten Phase definierte PostFinance die zu untersuchenden Prozesse: Kontoeröffnungsprozess, Einkaufsprozess, Rechnungsprozess.

Aufgrund der definierten Prozesse konnten mit den Spezialisten die darunterliegenden Applikationen, Systeme, Ereignisdaten und Schnittstellen identifiziert werden. Spezialisten waren erforderlich, da ein Verständnis der verfügbaren Daten und Schnittstellen vorhanden sein musste.

Die Schnittstellen waren klar abgegrenzt, und die Zuführungen aus den Umsystemen erfolgten "near-realtime" als Import/Export. Die Lösung bot zudem die Option der Datenanonymisierung, um Sicherheits- und Datenschutzproblemen vorzubeugen. Gleichzeitig wurde aber auch das Fach in die Pflicht genommen, möglichst konkrete Zielsetzungen und Fragestellungen hinsichtlich des Optimierungspotenzials zu definieren. Stimmen die Prozessskizzen und Diagramme nach BPMN grundsätzlich mit den real gelebten Prozessen überein?

Wie lange dauert für den Endkunden eine Kontoeröffnung? Wo existieren unnötige Prozessschleifen? Inwieweit werden die existierenden Compliance-Vorschriften zum Maverick Buying (Beschaffungen außerhalb der standardisierten Beschaffungswegen) im Einkaufsprozess eingehalten? Wo werden nach dem Bestellantrag noch Preise korrigiert? Wie hoch sind die Obligos (ausgelöste Bestellungen, die noch keine Rechnung haben)?

Hinter all diesen Fragen verbirgt sich in den unterschiedlichsten Prozessen ein enormes Optimierungspotenzial. Um ein Beispiel zu nennen: Durch Maverick Buying bleiben Rahmenverträge und Preisvorteile ungenutzt, weil keine Bündelungseffekte erzielt werden. In der zweiten Phase wurde anschließend ein Kontrollflussmodell abgeleitet und mit den extrahierten Ereignisdaten verbunden. Das Kontrollflussmodell lieferte früh hilfreiche Antworten auf die gestellten Fragen.

Die Ereignisdaten wurden anschließend weiter gefiltert und adaptiert. Dadurch konnten seltenere Aktivitäten ausgeblendet oder fehlende Ereignisse eingefügt werden. In der dritten Phase wurde das Kontrollflussmodell um weitere Per­spektiven zu einem integrierten Modell ergänzt. Aus den Ereignisdaten extrahiertes Wissen wurde dabei mit Informationen zu in Verarbeitung befind­lichen Fällen zusammengeführt.

Der unkomplizierte Blick auf den realen Prozess

Dieses integrierte Modell stand dann als operative Unterstützung zur Identifikation des Optimierungspotenzials dem Fachbereich zur Verfügung. Zudem diente es für Interventionen, Vorhersagen und Empfehlungen. Die Durchlaufzeit des beschriebenen Prozesses von der Planung bis zur Implementierung oder zur operativen Unterstützung dauerte gerade einmal vier Wochen.

Es konnte anschließend im Betrieb festgestellt werden, dass Process Mining ein ideales Werkzeug ist, um effektiv und effizient Optimierungspotenzial zu identifizieren und den unterschiedlichsten Fachbereichen einen qualitativen und quantitativen Mehrwert zu generieren.

Der vom Handling her unkomplizierte Blick auf den realen Prozess und die raschen Erkenntnisse bezüglich der Sichtbarkeit von Transaktionskosten wurden durch die Fachvertreter durchwegs als besonders hilfreich beurteilt. Unterschiedliche Prozessvarianten konnten sichtbar gemacht werden.

Prozessfilter erlaubten mit einem Klick, einen Drilldown im Prozess durchzuführen und die Prozesssicht auf spezifische Fälle zu be-schränken. Damit waren auch Analysen in jedem beliebigen Detaillierungsgrad möglich. Es konnten an jeder Stelle des Prozesses Kennzahlen gemessen und Ursachenanalysen durchgeführt werden.

Das Dashboard-System erlaubte rasche Auswertungen, und es standen diverse Reporting-Möglichkeiten zur Verfügung. Dank der Unterstützung von Process Mining konnten im Rahmen des Proof of Concept in den untersuchten Prozessen ein Effizienz- und Effektivitätspotenzial von einem zweistelligen Millionenbetrag identifiziert werden.

Prozessorientierte Ereignislogdaten gefragt

Zu den Herausforderungen gehörten die gut strukturierten beziehungsweise die hochwertigen Ereignislogs. Diese Ereignislogdaten waren oft objektzentriert statt prozessorientiert gespeichert. Dies hatte zur Folge, dass die Aufbereitung des realen Prozesses teilweise verzögert wurde.

Zudem mussten die betroffenen Applikationen und Systeme sowie der dazugehörige Datenbereich (Datenbasis) im Voraus exakt definiert werden. Dazu brauchte es immer wieder Spezialisten. Abschließend kann aber festgehalten werden, dass Process Mining sich für die unterschiedlichsten Prozesse eignet.

Sollten die aufgezeigte Optimierungspotenziale jedoch nachhaltig genutzt werden können, ist der Einsatz von Process Mining sinnvollerweise in einen kontinuierlichen Prozess zu integrieren.

Ergebnis und Diskussion

Der technologische Fortschritt und damit die Verwendung von Informationssystemen hat Process Mining überhaupt erst möglich gemacht. Vor einem möglichen Einsatz sind jedoch folgende Punkte zu beachten: Um Prozesse anhand von Process Mining analysieren zu können, ist die Datenlage absolut entscheidend.

Nur Prozesse, die Ereignislogdaten in den IT-Systemen hinterlassen, können ausführlich analysiert werden. Es könnte deshalb sein, dass vor dem Einsatz von Process Mining bestimmte Anpassungen der IT-Systeme nötig sind, um die gewünschten Informationen effizient extrahieren zu können. Weiter ist entscheidend, dass bereits im Vorfeld konkrete Fragestellungen vorhanden sind.

Dies erleichtert den Spezialisten das Extrahieren der korrekten Daten. Zudem sollte beachtet werden, dass Process Mining selbst keine Einmalaktion sein darf, sondern in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess integriert werden sollte. Dieser kann jedoch organisationsübergreifend eingesetzt werden.

Zu den Grenzen von Process Mining ist Folgendes zu sagen: Die Unterstellung, dass Process Mining lediglich bei IT-basierten Prozessen Erkenntnisse liefern kann, ist teilweise korrekt. Keine Daten zu haben ist allerdings auch eine erste Information.

Gerade die Tatsache, dass ein Prozess beziehungsweise ein Teil davon nicht IT-basiert ist, ist ebenfalls eine wertvolle Erkenntnis. Warum ist dieser Schritt nicht IT-basiert? Könnte man ihn elektronisch strukturieren? Die Antworten auf diese Fragen führten oft schon zu erheblichen Effizienzsteigerungen.

Process Mining wird sich in den Unternehmen in den kommenden Jahren stark etablieren. Durch seinen Einsatz werden Transaktionskosten in den Unternehmen nicht mehr übersehen. Sie werden sichtbar und messbar. Dank Process Mining werden sie aber vor allem künftig massiv gesenkt werden können.

Ich freue mich auf Ihre Gegenwette!

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