Führungskräfte-Weiterbildung

Seitenwechsel

03.02.2003
Manager tauschen Ledersessel, Dienstwagen und Business-Hotel für kurze Zeit gegen das "richtige Leben" ein: auf der Straße, im Heim oder im Knast. Nicht selten verändern solche Erlebnisse das Führungsverhalten.

Thorsten Schümann ist ein verrückter Hund. Das findet zumindest Hans-Christian von Hemolt, Personalentwickler bei Daimler-Chrysler in Hamburg; er meinte, dem IT-Manager sei es am ehesten zuzutrauen, etwas derart Ausgefallenes zu machen. Und so begab sich Schümann in ein Haus, das normalerweise niemand wieder lebend verlässt: das Hamburger Aidshospiz "Leuchtfeuer". An die ungewöhnliche Weiterbildungsmaßnahme für Führungskräfte erinnert Schümann sich selbst zwei Jahre später noch, als sei es gestern gewesen: "Das war das Intensivste, was ich bisher gemacht habe."

Die einwöchige Arbeit mit Menschen anderer sozialer Schichten soll die Sozialkompetenz und Kommunikationsfähigkeit der Führungskräfte erhöhen und ihnen neue Perspektiven eröffnen. Zudem sollen solche Erfahrungen die so genannten Soft Skills fördern, um die Routine des Business-Alltags zu durchbrechen. Mit dem Dienstwagen aus der Tiefgarage in die Firma und wieder nach Hause; ein Meeting jagt das nächste, das Handy steht nicht still: Viele Manager haben den Draht zur Umgebung verloren und suchen wieder Bodenhaftung. Für kurze Zeit nehmen sie daher Putzeimer oder Klingelbeutel in die Hand.

Doris Tito, Leiterin des Projekts bei der Patriotischen Gesellschaft, einer seit dem 18. Jahrhundert bestehenden gemeinnützigen Einrichtung in Hamburg, vermittelt die Manager an soziale Einrichtungen. Ihre Empfehlung: "Am besten sollten man den Bereich auswählen, wo man die größten Berührungsängste hat." Für den heute36-jährigen Schümann war dies das Sterben. Er erinnert sich an seinen ersten Tag: "Ich bin einfach so losgefahren, ohne Handy, Palm und Laptop, ohne mein Netzwerk - also alles, was mich ausmacht, quasi nackt. Nach vielen Jahren mit Führungsverantwortung fühlte ich mich wie ein Praktikant." Und dann: Menschen waschen, trösten.

Ähnlich erging es Michael Schallwig, als er sich auf den Weg in den Knast machte. Das Frauengefängnis Hahnöfer Sand liegt auf der gleichnamigen Elbinsel, flussabwärts im Westen Hamburgs. Haushohe Zäune, Schleusen, schwere Stahltüren - eine Welt, wie sie die meisten nur aus dem Fernsehen kennen. Der 42-jährige Familienvater und HEW-Manager wäre am liebsten wieder umgekehrt: "Ich war nicht sicher, ob ich meine emotionale Reizschwelle nicht doch überschritten hatte."

Beim Otto Versand ist das Projekt "Seitenwechsel" fester Bestandteil des Weiterbildungsprogramms. Gunnar Rönnau, Leiter der Telekommunikationsdienste, sah für sich in der Arbeit mit Junkies die größte Herausforderung. Der IT-Manager, der befürchtet hatte, nutzlos in der Ecke zu stehen, war froh, richtig mit anpacken zu können: "Ich habe den Patienten bei Behördengängen oder der Wohnungssuche geholfen; viele wollten einfach reden." Zudem beeindruckten ihn die "generalstabsmäßigen" Abläufe auf der Station. "Selbst Besprechungen waren in einer Form standardisiert, wie ich es von meinem Unternehmen her nicht kannte", sagt Rönnau.

"Dir geht es eigentlich verdammt gut!"

Akzeptenzprobleme seitens der Sozialarbeiter, die an der einwöchigen Stippvisite der Manager Anstoß nehmen könnten, habe es kaum gegeben. "Eine anfängliche Skepsis vielleicht", räumt Schümann ein. Schließlich komme es auch darauf an, ob einer nur gaffe oder mit anpacke. Die Heime oder Stationen erhalten einen Teil des Geldes, das die Unternehmen zahlen.

Am Ende dann die Frage, was bleibt oder wie es weitergeht. Die Erlebnisse spülen bei vielen die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Arbeit und gar nach mancher Überstunde herauf. Steht damit am Ende der vom Unternehmen finanzierten Maßnahme womöglich der Entschluss, sich lieber nicht so aufzureiben? Sicher nicht, erklärt Schümann. Ein Unternehmen sollte Interesse an Führungskräften haben, die neben dem Job auch ein erfülltes Privatleben hätten und zufrieden seien. Er selbst habe sich am Ende der Woche gesagt: "Mensch, Thorsten: Dir geht es eigentlich verdammt gut!"

Auch Schallwig verließ geläutert die Frauenknastinsel. Er versteht inzwischen den "Ausnahmezustand", in dem sich viele Frauen befinden: von den Eltern nicht geliebt, geschlagen, vom Vater vergewaltigt, von falschen Freunden zum Drogenkonsum verführt, zur Prostitution gezwungen. Die Woche habe seinen Blick für Menschen geschärft: "Leider sehen viele Führungskräfte ihre Mitarbeiter nicht als Mittelpunkt ihrer Aktivität, führen und fördern sie nicht individuell. Das Ergebnis ist Frust."

IT-Leiter Rönnau beeindruckte vor allem das Engagement des Personals im Drogenentzug. "Nur wenige Abhängige werden clean, und die, die es schaffen, tauchen nicht mehr auf." Doch die Mitarbeiter dort seien schon mit kleinen Erfolgen zufrieden - "in unserer Leistungsgesellschaft selbst bei wirtschaftlicher Flaute undenkbar".