Projektmanagement bei Daimler-Chrysler

Straff organisiertes Räderwerk

06.11.2005 von Rolf Roewekamp
Seit 1995 gestaltet die Mercedes Car Group den Auftragseingang neu und baut dafür auch eine neue IT-Landschaft. Chef Designer lenken das „Global Ordering“, eines der größten Softwareprojekte der Konzerngeschichte.

ENDCHECK IM SINDELFINGER KUNDENZENTRUM: Der Mitarbeiter übergibt dem Ehepaar die Schlüssel ihres neuen A 160. Sie gehen in die Halle, das Paar öffnet Türen und Kofferraum, setzt sich in den Wagen und inspiziert den Innenraum. Alle Extras sind vorhanden, selbst die im letzen Moment von Kosmosschwarz- auf Polarsilber-Metallic umbestellte Farbe stimmt. Bis fünf Tage vor Baubeginn berücksichtigt Mercedes noch Änderungswünsche. Um so schnell reagieren zu können, hat die Car Group über zehn Jahre hinweg einen komplett neuen Bestellprozess geschaffen. Allein in dem im August abgeschlossenen Release setzte die IT dafür rund 3000 neue Softwareelemente ein.

Das nach drei Jahren abgeschlossene Release war das bislang größte innerhalb des Projekts „Global Ordering“ (GO) und eines der größten Softwareprojekte in der Konzerngeschichte. Seit 1995 gestaltetet die Mercedes Car Group (Mercedes-Benz, Maybach, Smart) den Bestellprozess für alle Händler in rund 150 Ländern neu: Hat der Kunde sein Wunschauto zusammengestellt, fließen die Informationen online in eine zentrale Datenbank. Auf Basis der Daten bucht das System einen Platz in der Produktionsplanung der Werke und schickt die Daten an die Fakturierung. Der Kunde erhält in Sekunden eine Auftragbestätigung, den Preis sowie einen verbindlichen Liefertermin und -ort. Im Idealfall fahren Käufer schon 15 Tage nach der Bestellung ihren neuen Wagen aus der Halle des Kundenzentrums. Vor zehn Jahren dauerte es noch 45 Tage.

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Leidensdruck im Vorstand zu groß

Grund für die langen Durchlaufzeiten war die alte, nicht sonderlich durchgängige Systemlandschaft. „Es gab 50 sehr umfangreiche IT-Systeme mit vielen manuellen Schnittstellen“, erklärt Johann Hess, verantwortlich für die IT in den Fahrzeugmontagewerken und „Global Ordering“. Mehr als sechs Wochen Laufzeit erschienen 1995 auch dem Vorstand entschieden zu lang. Damit war der notwendige Leidensdruck auf höchster Ebene gegeben, um ein so langfristiges, kostenintensives und aufwendiges Vorhaben durchzuführen. „Wenn man einen Kernprozess erfolgreich neu gestalten will, geht das nur, wenn der Vorstand das trägt und dahinter steht“, betont Hess.

Im Lenkungsausschuss spielen dann auch der Vertriebs- und Produktionsvorstand als Hauptauftraggeber und Sponsoren des Projekts die wichtigste Rolle. Zwar waren auch andere Verantwortliche wie Werks- und Fachbereichsleiter vertreten, doch die Projektleitung berichtete an die beiden Vorstände. Für Hess ist die Organisation keinesfalls überdimensioniert. Für ein solch großes Projekt hält er einen Lenkungsausschuss für absolut essenziell: „Wir führen nicht militärisch, sondern kooperativ. Aber es muss Ordnung herrschen.“ Bei GO arbeitet permanent eine Mannschaft von deutlich mehr als 100 Mitarbeitern, in Spitzenzeiten bis zu 100 externe Kräfte sowie rund 40 eigene IT-Mitarbeiter und 30 Kollegen aus den Fachbereichen. „Wenn ich mit einem Regiment unterwegs bin, dann muss ich das anders organisieren, als wenn ich mit einem Team arbeite“, erklärt Hess die straffe Organisationsstruktur.

Ein weiteres Prinzip ist es, sowohl die Projektleitung als auch Teilprojekte immer mit Leuten aus IT und Fachbereichen zu besetzen. „Am liebsten ist es uns, wenn dabei die Fachseite die federführende Kraft ist“, sagt Hess. Daneben saßen auch Mitarbeiter des Münchener Softwareentwicklungs- und Beratungsunternehmens sd&m in allen Gremien. Mitarbeiter von TSystems als Betreiber der alten Systemlandschaft stießen je nach Thema dazu.

Ohne die Unterstützung des auf Großprojekte spezialisierten Dienstleisters sd&m hätte der organisatorische Aufbau so nicht stattgefunden. Selbst der Stuttgarter Weltkonzern hatte bis dahin keine Erfahrungen mit einem derart großen IT-Projekt. Von sd&m kam die Idee, ein Chef Design (CD) zu schaffen. Auch hier sitzen jeweils ein Vertreter von IT, Fachseite und Dienstleister. „Das Chef Design war einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Sie müssen zu jedem Zeitpunkt die Übersicht haben“, stellt Hess die Bedeutung heraus.

Die CDs überwachen das Zusammenspiel von Prozess-, Funktions- und Datenintegration in den parallel bearbeiteten Teilprojekten. Bauteile und Modellvarianten wechseln häufig, Länderversionen ändern sich. Fast jedes Auto ist ein Unikat: Im Schnitt rollen nur rund 1,5 identische Autos pro Jahr vom Band. Dies wirkt sich auf Preisermittlung, Logistik, Produktion und Vertrieb aus. All das müssen die Funktionen von GO beherrschen. Außerdem kamen seit 1995 durch die Produktoffensive in der Car Group neue Werke hinzu. „Deswegen müssen die Chef Designer jedes Konzept aus fachlicher und technischer Sicht prüfen“, sagt Rainer Schrapel, Leiter des Kompetenzzentrums Global Ordering und zuständig für die IT im Zentralbereich. Auch er war früher selbst Chef Designer im Projekt.

Bevor die CDs jedoch die erste Version eines Fachkonzepts bekommen, hat die Qualitätssicherung den Entwurf bereits geprüft. Im Qualitätsausschuss sitzen Mitarbeiter aus allen Teilprojekten, die mit dem neuen Softwaremodul in Berührung kommen. Um die Qualität über alle Stufen hinweg zu gewährleisten, richtete Daimler einen Change Control Ausschuss (CCA) ein. Während der über Jahre andauernden Migration existieren alte und neue Landschaft dynamisch nebeneinander, wobei sich Teile in ihnen permanent ändern. „Der Change-Control-Ausschuss muss immer prüfen, wie sich Änderungen an den Systemen auf die Teilprojekte auswirken“, erläutert Schrapel.

1500 Tests in drei Monaten

Stringent hat Daimler auch die Qualitätssicherung in der letzten Phase organisiert. Beim Release im Sommer haben die Tester in den drei Monaten des Integrationstests rund 1500 Fälle an den 3000 neuen Softwarebausteinen geprüft: Sie betrachten Auswirkungen der neuen Software auf nicht veränderte Programme und prüfen die neuen Softwareteile.

Sechs Releases pro Jahr brachten die Testteams allerdings anfangs an den Rand der Belastbarkeit. Die IT-Führung hatte hier das Projekt zu straff organisiert und drosselte daraufhin die Anzahl auf drei bis vier Releases jährlich. Auch legte die IT nach dem ersten Projekt 1995 im Werk Rastatt eine ungeplante Lernphase ein. „Idealtypisch gestaltete Prozess lassen sich in der Realität nicht umsetzen. Man ist in der ersten Phase noch nicht in der Lage, etwaige Sonderfälle zu berücksichtigen“, resümiert Schrapel.

Ende 2008 wollen Hess und Schrapel GO abschließen, bis dahin wollen sie die Planungsprozesse für die Logistik komplett erneuern. Autokäufer im Sindelfinger Kundenzentrum sollen auch künftig nicht merken, welch straff organisiertes Räderwerk die IT in den 15 Tagen zwischen Bestellung und erster Fahrt gedreht hat.