Laut Studien kann jeder Siebte betroffen sein

Wenn Aufschieberitis die Karriere bremst

20.08.2008 von Nicolas Zeitler
Wichtige Arbeiten immer wieder aufzuschieben, kann zu einem chronischen Leiden werden. Sogar das berufliche Fortkommen kann ins Stocken geraten. Realistische Zeitplanung und das Aufteilen eines großen Projekts in Einzelschritte können Auswege sein. In besonders schweren Fällen empfehlen Psychologen eine Therapie.

Viele CIOs dürften das Szenario kennen: Obwohl ein Meeting schon seit Wochen anberaumt ist, zimmern sie die zu haltende Präsentation erst in den letzten Stunden und Minuten vorher hektisch zusammen. Am Ende geht alles gut, und man tröstet sich damit, dass man eben unter Zeitdruck am besten arbeite.

Obwohl sie wissen, dass wichtige Aufgaben vor ihnen liegen, beschäftigen sich viele Menschen lieber mit Belanglosem - sie machen Computerspiele oder räumen auf ihrem Schreibtisch um.

Wer allerdings regelmäßig in solche Situationen gerät, leidet womöglich an chronischem Aufschieben. Psychologen nennen dieses Phänomen Prokrastination, ins Deutsche etwa zu übersetzen mit Aufschieberitis. In besonders schlimmen Fällen kann sie dazu führen, dass Karrieren scheitern. Wenn ständig Arbeit unerledigt bleibt, kann auch das seelische Wohlbefinden in Mitleidenschaft gezogen werden und eine Depression folgen.

Wie viele Menschen krankhafte Aufschieber sind, lässt sich nur schwer sagen, da die Krankheit in den weltweit gängigen Verzeichnissen nicht als eigenständige Störung aufgelistet wird. Laut einer Studie des Psychologie-Professors Joseph Ferrari von der De Paul-Universität in Chicago leidet daran jeder Fünfte. Professor Fred Rist, Psychologe an der Universität Münster, schätzt die Verbreitung etwas geringer ein. Je nachdem, wie hoch man die Schwelle anlege, ergäben sich Werte zwischen sechs und 14 Prozent - das wäre jeder Siebte.

Die Universität Münster unterhält eine eigene Prokrastinationsambulanz. Bei einer groß angelegten Untersuchung an den Studenten der Hochschule zeigte sich, dass 14,6 Prozent von ihnen gemäß einem standardisierten Test einen höheren Aufschiebe-Faktor haben als die, die sich wegen dieses Problems bereits an die Ambulanz gewandt hatten.

Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale begünstigen wahrscheinlich die Aufschieberitis, meint der Psychologe Professor Fred Rist. Ausgeprägte Impulsivität könnte einer der Faktoren sein.
Foto: Uni Münster

Auch wenn sich die meisten Arbeiten zum krankhaften Aufschieben mit Studenten befassen - Psychologen beobachten sie unter anderem wegen ihrer relativ einheitlichen Arbeitsanforderungen besonders häufig - ist die Störung nach Einschätzung von Rist in anderen Teilen der Bevölkerung kaum seltener verbreitet. "Dazu könnte man Finanzämter befragen, die auf die Steuererklärungen warten", meint der Psychologe.

Windows-Spiele statt klärender Gespräche

Das typische Verhaltensmuster von Aufschiebern besteht darin, unwichtige Tätigkeiten wichtigen vorzuziehen. Sie surfen im Internet, räumen den Schreibtisch auf oder spielen stundenlang Minesweeper auf dem PC. Die Präsentation bleibt derweil unbearbeitet, auch das dringend notwendige Gespräch mit dem Kollegen, um einen Konflikt beizulegen, wird nicht geführt. Allgemein gesprochen: Der Betroffene nimmt die Aufgaben, die er an und für sich selbst als vorrangig betrachtet, nicht in Angriff.

Eine "paradoxe Erfahrung", schreiben in einem Aufsatz Rist und Margarita Engberding, die Leiterin der Psychotherapie-Ambulanz an der Universität Münster. Aufschiebern ist ihr Verhalten demnach meist vollauf bewusst. Sie können detailliert beschreiben, mit welchen Tätigkeiten sie sich vor dem eigentlich Wichtigen drücken. Viele bezeichnen die vorgezogenen Handlungen dabei selbst als stumpfsinnig und lästig.

Flucht vor englischsprachigen SOA-Fachtexten

Der Grund, warum Prokrastinierer Aufgaben vor sich her schieben, liegt darin, dass sie sie als besonders lästig oder unangenehm bezeichnen - und zwar in höherem Maße als Menschen, die dieselben Aufgaben ohne Verzögerung erledigen. Rist zufolge ist das eine Art "Fluchtverhalten": Mit der Maus die Karten einer Patience auf dem Bildschirm herumzuschieben, bereitet schnell Freude; hundert Seiten englischsprachige Fachliteratur zu SOA in eine Präsentation umzuarbeiten, ist dagegen zunächst vor allem mühsam.

Warum manche Menschen sich vor ihren Pflichten drücken und andere sie ohne zu murren erledigen, ist von den Fachleuten noch nicht eindeutig geklärt. Von der Schwere einer zu erledigenden Aufgaben hängt das Leiden wahrscheinlich nicht ab. Eher befällt das Aufschieben Menschen mit Persönlichkeitsmerkmalen, die das Selbstmanagement beeinträchtigen.

Wer besonders gewissenhaft und ausdauernd ist, neigt demnach weniger stark zum Aufschieben auch unangenehmer Dinge. Als stark mit dem Hang zum Aufschieben verbunden gilt hingegen die Impulsivität. Menschen, bei denen dieses Persönlichkeitsmerkmal stark ausgeprägt ist, neigen dazu, schnell erreichbare Erfolge eher anzustreben als Dinge zu tun, die erst auf lange Sicht ein positives Ergebnis versprechen.

Wege aus der Falle

Glaubt man Rist und Engberding, könnte die Verbreitung des Aufschiebe-Leidens künftig zunehmen. E-Mail, Internet und Mobiltelefon böten immer mehr Ablenkungsmöglichkeiten. Eine Studie von Joseph Ferrari hingegen spricht eher gegen diese Vermutung. Der Chicagoer Psychologe untersuchte 1.400 Erwachsene aus sechs Ländern. Unter den Studienteilnehmern aus ländlichen, abgeschiedenen Regionen war das Leiden fast genau so stark verbreitet wie unter den Probanden aus großen Städten, die ständigen Zugang zu den neuesten Kommunikationstechnologien hatten.

Als Ausweg aus dem ewigen Aufschieben schlägt Hans-Werner Rückert von der Psychologischen Beratung an der Freien Universität Berlin in Vorträgen sein "BAR-Programm" vor - die Abkürzung steht für Bewusstheit, Aktionen und Rechenschaft. Im ersten Schritt müsse sich ein Prokrastinierer über Gründe seines Aufschiebens, Konflikte und Selbstbewertungen klar werden.

Rückert zufolge tut ein Mensch etwas dann, wenn es zu mindestens 70 Prozent mit positiven Gefühlen verbunden ist. Indem man sich selbst motiviere, beruhige und abgleiche, ob man sich auch wirklich mit den verfolgten Zielen identifiziere, könne man diese 70 Prozent erreichen. Wer das selbst nicht schaffe, müsse ein Vorhaben aufgeben oder aber eine Psychotherapie machen.

Zeit realistisch planen

Was den zweiten Schritt, die Aktionen angeht, ermahnt Rückert Aufschieber dazu, realistisch zu planen - und zwar sowohl ihre Ziele als auch die zum Erreichen nötige Zeit. Fortschritte werden zudem besser sichtbar, wenn man den Weg in kleine Etappen aufteilt. Das deckt sich mit Beobachtungen von Rückert. Seinen Untersuchungen zufolge leiden mehr Studenten aus unstrukturierten Studiengängen an der Aufschieberitis als Hochschüler, in deren Fach ein eher starrer Studienplan mit häufigen Prüfungen vorgegeben ist.

Sinnvoll kann dem Psychoanalytiker Rückert zufolge auch eine Aufgabenliste sein, auf der neben Aufgaben Freizeitunternehmungen ebenfalls ihren Platz haben dürfen. Zuletzt ist es gemäß dem BAR-Programm notwendig, sich selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen, also die eigenen Fortschritte durch Aufzeichnungen zu bilanzieren. Visualisierungen können dabei helfen.

Versucht ein chronischer Aufschieber indes nur allein, sein Verhalten nach diesem Muster oder etwa mit Hilfe eines Ratgeberbuchs zum Zeitmanagement zu ändern, dürfte er Rist und Engberding zufolge häufig scheitern. Für Erfolg versprechender halten die beiden eine Gruppentherapie. Die soziale Verpflichtung gegenüber den anderen Teilnehmern und dem Therapeuten könne wesentlich dafür sein, dass ein Aufschieber schrittweise von diesem Verhalten loskommt.