Mercedes Benz Vans

Wie der Daimler-CIO Lieferwagen baut

03.07.2013 von Horst Ellermann
Daimler-CIO Michael Gorriz baut an vier Stellen an den Lieferwagen von Mercedes-Benz mit. Zweimal hilft die Unternehmens-IT den Konstrukteuren, zweimal den Kunden mit Augmented Reality.
Volker Mornhinweg, Leiter der Sparte Mercedes-Benz Vans.
Foto: Daimler AG

Volker Mornhinweg hat ein Problem: Der Leiter des Geschäftsbereichs Mercedes Benz Vans erstellt Produkte, die in dreifacher Hinsicht unsexy sind: Lieferwagen schaffen es nie auf die erste Seite von "Auto, Motor, Sport". Lieferwagen fahren nie mit der Technik, die sich die Betreiber der großen Brummis leisten. Und Lieferwagen stehen mit neun Milliarden Umsatz nicht einmal auf Seite eins im Geschäftsbericht von Daimler.

Vorne fahren die Autos (62 Milliarden Euro) und die richtigen Lastwagen (31 Milliarden Euro). Wo kann er da auftrumpfen, der Herr Mornhinweg? In seinem Geschäft seien Fugen und Spalten ein großes Thema, erklärt der gelernte Schlosser und Ingenieur für Fertigungsverfahren. Seine Kollegen unterhalten sich ausgiebig über die Übergangsmaße bei jedem neuen Detail.

Augmented Reality
Cave
Das System erkennt, wohin die Augen der Fahrerin wandern und welchen Knopf sie drücken will.
Mixed Reality
Jochen Göpfert zeigt an einem aufgesägten Sprinter, was Konstrukteure beachten müssen, wenn sie den Laster noch voller laden.
Viano Explorer
Wo kommt noch mal das Kühlwasser rein? Endkunden erkennen mit der App den richtigen Tank.
Daimler-CIO Michael Gorriz:
"Wenn ich früher bei meinem Ford Capri die Haube aufgeklappt habe, konnte ich mehr Straße als Motor sehen."

Hier kommt Michael Gorriz ins Spiel: Der Daimler-CIO zitiert zunächst Konzern-Chef Dieter Zetsche: "Das Auto wird nicht nur elektrischer und asiatischer, es wird auch digitaler" - wobei "digital" nicht nur die iPhone-Anbindung im Auto meine. "Digital Life ist eines von vier Themen, die in der Konzernstrategie festgelegt sind", sagt Gorriz. Neben den Anliegen, gute Fahrzeuge zu bauen, neue Märkte zu erschließen und ein bisschen grüner zu werden, fordert Zetsche, die mobilen Services zu stärken - durch "Digital Life".

Das klingt cool - interessiert Lieferwagenkäufer jedoch wenig. Klempner oder Paketzusteller finden vielleicht spannend, wohin sie einen Lieferzettel klemmen können. Auch Halter für Cola-Flaschen sind wichtig. Aber vor allem muss die Kiste laufen. Viel. Lange. Billig. Genau dieser Zielgruppe "Digital Life" zu verkaufen, das wäre dann wirklich eine Kunst, mit der die Kleinlasterbauer auftrumpfen könnten. Gorriz und seine Unternehmens-IT bieten dafür vier Lösungen an: Zwei betreffen die Konstrukteure, zwei weitere sollen Prozesse beim Kunden ändern. Zunächst zu den Konstrukteurshilfen:

Cave Automatic Virtual Environment

Das Van Technology Center (VTC) in Untertürkheim verfügt seit 2011 über eine eigene "Höhle" die "Cave". Das ist eine Simulationskammer von Daimler, in der Beamer einen Fahrzeuginnenraum auf bis zu sechs Leinwände projektzieren, also auf vier Außenwände, Decke und Boden.

Die Van-Konstrukteure haben in ihrer Cave auf Projektionen an Boden und Rückwand verzichtet. Bleiben also vier Beamer, die den Blick nach vorne, rechts, links und nach oben gewährleisten. Wer mit 3-D-Brille auf dem echten Fahrzeugsessel in der Mitte der Cave sitzt, greift unwillkürlich zum Lenkrad, das ihm das System in Griffweite vorgaukelt.

Konstrukteure haben in dieser Scheinwelt die Chance, neue Bedien- oder Anzeigeelemente zu testen, bevor echte Modelle gebaut werden. Sie schlurfen in Filzpantoffeln in die Cave, der Boden soll auf keinen Fall schmutzig werden. Dann testen sie mit einem Sensor am Finger, welche neuen Knöpfe sie gut erreichen, welche Anzeigen sie noch erkennen, wenn sie den Kopf zur Seite drehen, oder wo Mercedes vielleicht noch ein zusätzliches Servicemodul einbauen könnte.

"Früher hatten wir ganze Werkstätten, die nichts anderes gebaut haben als das, was hier in wenigen Minuten simuliert wird", lobt Mornhinweg das System: "Wenn da etwas im Modell nicht passte, hat der Konstrukteur eben wieder von vorne angefangen." Heute spielt er neue Daten aus seinem CAD-System in die Cave. Das System werde rege genutzt, sagt Norbert Erlemann, Teamleiter Ergonomie und Maßkonzept. Auch der Vorstand sitze einmal im Monat in der Cave, um Innovationen zu erfahren, bevor irgendein Blech angebohrt wird.

Mixed Reality

Daimler CIO Michael Gorriz kümmert sich nicht nur um die Konzern-IT, sondern arbeitet direkt an den Produkten von Daimler.
Foto: Daimler

Optisch weniger spektakulär, aber für Konstrukteure ebenso hilfreich ist der Kameraarm, mit dem Jochen Göpfert, Teamleiter Physical Mock-Up und Digitale Baubarkeit, seit 2010 in den Motorraum guckt. "Baubarkeit" ist so eine Herausforderung, an der geniale Ideen gerne scheitern.

"Wenn ich früher bei meinem Ford Capri die Haube aufgeklappt habe, dann konnte ich mehr Straße als Motor sehen", erzählt CIO Michael Gorriz. Mittlerweile ist es eng geworden im Motorraum. Jede Innovation, die an einem Kabel oder Schlauch hängt, erhöht die Komplexität und stellt eine potzenzielle Fehlerquelle dar. Ein Blick durch Göpferts Kamera macht das deutlich.

Bislang kamen bei der Fahrzeugentwicklung zwei Plattformen zum Einsatz - physische Prototypen, sogenannte "Physical Mock-Ups", bei denen die Konstrukteure direkt an der Hardware testen, und "Digital Mock-Ups", also digitale Prototypen. Göpferts "Mixed Mock-Up" ist eine hybride Entwicklungsplattform, die Daten aus dem digitalen Prototyp verwendet und mit bereits real verfügbaren Bauelementen kombiniert.

Dabei filmt Göpfert den physischen Prototyp mit einer Videokamera. Ein Messarm verfolgt millimetergenau, aus welchem Blickwinkel Göpfert unter die Haube guckt, und das Mixed Mock-Up reichert das Videobild mit digitalen Daten an. Bremsleitung und Kabelstränge liegen offen. Konstrukteure können ausprobieren, ob der 17er-Schlüssel immer noch greift oder ob ein zusätzliches Bauteil den Hebelweg versperrt.

Seit 2008 gibt es das System, bei Mercedes-Benz Vans kommt es seit 2010 zum Einsatz. Missionsarbeit war überflüssig: "Die Kollegen haben den Mehrwert sofort erkannt", sagt Göpfert, der demnächst ein zweites System in Betrieb nimmt. Ob das 100 000 Euro teure Gerät auch etwas für Werkstätten sei? "Eher nicht", sagt Göpfert. Die Mechaniker wüssten sowieso, wo in einem serienreifen Modell die Leitungen liegen.

Viano Explorer

Seit 2011 entwickelt die Daimler-IT auf Basis der Mixed Reality ein interaktives Benutzerhandbuch, derzeit im Test beim Mercedes Viano. Lina Longhitano, Teamleiterin CarIT und neue IT-Technologien im Van, will den Kleinbus mit ihrer iPad-App für Vertriebler und Endkunden erfahrbar machen.

Vans eigneten sich dazu besonders gut, denn von denen stehe nur eine begrenzte Anzahl im Showroom. Anstatt Benziner und Diesel des gleichen Modells nebeneinander zu parken, könnten artverwandte Modelle auch gut mit ein wenig Augmented Reality präsentiert werden. Das Vorführfilmchen, wie ich einen Sitz ausbaue, sei sowieso in beiden Fällen das gleiche. Die kritische Frage lautet: Wo findet der Kunde das Video?

Beim "Viano Explorer" knipst der Kunde mit seinem iPad einen Sitz an, und die App bietet ihm automatisch Antworten auf die wichtigsten Fragen dazu an. Eine davon lautet nun mal: Wie baue ich das Ding aus? Oder er fotografiert die drei Flüssigkeitsbehälter rechts oben im Motorraum. Auf einem Deckel steht ein Symbol für Wischwasser. Wer sich trotzdem noch unsicher ist, kann jetzt die App fragen, wo er den Frostschutz hineinkippen soll - und wie viel. Die Idee des Explorers ist, bei den Antworten möglichst oft mit der normalen Dokumentation zu kombinieren.

Die promovierte Ingenieurin Longhitano hat 2008 die Mixed Reality bei Mercedes eingeführt, findet jetzt allerdings: "Der Arm ist ein wenig sperrig." Schöner sei da doch ein iPad, von dem die Van-Ingenieure glauben, dass wenigstens jeder Mercedes-Händler eins habe. Kunden des Van-Geschäftsbereiches stehen zwar unter Verdacht, eher Android-Geräte zu nutzen. Aber auch das soll dank hybrider Lösungen kein Hindernis sein. Das Problem sei eher, dass die Ingenieure ihre neue Lösung auch gerne mit einem neuen Modell einführen möchten. Das komme ja vielleicht in den nächsten Monaten, orakeln die Van-Bauer.

Kleinlasterkunden finden es sicher nicht schlecht, wenn verbesserte Modelle schneller auf den Markt kommen. Wenn der Azubi per Video lernt, wo er Öl nachkippen muss, ist das auch nicht von Nachteil. Aber das echte "Digital Life" fängt für Mercedes Van Kunden an anderer Stelle an. Ein Elektromeister möchte wissen, ob er noch einen zusätzlichen Auftrag auf seiner Route ausführen kann, auf welchem seiner fünf Wagen die Hilti liegt und ob genügend Kabelbinder zur Hauptbaustelle unterwegs sind. "Unsere Transporter sind rollende Lager", erklärt Marc Lampe, Director IT Mercedes-Benz Vans. Mehrwert entsteht für ihre Besitzer, wenn der Sprinter 20 Kilometer weniger fährt, weil der Fahrer das Fehlen eines Werkzeugs rechtzeitig bemerkt.

VANconnect

Dem will Lampe jetzt mit RFID nachhelfen. Über der Schiebetür hängt der Empfänger und kontrolliert jedes Zu- und Ausladen von Waren und Werkzeugen mit Tags. Kommt über das mobile System ein zusätzlicher Auftrag rein, kann VANconnect sofort sagen, ob alles dafür Nötige an Bord wäre. Der Fahrer kann dann immer noch entscheiden, ob er den Auftrag annimmt oder ob er nach Schichtende den Wagen lieber an der nächsten U-Bahn übergibt. Ein Kollege könnte ihn dort abholen. Zum Öffnen reicht ein Smartphone mit Near Field Communication (NFC).

Wagt sich Daimler mit derlei Technik nicht zu weit auf unbekanntes Terrain vor? Können etablierte Anbieter von Logistiksystemen das nicht besser? "Wir wollen mit diesem Angebot ja nicht die Deutsche Post ansprechen, die hat das schon", sagt der Mercedes-Kooperationspartner von HP, der den Vorführwagen mit RFID und NFC getunt hat. Und neu sei bei VANconnect gar nichts, ergänzt Lampe. Vieles haben die großen Mercedes-Trucks schon lange an Bord. "Neu ist hier allenfalls das Zusammenspiel. Deswegen nutzen wir auch nur Standardtechnologie", erklärt Lampe, "wir wollen hier kein eigenes Backbone aufbauen."

Bleibt die Frage, ob Kunden tatsächlich offen für eine derartige Ausweitung des Mercedes-Van-Geschäftsmodells sind - und ob sie dafür zahlen würden. Bis jetzt ist nicht einmal sicher, ob sie das müssen. Die Van-Strategen zweifeln noch, ob VANconnect extra kosten sollte oder ob Kunden solche Services in Zukunft genauso selbstverständlich erwarten wie einen langlebigen Motor. Diese Frage beschäftigt Michael Gorriz dann allerdings nicht mehr: "Für uns ist entscheidend, dass wir eine IT-Architektur haben, die solche Services überhaupt möglich macht", sagt der Konzern-CIO. Das sei nicht immer so gewesen.

Daimler: Unternehmen und IT-Kennzahlen

Unternehmen

Daimler

Hauptsitz

Stuttgart

Umsatz

114.297 Millionen Euro (2012)

EBIT

8615 Millionen Euro

Mitarbeiter

275.087

IT-Kennzahlen

IT-Mitarbeiter

5388 (31.12.2012)

IT-Budget

1,8 Prozent vom Umsatz

IT-Benutzer

rund 270.000

CIO

Michael Gorriz (für Daimler gesamt)
Marc Lampe (Director IT für Mercedes-Benz Vans)