Gemeinsame Wertebasis

Wie Führung in unsicheren Zeiten gelingt

24.07.2020 von Georg Kraus
Die meisten Mitarbeiter sehnen sich nach Sicherheit und Stabilität. Das gibt es aber immer weniger. Deshalb brauchen Unternehmen Veränderungsbereitschaft und Agilität. Das geht nur zusammen, wenn ein gemeinsames Fundament existiert. Es besteht aus Werten.
  • In der Management-Diskussion kursiert der Begriff, der die Dauerunruhe beschreibt: VUKA steht für einen Zustand, der von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz geprägt ist.
  • Unter diesen Vorzeichen hält das soziale Gefüge wie ein Unternehmen nur durch ein starkes Wertesystem zusammen.
  • Dafür muss die Führungsmannschaft mit den Mitarbeitern die Unternehmenskultur gezielt beeinflussen, entwickeln und prägen. Das ist keine einfache, aber eine unglaublich spannende und lohnende Aufgabe.
Wenn der Change als alltägliche Herausforderung akzeptiert und gelebt werden soll, bedeutet das für Führungskräfte, sich der Werte und Prinzipien anzunehmen, die das gemeinsame Verhalten nicht nur beeinflussen, sondern prägen.
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Erstaunlicherweise wird Change oft noch als etwas Besonderes gesehen - so als gäbe es einen Normalzustand, in dem sich nichts verändert. Doch den gibt es nicht. Letztendlich gibt es nur eine Konstante im Leben: Veränderung. Menschen verändern sich, Beziehungen wandeln sich, Gebäude altern, Dinge gehen kaputt, wachsen, vergehen. Stabilität ist eine Illusion.

Stabilität ist eine Illusion

Trotzdem haben Menschen eine große Sehnsucht nach Stabilität. Sie ist oft so groß, dass wir die Augen zukneifen und unser Leben in zu kleinen Zeitabschnitten betrachten, so dass wir die Veränderung nicht ­sehen. Deshalb merken wir zum Beispiel nicht, wie wir älter werden und unsere Beziehungen an Qualität verlieren oder gewinnen. Eine Ursache hierfür ist: In unserem Alltag erfordert es von uns wenig Energie, Dinge (scheinbar) stabil zu halten.

Verändern hingegen kostet Kraft. Doch reicht das als Begründung oder gar Rechtfertigung für das Festhalten an der Illusion der Stabilität? Wenn wir ehrlich sind, machen wir uns etwas vor.

Ein dauerhafter Unruhezustand ist die Realität

In unserer Wirtschaft hat das "Alles ist im Fluss" eine neue Dynamik gewonnen: Die Märkte verändern sich immer schneller, die technologische Entwicklung schrei­tet rasant voran, die Produktlebens- und Change-Zyklen werden kürzer, Strategien müssen ständig angepasst werden. Konnten früher die Führungskräfte ihren Mitarbeitern, aber auch den Kapitalgebern nach einer Reorganisation oder strategischen Neuausrichtung eine gewisse Konstanz und Sicherheit versprechen, ist das heute unmöglich geworden. Manchmal lassen sich nicht einmal mehr für das kommende Geschäftsjahr verlässliche Prognosen abgeben.

Hochschule St. Gallen über "Rollen, Prozesse und Führung in der digitalen Transformation"
Digitale Transformation
Wie sieht die digitale Transformation in der Praxis aus und welche Auswirkungen hat sie auf Führungs- und Unternehmenskultur? Um diese Frage kreist der zweite Teil einer groß angelegten Studie der Hochschule St. Gallen (HSG). Deren Institut für Wirtschaftsinformatik hat dabei mit T-Systems Multimedia Solutions und dem Bundesverband Digitale Wirtschaft zusammengearbeitet. Die Ergebnisse sind unter dem Titel „Rollen, Prozesse und Führung in der digitalen Transformation“ dokumentiert.
Vier Wege
Die HSG skizziert vier Möglichkeiten: Entweder benennen Unternehmen einen CDO oder eine Digital Unit. Alternative ist ein Stab, der abseits vom Tagesgeschäft und außerhalb der Linienorganisation arbeitet, oder ein Unternehmen, das digitalisiert genug ist, um die Verantwortung nicht zentral verorten zu müssen. Das ist bisher allerdings ein Ideal.
Neues Job-Profil
Einer der Befragten sagte, die Unternehmen bräuchten einen Manager mit speziellem Job-Profil, der IT- und Strategiekompetenz kombiniere. Oft seien das allerdings "teure Leute, die man sich nicht leistet".
Adidas-Gebäude "Pitch"
Der Sportartikelhersteller Adidas hat ein neues Gebäude namens "Pitch" hochgezogen. 300 Mitarbeiter testen aus, wie Menschen in Zukunft arbeiten wollen.
Arbeiten im "Pitch"
Adidas hat den "Pitch" nach neuen, luftigen Arbeitsplatzkonzepten ausgerichtet, die die Kollaboration erleichtern sollen.
Essen im "Pitch"
Im "Pitch" muss dank großer Küche niemand hungern.

Deshalb herrscht in vielen Unternehmen ein dauerhafter Unruhezustand. Die Führungskräfte können ihren Mitarbeitern oft nicht mehr versprechen: "Ihr Job ist sicher." Oder: "Unsere Strategie gilt für die nächsten Jahre." Dennoch erwarten die Mitarbeiter oft nachdrücklich Perspektiven, Sicherheit und eine längerfristige Planung.

VUKA steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz. VUKA nimmt zu – doch nicht in allen Lebens-, Wirtschafts- und Unternehmensbereichen gleich stark. Wichtig ist es, herauszufin­den, in welchen Bereichen VUKA dominiert und in welchen nicht und welche Interventionen deshalb zielführend sind. Es gibt durchaus Koexistenzen von Stabilität und Instabilität.

Aktuell kursiert in der Management-Diskussion ein Begriff, der diesen Zustand der Dauerunruhe beschreibt: das Akronym VUKA. Es steht für einen Zustand, der von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz geprägt ist. Doch was bedeutet das für uns Menschen? Wie gehen wir mit dieser Situation um, und wie finden wir uns in ihr zurecht?

Wie Mitarbeiter auf ständige Unruhe reagieren

Mitarbeiter und auch Führungskräfte in Unternehmen reagieren auf das VUKA-Phänomen mit verschiedenen Verhaltensweisen:

Natürlich begegnet man in den Unter­nehmen auch Mitarbeitern, die sich auf Veränderungen einlassen und ­ihre Gestaltungschancen nutzen. Doch das Gros leidet häufig unter der Dauerunruhe und ist wenig offen für Veränderungen.

Was bedeutet VUKA?

Das V steht für volatil (flüchtig, schwankend)

Es bezieht sich auf die zunehmende Häu­figkeit und Geschwindigkeit von Veränderung. Was gestern noch galt, kann heute durch neue Informationen oder Entscheidungen ganz anders sein.

Das U steht für unsicher

Vorhersehbarkeit und Planbarkeit lösen sich mehr und mehr auf.

Das K steht für komplex

Alles hängt zunehmend mit allem zusammen. Zahllose Verknüpfungen, Abhängigkeiten und Einflussfaktoren wollen bedacht sein. Ursache und Wirkung von Entscheidungen sind kaum mehr nachzuvollziehen.

Das A steht für ambivalent (mehrdeutig)

Die Zeit der Königswege ist vorbei. Statt Schwarz-Weiß herrschen Widersprüchlichkeiten und vielfältige Schattierungen. Sowohl-als-auch-Fakten machen Entscheidungen schwierig.

Agile Organisation - eine Antwort?

Was kann man tun? In Management-Kreisen wird neuerdings als mögliche Lösung das Thema "Agile Organisation" diskutiert - also das Implementieren einer Unternehmenskultur, die sich der Dynamik bewusst ist und mit einer hohen Anpassungsfähigkeit antwortet. In einem solchen System, so die Hoffnung, organisieren sich die Menschen anders als bisher. Sie ent­­scheiden direkter und schneller, tragen Verantwortung und tauschen sich aus. Doch wer sind die Träger einer solchen Kultur? Die Menschen in der Organisation und ihre Beziehungen zueinander. Also gilt es hier den Veränderungshebel anzusetzen.

In einer agilen Organisation, die weitgehend auf starre Organigramme, Bereichsgrenzen, Aufgabenbeschreibungen etc. verzichtet, sind die Referenzpunkte und Orientierungsanker anders als in einer klassischen Top-down-Organisation. Die Mitarbeiter können sich weniger auf Vereinbarungen und Beschlüsse in der Vergangenheit oder auf Vorgaben von außen beziehen. Sie müssen "wach" sein, einschätzen können, was gerade passiert - und sinnvoll darauf reagieren. Statt Beständigkeit ist geistige Flexibilität gefragt. Statt Dienst nach Vorschrift sind Neugier und Selbstbewusstsein gefordert. Statt Stabilität findet Entwicklung statt.

Stärker auf "agile Deals" zwischen Unternehmen, Führungskräften und Mitarbeitern einstellen

Eine solche Form des Miteinanders verändert nicht nur die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter, sondern auch die der Unternehmen untereinander. Wir sind im betrieblichen Kontext daran gewöhnt, dass einmal getroffene Vereinbarungen dauerhaft Gültigkeit haben - etwa zur Arbeitszeit, zur Entlohnung, zu Zuständigkeiten und Arbeitsinhalten oder Karriere­pfaden. Das erwarten viele Mitarbeiter auch weiterhin. Doch wie soll das funktionieren, wenn sich die Rahmenbedingungen ständig ändern? Müssen wir uns dann nicht stärker auf "agile Deals" zwischen den Unternehmen sowie deren Führungskräften und ihren Mitarbeitern einstellen - sowie zwischen den Unternehmensführungen und Mitarbeitervertretungen? Vermutlich!

Ein starkes Wertesystem hält Unternehmen zusammen

Dann aber stellt sich die Frage: Was hält ein soziales Gefüge wie ein Unternehmen zusammen, wenn sich das zentrale Bedürfnis seiner Mitglieder nach Sicherheit und Verlässlichkeit nur noch bedingt erfüllen lässt? Die Antwort lautet: ein starkes Wertesystem. Wenn Menschen durch Werte miteinander verbunden sind, gehen sie gemeinsam durch dick und dünn. Die jeweiligen Beziehungspartner bleiben berechenbar, was zu Vertrauen führt. Und das ist elementar.

Mitglieder von Organisationen, die auf wechselseitiges Vertrauen bauen, lernen schnell, Veränderungen nicht persönlich zu nehmen. Sie unterstellen zudem dem jeweils anderen gute Absichten. Auf dieser Basis wachsen auch Ehrlichkeit und Transparenz. Man unterstützt sich gegenseitig, Fehler werden verziehen. Und die Kurzlebigkeit sowie die permanente Notwendigkeit, sich zu verändern, werden bei aller Belastung auch als sportliche Herausforderung gesehen.

Neue Führungspraxis für die digitale Welt
Der Sportdirektor eines Vereins
Der Sportdirektor eines Vereins stellt den Kader zusammen und gestaltet die Spiel- und Terminpläne für Wettkämpfe und Trainings. Er instruiert Talentscouts, kauft Spieler ein und stellt Bewegungsfreiheit für erforderliche Transfers sicher. Sein Ziel: Menschen zu finden und zu binden, die die Weiterentwicklung des Unternehmens konstant antreiben. Er erweitert die Suchkriterien für die Rekrutierung, stellt Mitarbeiter mit verschiedensten Hintergründen ein und ermöglicht Familien- und altersgerechte Arbeitszeitmodelle.
Führung in der Digitalisierung
Die Studie "Die Haltung entscheidet. Neue Führungspraxis für die digitale Welt" stammt von LEAD (Mercator Capacity Building Center for Leadership & Advocacy) in Kooperation mit der Unternehmensberatung Company Companions sowie der School of Public Policy (Central European University, Budapest) und dem Center for Leadership and Values in Society (Universität St. Gallen). Die Autoren empfehlen acht Rollen als Orientierungshilfen.
Die Landschaftsgärtnerin
Die Landschaftsgärtnerin gestaltet und pflegt Grünanlagen. Sie versteht das gesamte Ökosystem und weiß, wann welche Pflanzen im Jahreszeitenwechsel an welcher Stelle ihre Wirkung entfalten und wie alles zusammenspielt. Ihr Ziel: Das Unternehmen langfristig auf zustellen, wenn Krise und Veränderung zum Normalfall geworden sind. Sie ermöglicht schnelles „Prototyping“, geht unkonventionelle Partnerschaften ein und bricht Silos mittels heterogener, cross-funktionaler Teams auf.
Die Seismologin
Die Seismologin muss wissen, wo die Erde beben könnte. Dafür analysiert sie Daten, registriert feinste Erschütterungen und erkennt Spannungen frühzeitig. Sie erliegt aber nicht der Illusion, die Zukunft genau vorhersagen zu können. Ihr Ziel: Grundlagen für gute Entscheidungen in einer unübersichtlichen Welt zu schaffen. Sie etabliert „Situation Rooms“ zur Entwicklung von Handlungsstrategien, greift über digitale Plattformen auf verborgenes Wissen zu und schult ihre Intuition als zusätzliche "Datenquelle".
Der Zen-Schüler
Der Zen-Schüler ist in Ausbildung und Vorbereitung. Er lernt, reflektiert und prüft sich selbst. Achtsamkeit, Mitgefühl und Offenheit sind seine Tugenden, er pflegt eine disziplinierte (spirituelle) Praxis. Sein Ziel: Das finden, woran er sich festhalten kann, wenn sich alle an ihm festhalten. Er nutzt Coaching- und Mentoring-Programme, schafft physische Räume für den Ausgleich und richtet den Blick nach innen.
Der DJ
Der Discjockey bringt mit seiner Musik die Menschen zum Tanzen. Er setzt einen Rahmen, der motiviert, anregt und gemeinsame Energie erzeugt. Zugleich hat er ein offenes Ohr für Anregungen und sensible Antennen für das richtige Stück im richtigen Moment. Sein Ziel: Eine Kultur der Zugewandtheit zu schaffen – aber mit dem Fokus auf Ergebnisorientierung. Dafür baut er Empathie als Führungskompetenz auf, schafft Räume, in denen Menschen gerne arbeiten, und agiert als Vorbild für Zugewandtheit und Leistungsorientierung.
Die Intendantin eines Theaters
Die Intendantin eines Theaters wählt die Stücke für die Aufführung aus. Sie entwickelt den roten Faden und prägt die gesellschaftliche Wirkungskraft ihres Hauses. Die Künstler und deren Expertise bindet sie dabei ein. Ihr Ziel: in Zeiten großer Unsicherheit und Unplanbarkeit Orientierung zu geben. Über ein „Strategy Board“ schafft sie die Voraussetzung für Richtungsentscheidungen schaffen, erhöht mittels interaktiver Beteiligungsformen die Einigkeit über die Richtung – und hat den Mut zu klaren Ansage in der Krise.
Die Trainerin
Die Trainerin leitet eine Mannschaft taktisch, technisch und konditionell an. Sie bestimmt Trainingsablauf, Mannschaftsaufstellung und Strategie. Sie muss für Misserfolge geradestehen, Erfolge lässt sie ihrem Team. Ihr Ziel: Die Mitarbeiter zu mehr Verantwortungsübernahme zu befähigen. Dafür entwickelt sie über zeitgemäße Lernformate Kompetenzen entwickeln, baut gegenseitiges Vertrauen auf und führt Anreize zur Übernahme von Verantwortung ein.
Der Blogger
Der Blogger kommentiert Geschehnisse – zugespitzt, aufrüttelnd und meist aus einer persönlichen Sichtweise. Er will die Welt verstehen, erklären und übersetzen. Er lebt vom direkten Feedback der Leser. Sein Ziel: Veränderungsbereitschaft in die DNA des Unternehmens zu schreiben. Er kaskadiert die Geschichte der Veränderung in die Firma, moderiert gemeinsame Lernprozesse und gibt sichtbare Veränderungsanstöße.

Ist in Unternehmen die Veränderungsdynamik so groß, dass schriftliche Vereinbarungen das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen, dann gewinnen die individuellen und gemeinsamen Werte an Bedeutung: Sie schweißen zusammen. Aus dem gemein­samen Wertekanon erwächst der Zusammenhalt, den Planungen und Strategien nicht mehr schaffen können.

In die Unternehmenskultur eintauchen

Bleibt die Frage: Wie lässt sich in einem Unternehmen eine gemeinsame Wertebasis aufbauen? Was fördert einen entsprechenden Team-Spirit? Und wie kann das hierfür nötige Vertrauen aufgebaut werden? Die Antwort lautet: Indem ich als Unternehmen, als Führungsmannschaft (mit den Mitarbeitern) die Unternehmenskultur gezielt beeinflusse, entwickle und präge. Das ist keine einfache, aber eine unglaublich spannende und lohnende Aufgabe. Es ist eines der Kernthemen von Führung in der VUKA-Welt.

Wenn wir von Unternehmenskultur sprechen, meinen wir das kollektive Gedächtnis einer Organisation - die Erfahrungen der Menschen, aber auch die Narben, die durch schmerzhafte Maßnahmen herbeigeführt wurden. Diese Erlebnisse fließen in die Haltung und das Handeln jedes Einzelnen ein. Appelle hingegen verpuffen meist wirkungslos, ebenso wie bunte Poster mit Vertrauensslogans. Damit lassen sich keine Brücken bauen, die Menschen verbinden. Kulturarbeit erfordert tief gehende Interventionen, Impulse und Reize, damit sich etwas Neues bilden kann.

Wenn der Change also als alltägliche Herausforderung akzeptiert und gelebt werden soll, bedeutet das für Führungskräfte, sich der Werte und Prinzipien anzunehmen, die das gemeinsame Verhalten nicht nur beeinflussen, sondern prägen. Erst wenn nicht mehr die Symptome, sondern der eigentliche Kern im Fokus steht, kann kontinuierliche Veränderung gelingen, ohne dass sie den Beteiligten zur Last fällt.