Tipps und Checklisten

Wie Industrie 4.0 den Führungsstil verändert

23.06.2014 von Daniel Liebhart
Von Führungskräfte wird vermehrt Engineering und Fachwissen gefordert, BWL-Kenntnisse reichen nicht mehr aus. Auch verringern sich die Unterschiede zwischen Wissens- und Produktionsarbeiter signifikant. Daniel Liebhart, Dozent für Informatik an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Solution Manager bei Trivadis, zeigt in seiner Kolumne, wie sich Industrie 4.0 auf Unternehmen und Organisation auswirkt.
Daniel Liebhart ist Dozent für Informatik an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Solution Manager der Trivadis GmbH.
Foto: Trivadis GmbH

Der Begriff Industrie 4.0 beschreibt nichts weniger als die vierte industrielle Revolution. Kernelement ist dabei die vernetzte "Smart Factory". Sie erlaubt eine moderne und hochflexible Produktion, in der sich vom Kunden ausgelöste Aufträge durch die gesamte Wertschöpfungskette von der Bestellung des erforderlichen Rohmaterials über die Reservation der Bearbeitungsmaschinen, Montagekapazitäten, Lagerhallen und erforderlichen Logistikleistung bis hin zur Qualitätskontrolle und Auslieferung selbst steuern.

Möglich wird dieses Zukunftsbild, welches ursprünglich als Hightech-Strategie der Bundesregierung initiiert wurde, durch den Einsatz modernster Technologie in Kombination mit hochflexiblen und gut ausgebildeten Arbeitskräften. Ziel ist die Stärkung des Industriestandortes Deutschland als Produzent und weltweit führender Fabrikausrüster.

Dies ist notwendig und sinnvoll, denn laut Zahlen des Deutschen Statistischen Bundesamtes wird rund ein Viertel des Bruttoinlandproduktes hierzulande von produzierenden Unternehmen erwirtschaftet (T. Krüger et al.: Datenreport 2013, Bundeszentrale für politische Bildung).

Smart Factory

Der Schlussbericht des deutschen Arbeitskreises zum Hightech-Strategie Industrie 4.0 bringt es auf den Punkt: "In der neu entstehenden Smart Factory herrscht eine völlig neue Produktionslogik: Die intelligenten Produkte sind eindeutig identifizierbar, lassen sich jederzeit lokalisieren und kennen ihre Historie, ihren aktuellen Zustand sowie alternative Wege zum Zielzustand" (Bundesministerium für Bildung und Forschung: Zukunftsbild "Industrie 4.0").

Voraussetzung ist die flächendeckende Umsetzung der Technologien, die unter dem Begriff Internet der Dinge - in Zusammenhang mit Industrie 4.0 wird der Begriff "cyber-physische Systeme" verwendet - zusammengefasst werden können: Jede Produktionsmaschine, jedes Lager und jedes andere Betriebsmittel ist vernetzt und verfügt über minimale Intelligenz in Form von einfacher oder umfangreicher Computertechnologie. Dies ermöglicht eine wirtschaftliche und ressourcenschonende Produktion auf der Ebene des Einzelauftrags und damit eine eigentliche Abkehr von der zentral gesteuerten Massenproduktion.

Eine Smart Factory kann jedoch nur dann gewinnbringend eingesetzt werden, wenn auch die Firmenstrukturen angepasst werden. Heutige Organisationsformen sind für die zentrale Steuerung und Entscheidungsfindung ausgelegt: Die Grenzen der Tätigkeitsfelder von Unternehmen sind in der gesamten Wertschöpfungskette klar und stabil definiert.

Die Produktion in einer Smart Factory muss aufgrund der Sachlage (Auftrag, Material und andere Ressourcen) schnell und situativ gesteuert werden und ist damit auf dezentrale Entscheidungsmechanismen angewiesen. Bei Bedarf müssen Zulieferer in der Lage sein, definierte Produktionsschritte zu übernehmen, was wiederum eine Auflösung der starren Grenzen der Wertschöpfungsketten notwendig macht.

Kapazitätsflexibilität

Das Fraunhofer IAO hat über 650 Praktiker und Experten in der Studie "Produktionsarbeit der Zukunft -Industrie 4.0" befragt und ist dabei unter anderem dem Aspekt der dafür notwendigen Flexibilität auf den Grund gegangen (D. Spath et al.: Produktionsarbeit der Zukunft, - Industrie 4.0, Fraunhofer IAP, 2013). Der Einsatz hochflexibler, vernetzter und sich selbst steuernder Objekte kann nur dann erfolgen, wenn die Beschäftigten auch vernetzt und flexibel arbeiten.

96,9 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass menschliche Arbeiten wie Planung, Steuerung, Überwachung und Analyse wichtig oder sogar sehr wichtig für die Produktion der Zukunft sein werden.

Während der Einsatz modernster Computertechnologie die Wissensarbeit bereits nachhaltig verändert hat, stehen die Veränderungen in der Produktionsarbeit erst am Anfang. Es ist jedoch zu erwarten, dass die die 7,7 Millionen Beschäftigten des Produktionssektors schon bald durch den Einsatz von mobilen Endgeräten, sozialen Netzwerken und anderen Innovation der IT vor, nach und während der Arbeit unterstützt werden.

Eine wichtige Veränderung kann jedoch bereits vorweg genommen werden: Die Flexibilisierung der Produktion hat auch eine Flexibilisierung der Arbeitseinsätze zur Folge. Die Kapazitätsflexibilität als Antwort auf eine schwankende Nachfragesituation spielt für die Produktion in einem Hochpreisland wie Deutschland mit Lohnkosten, die durchschnittlich etwas mehr als 35 Euro pro Arbeitsstunde betragen, eine zentrale Rolle.

Heute sind Schwankungen mit Vorlaufzeiten im Wochenbereich üblich. Sie werden sich in den nächsten Jahren verstärken und es ist zu erwarten, dass der Bedarf an Arbeitskräften von Tag zu Tag oder gar innerhalb eines einzigen Tages stark schwanken wird. Das hat Konsequenzen auf die Art und Weise, wie das Personal in den Produktionsprozess und dessen Planung und Steuerung mit einbezogen ist.

Gefragt sind künftig flexible Arbeitsmodelle, die eine verbesserte Work-Life-Balance für die Mitarbeitenden ermöglichen und gleichzeitig den steigenden Bedarf an Kapazitätsflexibilität abdecken können.

Führungskraft 4.0

Automatisierung auch für einen einzelnen Kundenauftrag, vollständige Vernetzung von Wertschöpfungsketten über Firmengrenzen hinweg sowie intelligente, computergesteuerte Produktion und höchste Flexibilität: Das sind nur einige der Herausforderungen, die auf die Führungskräfte der Zukunft zukommen.

Es werden Persönlichkeiten sein, die betriebswirtschaftlich gut ausgebildet und auch technologisch auf dem neuesten Stand sind. Sie verfolgen die Entwicklungen und sind bereit, bestehende Fertigungsmethoden und Logistikketten zu überdenken und gegebenenfalls nutzbringend anzupassen.

Darüber hinaus hat Industrie 4.0 Konsequenzen in Bezug auf Organisationsstrukturen sowie die Mitarbeiterführung. Auch die Organisationsstrukturen werden sich der neuen Produktionsphilosophie anpassen. Im Klartext bedeutet dies, dass anstelle von zentral gesteuerten und klar strukturierten Organisationen gut vernetzte dezentrale und relativ autonome Einheiten werden.

An dieser Stelle kommt das klassische Shopfloor Management ins Spiel: Führungskräfte werden von Verwaltung und Bürokratie durch moderne Technologie entlastet und können wieder vermehrt am Ort des Geschehens wirken, also nahe bei der Produktion inmitten der Mitarbeitenden, die dafür zuständig sind.

Das bedeutet jedoch, dass auch auf Seiten der Führungskräfte vermehrt Engineering und Fachwissen gefragt ist - betriebswirtschaftliche Kenntnisse alleine reichen bei Industrie 4.0 nicht mehr aus.

Eine weitere Konsequenz ist die steigende Bedeutung der Vernetzung von Unternehmen entlang von Wertschöpfungsketten. Für Führungskräfte bedeutet dies, dass sie zu Lieferanten und Kunden ein partnerschaftliches und kooperatives Verhältnis entwickeln müssen - und einander wieder mehr vertrauen.

Was die Führung von Mitarbeitenden betrifft, können die Herausforderungen von Industrie 4.0 einfach auf den Punkt gebracht werden: Die Unterschiede zwischen Wissens- und Produktionsarbeiter werden sich signifikant verringern. Das bedeutet für das Management, dass beide auf dieselbe Art und Weise geführt und motiviert werden wollen: als gut vernetzte, selbstständige und gebildete Individuen.

Industrie 4.0 - auch eine Frage des Rechts
Wenn Maschinen die Fäden in die Hand nehmen und Entscheidungen für Menschen treffen, stellt sich automatisch die Frage nach dem juristischen Hintergrund. Hier ist noch vieles offen. Folgende Aspekte sollten Sie im Blick behalten.
1. Wer handelt im Internet der Dinge?
In unserer Rechtsordnung, ob im Zivilrecht, öffentlichen Recht oder Strafrecht, sind Handelnde und Zuordnungsträger von Rechten und Pflichten immer Menschen oder juristische Personen. Daran ändern auch M2M und IoT grundsätzlich nichts.
2. Vertragsabschluss durch Softwareagenten?
Was ist, wenn die Initiative zum Abschluss einer Online-Transaktion vollautomatisiert abläuft, also eine Maschine selbst den Bestellvorgang als Nutzer auslöst? Hier stellt sich die Frage, wie sich die Verantwortung für den konkreten Rechtsakt (die automatisierte Willenserklärung und der beidseitig rein elektronische, voll automatisierte Vertragsabschluss) zuordnen lässt. Er beruht ja ausschließlich auf einem zeitlich weit vorausgelagerten, abstrakten Programmiervorgang, einem Rechtssubjekt.
3. Unternehmensübergreifende M2M-Systeme brauchen Regeln
Werden komplexe M2M-Systeme unternehmensübergreifend aufgesetzt, kommt es nicht nur auf die technische Standardisierung, sondern auch auf die vereinbarten Nutzungsregeln an. Wie dürfen die Teilnehmer mit den Nutzungsergebnissen umgehen, und wie verhält es sich mit regulatorischer Compliance und Rechten Dritter, die der M2M-Nutzung entgegenstehen könnten (etwa Datenschutz, branchenspezifische Regulierung, Verletzung von Softwarepatenten oder sonstiger Rechte Dritter)?
4. Offene Fragen zu Logistik, Mobilität und Smart Home
Weitgehend ungeklärte Fragen lassen sich an M2M- und IoT-Beispielen zeigen:<br>Doch wem gehören die Daten?<br>Wie steht es um die Produkthaftung - wer ist Hersteller, und welche Regressketten bauen sich auf? <br>Wer haftet für Konnektivitätsausfälle?
5. Wer haftet in vernetzten Wertschöpfungsketten?
Wenn M2M der Schlüssel für vernetzte Wertschöpfungsprozesse ist, rückt automatisch auch die Frage der Haftung für mögliche Fehler und Ausfälle in den Vordergrund. Man wird zwischen der Haftung für fehlerhafte Datenquellen und Datenerzeugung einerseits und Fehlern in der Datenübermittlung andererseits unterscheiden müssen.
6. Unternehmen müssen Datenschutz im Blick behalten
Der Datenschutz ist über den weiten Begriff personenbezogener Daten, zu denen auch dynamische IP-Adressen gehören können, und die Möglichkeiten komplexer Datenauslese (Big Data) etwa in den Bereichen Mobilität, Energie und Smart Homes grundsätzlich immer im Blick zu halten. Es gilt sorgfältig zu prüfen und gegebenenfalls mit den Behörden abzustimmen, ob und wie er sich mit "informierter Einwilligung", Inter-essenabwägung und Auftragsdatenverarbeitung wahren lässt.

Checkliste: Wann ist ein Unternehmen bereit für Industrie 4.0?

  1. Das Unternehmen setzt mobile Geräte in der Produktion ein oder plant deren Einsatz. Beispiel: Die Überwachung stark automatisierter Prozesse mit dem Ziel des schnellen menschlichen Eingreifens in Fehlersituationen, beim Umrüsten von Maschinen oder Materialmanagement.

  2. Die Umstellung auf IT-basierte Automatisierungslösungen ist erfolgt, deren Vernetzung bereits geplant und über den Ausbau zur Unterstützung vernetzten, selbststeuernden Produktionsprozesse wird nachgedacht. (Laut der Studie „IT Innovation Readiness Index“ der Firma Pierre Audoin Consultants im Auftrag der Freudenberg IT sollen bereits 15 Prozent aller Fertigungsunternehmen soweit sein.)

  3. Es finden Vorbereitungen zur Abwicklung immer kleiner Losgrößen statt. Das Idealbild der Losgröße 1 als sich selbst steuernder Kundenauftrag. Dessen Konsequenz auf die Organisation und Produktionsmittel sind durchdacht sowie die entsprechende Systeme und deren Integration sind geplant oder skizziert.

  4. Das Personal ist auf den zunehmend schwankenden personalseitigen Kapazitätsbedarf vorbereitet. (Über 40 Prozent aller Befragten Unternehmen der Fraunhofer IAO Studie „Effektiver Personaleinsatz durch intelligentes und adaptives Kooperations- und Informationsmanagement in der Produktion“ gehen davon aus, dass diese Schwankungen in Zukunft zunehmen werden.)

  5. Das Unternehmen verfolgt die Aktivitäten der Industrieverbände Bitkom, VDMA und ZVEI im Rahmen der Plattform Industrie 4.0.

Die Führungskraft 4.0 muss …

1. … über Unternehmens- und Wertschöpfungsgrenzen hinweg denken.
2. … näher an der Produktion agieren.
3. … technologisch auf dem neusten Stand sein.
4. … den Aufwand von Verwaltungstätigkeiten durch modernste technologische Hilfsmittel gering halten.
5. … mit dezentralen Entscheidungsstrukturen und den damit verbundenen Konsequenzen umgehen können.

Thesen und Use Cases zu Industrie 4.0

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat Thesen des wissenschaftlichen Beirats der Plattform Industrie 4.0 veröffentlicht: (Zuletzt aufgerufen am 4.6.2014)

Der Arbeitskreis Industrie 4.0 hat 8 Use Cases im Rahmen von Umsetzungsempfehlungen für Industrie 4.0 - (letzter Aufruf 4.6.2014) zusammengestellt, deren Durchsicht sich lohnt:

1. Resiliente Fabrik
2. Technologiedaten Marktplatz
3. Intelligentes Instandhaltungsmanagement
4. Vernetzte Produktion
5. Selbstorganisierende adaptive Logistik
6. Kundenintegriertes Engineering
7. Nachhaltigkeit durch Up-Cycling
8. Smart Factory Architecture

Daniel Liebhart ist Dozent für Informatik an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Solution Manager der Trivadis GmbH. Er ist Autor des Buches "SOA goes real" (Hanser Verlag) und Mitautor verschiedener Fachbücher.