Projektmanagement

Wie man mit Ungewissheiten in Projekten umgeht

09.02.2017 von Christiane Pütter
Mit Risiko-Management beschäftigen sich Projektleiter viel, mit dem Management von Ungewissheit kaum. Wissenschaftler plädieren für eine neue Sichtweise.
  • Es gibt ein "Bauchgefühl" und dieses lässt sich auch nutzen
  • Nicht nur der "Faktor Mensch" verursacht Ungewissheiten
  • Klassisch gelten Risiken als berechenbar, Ungewissheiten nicht

"Die Beseitigung von Ungewissheit gleicht leicht einem Kampf gegen die Hydra, der nach jedem abgeschlagenen Kopf ein neuer an anderer Stelle nachwächst." Das sagt Fritz Böhle, Chef des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München. Gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern aus Informatik, Volkswirtschaftslehre und anderen Disziplinen hat Böhler die Studie "Umgang mit Ungewissheit in Projekten" verfasst, sie entstand für die Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement.

Unterschied zwischen Risiko und Ungewissheit

Die Autoren plädieren für eine neue Sichtweise. Sie unterscheiden zwischen Risiko und Ungewissheit. Ein Risiko ist etwas, das im Projektmanagement als berechenbar gilt. Risiken können eingeschätzt und gemanagt werden, die Rolle eines Risikomanagers ist geläufig. Anders bei Ungewissheiten.

15 Probleme beim Projektmanagement
1. Unklare Arbeitslast
Bryan Fagman vom Anbieter Micro Focus sagt, dass viele Projekte an einem nicht klar umrissenen Arbeitsaufwand scheitern. Schleichen sich hier Unschärfen ein, leidet das ganze Projekt. Im schlimmsten Fall bleibt undefiniert, wann es überhaupt abgeschlossen ist. Fagman mahnt deshalb an, Ziele im Dialog mit den Kunden klar zu benennen.
2. Undefinierte Erwartungen
Alle Beteiligten müssen von Beginn an wissen, welche Anforderungen ein Projekt stellt und welche Erwartungen zu erfüllen sind – sonst droht ein Fiasko. Tim Garcia, CEO des Providers Apptricity, nennt zwei entscheidende Dinge, die alle Team-Mitglieder vorab wissen sollten: was getan wird und wie man weiß, wann das Projekt abgeschlossen ist. „Ohne eine dokumentierte Vereinbarung, die Antworten auf diese beiden Fragen liefert, ist ein Projekt von Anfang an in Gefahr“, sagt Garcia.
3. Fehlende Management-Unterstützung
Die Unterstützung aus der Firmenspitze sollte unbedingt gesichert sein. Befindet man sich dahingehend mit der Chef-Etage nicht in Einklang, mindert das die Erfolgsaussichten beträchtlich, meint Brad Clark vom Provider Daptiv.
4. Methodik nach Schema F
Im Projekt-Management wird gemeinhin mit standardisierten Schlüsselaufgaben und Leistungen gearbeitet. Darin lauert nach Einschätzung von Robert Longley, Consultant beim Beratungshaus Intuaction, aber auch eine Gefahr. Die Standard-Ansätze seien meist auf Projekte einer bestimmten Größe ausgerichtet. Sie passen möglicherweise nicht mehr, wenn man sich an größere Projekte als in der Vergangenheit wagt.
5. Überlastete Mitarbeiter
„Team-Mitglieder sind keine Maschinen“, sagt Dan Schoenbaum, CEO der Projekt-Management-Firma Teambox. Projekte können auch daran scheitern, dass Mitarbeiter mit Arbeit überfrachtet werden. Vermeiden lässt sich das, indem man sich vorab ein klares Bild über die Stärken der Team-Mitglieder macht und auf eine sinnvolle Verteilung der Aufgaben achtet.
6. Ungeteiltes Herrschaftswissen
Projekte leben davon, dass Informationen nicht monopolisiert, sondern miteinander geteilt werden. Das geschieht oft dann nicht, wenn Ergebnisse erst nach langer Anlaufzeit geliefert werden müssen. Tim Garcia von Apptricity rät deshalb dazu, Projekt in kurze Phasen einzuteilen. An deren Ende sollte es jeweils Resultate geben, mit denen das ganze Team weiterarbeiten kann.
7. Unklare Entscheidungsfindung
Im Verlauf eines Projektes sind Änderungen der ursprünglichen Roadmap oft unvermeidbar. Es sollte beim Change Management aber klar dokumentiert werden, wer wann was geändert hat und wie die neue Marschrichtung aussieht.
8. Fehlende Software
Exel-Spreadsheets nötigen Projekt-Manager zu manuellen Korrekturen und führen oft zu Problemen bei der Status-Aktualisierung. Insofern ist es befreiend, mit Project Management Software zu arbeiten, die für automatische Updates sorgt und von lästigen manuellen Berichten entlastet. Dazu rät Brian Ahearne, CEO des Anbieters Evolphin Software.
9. Gefahr des Ausuferns
Change Requests sind alltäglich im Projekt-Leben, aber sie haben leider oft einen unerfreulichen Nebeneffekt: den Hang, Fristen und Budget-Rahmen immer weiter auszudehnen und auf Dauer zu Demotivation und Frust auf allen Seiten zu führen. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, sind neben klaren Zielvorgaben auch tägliches Monitoring und ein definierter Prozess für gewünschte Veränderungen sinnvoll. Das empfiehlt in jedem Fall Sandeep Anand, der beim Software-Entwicklungshaus Nagarro für Project Governance verantwortlich ist.
10. Nicht "Nein" sagen können
Im Sinne des Unternehmens sei es manchmal nötig, Anfragen abzulehnen, sagt Markus Remark vom Provider TOA Technologies. Gut sei es deshalb zu wissen, wie man "nein" sagt. Am besten habe man für solche Fälle auch gleich eine konstruktive alternative Lösung parat.
11. Mangelnder Zusammenhalt
Projektarbeit ist Team-Arbeit. In der Praxis gerieren sich manche Projekt-Teams aber wie in Eifersüchteleien gefangene Sportmannschaften ohne Erfolg, beobachtet Berater Gordon Veniard. Der Fokus auf das eigentliche Ziel gehe verloren. Stattdessen beschuldigen sich Grüppchen gegenseitig, für Probleme und schlechte Leistungen verantwortlich zu sein. Um das zu verhindern, ist Führung durch den Projekt-Manager gefragt. Und der sollte es verstehen, sein Team mitzunehmen und in Entscheidungen einzubinden. Ohne Kommunikation sei das Desaster programmiert, so Hilary Atkinson vom Provider Force 3.
12. Vergessener Arbeitsalltag
Hilary Atkinson hat nach noch einen weiteren Kommunikationstipp parat: Projekt-Manager sollten nicht vergessen, ihre alltäglichen Aufgaben zu erledigen. Wer als Verantwortlicher keine Meeting-Termine verkündet, Status-Berichte vergisst und E-Mails unbeantwortet lässt, riskiert unnötige Verzögerungen.
13. Zu häufige Meetings
Meetings, in denen der Status Quo besprochen wird, können nerven – vor allem dann, wenn sie zu oft stattfinden oder zu lange dauern. Wichtige Informationen lassen sich durch Collaboration Tools häufig besser an die Team-Mitglieder bringen, meint Liz Pearce, CEO des Providers LiquidPlanner. Ihr Tipps: Meeting auf die Entscheidungsfindung beschränken. In ihrem Unternehmen gebe es lediglich zweimal in der Woche ein Treffen, um neue Aufgaben zu verteilen und Prioritäten zu definieren.
14. Gut genug ist nicht immer gut
Sergio Loewenberg vom IT-Beratungshaus Neoris macht Nachlässigkeiten in der Qualitätssicherung als Problem aus. Es sei günstiger, Fehler zu vermeiden anstatt Geld und Zeit ins Ausmerzen ihrer negativen Folgen stecken zu müssen. Wer auf hohe Qualitäts-Standards achte, vermeide späteres Nacharbeiten und die Gefahr eines schlechten Rufes.
15. Nicht aus Fehlern lernen
Liz Pearce mahnt außerdem an, mit Hilfe entsprechender Tools eine mehrstündige Analyse nach Ende des Projektes durchzuführen. Nur Teams, die sich des ständigen Lernens verschreiben, seien dazu in der Lage, die Fehler der Vergangenheit in der Zukunft zu vermeiden.
15 Fehler beim Projektmanagement
Es gibt unzählige Wege, ein IT-Projekt an die Wand zu fahren. Unsere amerikanische Schwesterpublikation CIO.com hat 15 davon gesammelt – und verrät dankenswerterweise auch, wie man die Probleme beheben kann. Diese Tipps sind in der Bilderstrecke zu finden.

Entscheidern ist bewusst, dass sie bei jedem Vorhaben mit Ungewissheiten hantieren. Zu diesem Punkt gibt es aber weit weniger Literatur und Handlungsempfehlungen. Böhle beobachtet: "So erscheint letztlich nur mehr der Mensch, der ,human factor', als das Nicht-Berechenbare und als Störfaktor, dessen Einfluss es weit möglichst durch Technik und Organisation auszuschalten gilt."

Intuition, Erfahrungswissen und Bauchgefühl

Der interdisziplinäre Ansatz dieser Studie bezieht neurobiologische Erkenntnisse mit ein. Die Autoren zitieren Michael Gershon, der das Nervengeflecht um Dünn- und Dickdarm erforscht. Er spricht von einem "zweiten Gehirn" des Menschen. Das sogenannte enterische Nervensystem (ENS) fungiere als "höchst lebendige, moderne Datenverarbeitungszentrale". Das Team um Böhle sieht Projektmanager aufgefordert, Techniken zur Nutzung dieser "Datenverarbeitungszentrale" anzuwenden.

Konkret: Was Gershon als ENS bezeichnet, heißt umgangssprachlich Intuition, Erfahrungswissen oder Bauchgefühl. Künftig wird es im Projektmanagement darum gehen, Gespür und eine spürende Wahrnehmung zu lernen, beispielsweise durch Praktiken, die Künstler einsetzen. Die Vorstellung von Intuition als etwas, das "man hat" oder eben nicht, stellen die Wissenschaftler in Frage.

"Aber sie wissen nicht genau, wie sie es buchen sollen"

Gleichzeitig lehnen es die Studienautoren ab, Unwissenheit nur auf menschliches Empfinden zu beziehen. Manchmal geht es auch um steuerrechtliche Vorgaben und daraus resultierende Fragen der Bearbeitung. Beispielhaft sei ein Zitat eines Projektmitarbeiters genannt: "Ich hatte heute gerade ein Telefonat, die haben gesagt: ,Ja wir brauchen das, toller Business Case', irgendwelche Loans in Palladium und Edelmetallen. Aber sie wissen nicht genau, wie sie es buchen sollen, weil da Mehrwertsteuer anfällt. Sollen wir jetzt Netto oder Brutto beim Kunden buchen? Also unklare Anforderung bei gleichzeitigem Termindruck, 'Das muss aber schnell sein'."

5400 Softwareprojekte ausgewertet

Quantitative Studien über die Performance von Projekten zeigten folgende Ergebnisse: In einer Auswertung von rund 5400 Softwareprojekten überzog knapp jedes Zweite den Etat, mehr als jedes Zweite realisierte einen Lieferumfang, der unter den Vereinbarungen blieb. Außerdem wurden 318 industrielle, global angelegte Projekte ausgewertet. Knapp zwei Drittel davon verfehlten die Ziele. Im Schnitt überzogen die Vorhaben ihre Budgets um 40 Prozent und die Termine um 28 Prozent.

Typografie von Ungewissheiten

Böhle und sein Team typologisieren Ungewissheiten in Projekten. Demnach treten Ungewissheiten in folgenden Kategorien auf: In der Organisation, in Fragen unterschiedlicher Interessen, bei der Technik, beim Material und beim Menschen. Alle Typen von Ungewissheit ziehen sich durch sämtliche Projektphasen, also von Initiierung/Definition über die Planung und Durchführung/Steuerung bis zum Abschluss. Ungewissheiten entstehen intern (sowohl innerhalb des Projektes als auch im Unternehmen), intermediär (in Bezug auf Kunden oder Unternehmensnetzwerk) und extern, etwa durch politische Rahmenbedingungen.

Der Politologe Eckhard Heidling vom ISF typologisiert Ungewissheiten in Projekten für die Studie "Umgang mit Ungewissheit in Projekten" (Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement).
Foto: GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement

Innovatives Potenzial von Ungewissheiten erkennen

Fazit für die Studienautoren: Erfolgreiches ökonomisches Handeln muss sowohl auf der Anwendung formaler Methoden basieren als auch auf Erfahrungen. Sie fordern von Projektmanagern die Fähigkeit, Ungewissheit und Risiko unterscheiden und Ungewissheiten klassifizieren zu können. Böhle und die anderen Wissenschaftler glauben, dass es diese Sichtweise Unternehmen ermöglicht, innovatives Potenzial in Ungewissheiten zu erkennen.

Voraussetzungen dafür sind das Empowerment der Projektmanager, ein gutes Change-Management und eine Neuausrichtung des Zusammenspiels von Geschäftsstrategie und Projektmanagement-Team. Dieses Zusammenspiel erfordert mehr Interaktion und gegenseitiges Lernen.

Böhle schreibt: "Die weit verbreitete Unterscheidung zwischen sicheren und beherrschbaren technisch-materiellen und unsicheren, nicht-beherrschbaren humanen und sozialen Einflüssen entspricht nicht den realen Gegebenheiten bei Projekten."