Change Management

"Wie soll es sonst anders weitergehen?"

26.11.2012 von Sven Ohnstedt
Wie kann sich etwas im Gehirn verändern? Professor Gerald Hüther im Gespräch über Gedankenlosigkeit, Gier und Schwerstarbeit.
Gerald Hüther leitet die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg.
Foto: Gerald Hüther

Sie arbeiten offenkundig gerne.

Gerald Hüther: Ja, aber Sie müssen dabei zwischen Erwerbs- und Entwicklungsarbeit unterscheiden.

Worin besteht der Unterschied?

Wir arbeiten, um dafür Lohn zu erhalten. Das ist zumindest unsere derzeitige Vorstellung von Arbeit und dem entsprechend haben sich auch die Unternehmen entwickelt.

Ist Ihnen diese Vorstellung zu zweckmäßíg?

Sie ist ungünstig. Die größte Arbeit, zumindest aus wissenschaftlicher Sicht, vollbringt ein Mensch dann, wenn er sich weiterentwickelt. Also wenn er etwas lernt oder zu einer neuen Erkenntnis kommt. Diese Entwicklungsarbeit ist eigentlich das, was wir als Arbeit bezeichnen müssen.

Schließen sich Erwerb und Entwicklung gegenseitig aus?

Was glauben Sie, wer die größte Entwicklungsarbeit vollbringt? Denken Sie mal darüber nach.

Wenn Sie so fragen, dann vermutlich nicht die Erwerbstätigen.

Es sind tatsächlich kleine Kinder. Und sie vollbringen diese Arbeit im Übrigen nicht in der Schule: Spielende Kinder sind die größten Schwerarbeiter dieser Welt.

Wieso gerade im Spiel?

Weil sich spielende Kinder die Latte immer wieder genauso hoch legen, dass sich hinreichend mühevoll darüberspringen können. Wenn die Latte zu niedrig liegen würde, dann macht das Spiel keinen Spaß. Würde sie zu hoch liegen, wäre es ihnen schlicht zu schwierig.

Worauf wollen Sie hinaus?

Kinder erwarten, dass sie gestalten dürfen - dieser Wille ist unglaublich stark. Und wenn man ihn nicht bricht, dann bleibt er bis in das hohe Alter vorhanden. Dann bleibt die Haltung erhalten, weitere Kompetenzen erwerben und sich weiterentwickeln zu wollen.

Menschen verlieren also diesen Willen?

Um Kinder davon abzuhalten, ihre Welt gestalten zu wollen, muss man ihren Willen regelgerecht zerstören. Wenn sich Menschen jedoch im Laufe ihres Lebens nicht mehr als Gestalter fühlen, sondern als Opfer oder als Objekte, sozusagen als Gestaltete, dann geraten sie in schlimme Situationen.

Das müssen Sie erklären.

Sie werden dann erleben, dass etwas nicht mehr realisierbar ist, obwohl man es eigentlich möchte. Dieses ungestillte Bedürfnis lässt sich zwar ersatzweise befriedigen, also durch Konsum oder Aneignung von Macht. Aber satt werden sie davon nicht.

Auch nicht vorübergehend?

Sie können noch so viel Geld anhäufen: Dieses Bedürfnis, eigentlich jemand sein zu wollen, der geliebt wird, können sie so nicht stillen. Es lässt sich allenfalls kompensieren, denn das, was sie eigentlich bräuchten, bekommen sie ja nicht. Sie wissen aber auch nicht, wie sie es anders machen sollen.

So entsteht Gier.

Das ist ja gerade das Unsinnige: Die Leute bringen durch ihre Haltung zum Ausdruck, dass sie eigentlich Bedürftige sind. Es ist jedenfalls kein Ausdruck von Stärke, wenn sich jemand Macht aneignen muss. Und es ist auch kein Ausdruck von innerem Wohlbefinden, von einer guten Beziehung zu sich selbst, wenn einer unbedingt immer mehr haben will.

Metakompetenzen durch gemeinsame Ziele

Ihnen zufolge sollte man Menschen inspirieren anstelle sie zu motivieren. Können gierige Menschen überhaupt inspirieren?

Im negativen Sinne, ja. Nehmen sie beispielsweise soziale Netzwerke wie Facebook. Wenn man keine Verbundenheit oder Nähe erlebt, sucht man sich eben virtuelle Freunde - je mehr, desto vermeintlich besser. Es ist, wie gesagt, eben nicht das, was man wirklich braucht. Nur: Andere nehmen dies als Inspiration und verhalten sich genauso.

Was ist daran schlimm, jemanden zu imitieren?

Wir tun es alle. Und wir reden uns dabei oftmals gegenseitig ein, dass man über Ersatzbefriedigungen bekommen würde, was man eigentlich braucht. Wir führen den Gedanken nicht zu Ende - das ist das Problem.

Wie lautet die Lösung?

Die eine Lösung lautet: Liebe.

Ist es nicht ein bisschen viel verlangt, dass wir uns alle gegenseitig lieben sollen?

In der Tat. Daher die andere: individualisierte Gemeinschaften. Wir können eine Form von Beziehung herstellen, in der wir gemeinsam für etwas unterwegs sind, also in der jeder Einzelne feststellt, dass er gebraucht wird, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.

Wozu ein gemeinsames Ziel?

Weil in gemeinsamer Arbeit etwas entstehen soll, dass der Einzelne alleine nicht vollbringen könnte. Aber er trägt auf seine besondere Weise zum Gelingen bei - es kommt auf ihn an.

Können Sie Beispiele nennen?

Denken Sie an einen Chor oder auch an ein Schauspiel. Hier werden die gemeinsamen Leistungen sichtbar. In Unternehmen sollte es eigentlich auch so sein.

Aber was ist denn daran so grundlegend abwegig, einfach gedankenlos zu handeln, also ohne Inspiration oder den unbedingten Willen, etwas gestalten zu wollen?

Wir machen viele Dinge ohnmächtig, weil es auch so funktioniert. Wir machen das aus dem Bauch heraus, weil es sich halt so entwickelt hat. Manches davon ist ja auch richtig.

Und was davon ist falsch?

Um Ihnen das an einem Beispiel zu erklären: Früher musste ich gemeinsam mit meiner Familie im Wald nach Holz suchen. Da war jedes Kind wichtig, es war gemeinsame Arbeit. Und wir freuten uns alle gemeinsam darüber, dass die Stube am Abend warm war.

Eine individualisierte Gemeinschaft, oder?

Ja. Worauf ich jedoch hinaus möchte: Man erlebt, wie wichtig es ist, dass man seine Eigenheiten und Bedürfnisse auch mal zurückstellen muss, weil man gemeinsam für etwas unterwegs ist - ich nenne das Shared Attention. Mittlerweile wissen wir: Man erwirbt auf diese Weise sogenannte Metakompetenzen, also die Fähigkeiten, seine Handlungen zu planen, die Folgen von seinen Handlungen abzuschätzen oder auch sich in andere Menschen einzufühlen. Dazu gehört ebenfalls, seine Impulse zu kontrollieren und auch mal Frust aushalten zu können.

Können diese Fähigkeiten ausschließlich in solchen Gemeinschaften erlernt werden?

Sie lassen sich nicht unterrichten. Man erwirbt sie in Situationen, in denen man, um es platt zu sagen, den Nutzen von solchen Fähigkeiten erlebt. Das funktioniert aber eben einzig, wenn man mit anderen für irgendein gemeinsames Ziel unterwegs ist. Zumindest in der Vergangenheit hat dies auch immer funktioniert.

Wieso sollte es künftig nicht mehr funktionieren?

Weil gerade die erste Generation von Menschen groß wird, die weder Not noch Elend, Feinde oder Bedrohung erleben. Sie erfahren es gar nicht mehr, wie es ist, gemeinsam arbeiten zu müssen. Dem entsprechend bilden sie ihre Fähigkeiten auch nicht mehr aus.

Wohin führt das?

Wir bekommen dadurch eine Symptomatik, die wir Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, nennen.

Unsere Kinder werden also krank?

Gott sei Dank, dass uns das passiert!

Wie bitte?

Wie sollten wir jemals erkennen, dass wir durch die Art und Weise, wie wir unser Leben gestaltet haben, gerade dabei sind, uns etwas zu berauben, dass wir dafür brauchen, um weiterhin Menschen zu bleiben? Dadurch, dass man etwas falsch macht, bekommt man die Gelegenheit, es im Anschluss bewusst zu verändern - es selbst zu gestalten. Darum geht es! Es geht nicht darum, dass wir alles richtig machen. Es geht darum, dass wir lernen, was wir eigentlich alles brauchen, damit wir werden können, was in uns angelegt ist.

Sie neigen zur Philosophie.

Sie können ja gar nicht anders als zu fragen, wie es weitergehen soll.

Sind Sie nicht Gehirnforscher?

Sie müssen wissen, dass man ein Gehirn gar nicht verändern kann. Sie können einzig die Erfahrungsräume verändern, in denen die Menschen ihre Gehirne ausbilden.

Psyche und Physis gehören zusammen

Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?

Es gibt Hirnforscher, die damit zufrieden sind, wenn sie herausfinden, wie das Gehirn funktioniert. Ich gehöre zu denjenigen, die durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten und Erfahrungen gemerkt haben, dass an einem Gehirn auch noch ein Körper hängt. Ich kann jedenfalls nur dann Gehirnforschung betreiben, wenn ich auch den Körper betrachte.

Und was hat ein menschlicher Körper mit besagten Erfahrungsräumen zu tun?

Alles, was ich im Gehirn messen kann, hängt immer auch davon ab, wie es der Person gerade geht und wie sie beschaffen ist. Andererseits schlägt sich jeder Effekt, den man im Gehirn auslöst, im Körper nieder. Das kennt übrigens jeder: Wenn man Angst hat, dann wird einem plötzlich die Brust eng, der Atem stockt und die Knie werden weich - lauter körperliche Merkmale.

Wie kann sich etwas im Gehirn verändern?

Psyche und Physis gehören demnach zusammen.

Ja. Im Grunde ist es nicht zulässig, im Gehirn nach irgendwas zu suchen, wenn man dabei nicht auch den Erfahrungshintergrund betrachtet. Alle Vernetzungen, die im Gehirn entstehen, werden durch Erfahrungen geformt, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht - sei es in seiner Familie, in der Schule, in seinem Kulturkreis oder seinen Beziehungen.

Aber wie entsteht Bewusstsein darüber, was wir - so sagten Sie es gerade - tatsächlich brauchen?

Das ist es ja gerade, was uns in der Forschung interessiert: Wie kann sich etwas im Gehirn verändern? Die Frage nach Lernprozessen, nach Change Management ist für alle Teile der Gesellschaft von Bedeutung.

Sind Sie sich sicher? Wenn der Körper in der Gehirnforschung tatsächlich so wichtig ist, wieso existieren dann noch vermeintlich rückständige Forschungszweige?

Jede akademische Teildisziplin möchte sich etablieren. Folglich schützt sie sich erst einmal selbst, indem sie sich sowohl einschließt als auch abgrenzt. Es geht also zunächst um Definitionen und Organisationsstrukturen. Sie können wissenschaftliche Erkenntnis aber nicht aufhalten. Das müssen auch Wissenschaftler einsehen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass sie die zum eigenen Schutz aufgebauten Grenzen niederreißen müssen - keineswegs eine banale Aufgabe! Es scheint sogar eine Gesetzmäßigkeit zu sein, nach der sich Differenzierungsprozesse grundsätzlich ereignen: Erst sucht man sein Heil in der Abgrenzung, um später zu erkennen, dass man doch Teil eines größeren Ganzen ist. Auf menschlicher Ebene nennen wir ebendies eine neue Stufe des Bewusstseins.

Wieso gehen Sie mit Ihren gewonnenen Erkenntnissen eigentlich an die Öffentlichkeit?

Jedes Kind kommt mit viel mehr Vernetzungen zu Welt, als zum Schluss übrigbleiben. Ich entwickle daraus einen Impuls, um den Leuten zu sagen: Da geht noch was! Es hat gesellschaftliche Relevanz.

Wieso betonen Sie das?

Wissenschaft, die nur der Wissenschaft zuliebe betreiben oder entwickelt wird, hat ein großes Problem: Ihr fehlt das Korrektiv. Künstlern geht es mitunter ganz ähnlich. Wer holt einen zurück, wenn man sich verlaufen hat? Die Praxis und die gesellschaftliche Wirklichkeit sind deswegen wichtig, um die Wissenschaft daran prüfen zu können - wenn nicht gar: müssen. Wenn ich Erkenntnisse habe, die in keiner Weise zu Erfahrungen passen, muss ich mich doch fragen, ob ich Phänomene untersuche oder auf dem falschen Weg bin.

Gerald Hüther leitet die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg. Sein aktuelles Buch Jedes Kind ist hoch begabt erschien im Knaus-Verlag.

(Quelle: CFOworld.de)