Digitale Wertschöpfungsketten

3 Hürden bei Industrie 4.0

16.07.2015 von Christiane Pütter
Unternehmen denken noch nicht in digitalen Wertschöpfungsketten. Trotzdem hält IBM-Manager Fritz Vollmar die Situation in Deutschland für vielversprechend.
  • Wenn heute ein Produkt das Werktor verlässt, verlieren Unternehmen es aus den Augen
  • Die Lebenszyklen von IT und Produkten nicht zusammen
  • Es ist nicht geklärt, wer die unternehmensübergreifende Vernetzung managt
  • Noch fehlen vielfach Standards; die Landwirtschaft macht vor, wie es geht
Fritz Vollmar von IBM sieht den CIO in der Pflicht, die Digitalisierung voranzutreiben.
Foto: Fritz Vollmar, IBM

Ob man von Industrie 4.0 spricht oder vom Internet of Things, von einer Digitalisierung oder, dramatischer, von der disruptiven Revolution - immer geht es um den Wandel von Produkten und Dienstleistungen. Das berührt ganze Unternehmen und damit auch die Rolle des CIO. Fritz Vollmar, Industrie 4.0-Vordenker bei IBM Deutschland, will nicht in German Angst verfallen. In naiven Optimismus aber auch nicht.

Er sieht folgende Hürden:

1. Das Business hat noch nicht gelernt, in digitalen Wertschöpfungsketten zu denken. "In der klassischen Fabrikwelt ist das Produkt raus aus dem Blickfeld, sobald es das Fabriktor hinter sich lässt", erklärt Vollmar.

Positive Beispiele gibt es hier in der Automobilbranche. Stichwort autonomes Fahren: Erledigt der Wagen alles selbstständig, hat der Fahrer Zeit zum Online-Shoppen oder er kann schon mal das Restaurant vorbuchen. Abgerechnet und bezahlt wird alles über eine Karte, an der der Autohersteller beteiligt ist. " Die Autobauer beginnen, die Wertschöpfungsketten entlang des Lebenszyklus des Autos zu erschließen", sagt Vollmar.

Außerdem verändert das Denken in der Fertigung von individuellen Einzelstücken (genannt "Losgröße 1") im industriellen Maßstab den Showroom, so Vollmar weiter. Dort werden künftig weniger Autos herumstehen, statt dessen digitale bildliche Darstellungen, Augmented Reality genannt, mit deren Hilfe der Kunde sein Traumauto konfigurieren kann.

Ob die Branche von selbst auf diese Ideen gekommen ist oder durch den Druck von Tesla und Google, sei dahingestellt. Als sicher kann gelten: Eine andere Branche, Banken und Finance nämlich, sah lange vergleichbar tatenlos zu, wie Paypal am Geldhahn dreht.

Aufgabe des CIO ist hier, das Denken in eben diesen neuen digitalen Wertschöpfungsketten anzukurbeln. In der Praxis aber hätten "viele CIOs ihre Rolle noch nicht gefunden", beobachtet der IBM-Manager. Möglicherweise könne ein Chief Digital Officer (CDO) eine Brücke bauen.

2. Die Lebenszyklen von IT und Produkten passen nicht zusammen. "Ein Flugzeug hält 30 Jahre, ein Auto 15 - so lang hält keine IT", sagt Vollmar.

Wie es gehen kann, zeigt die Landwirtschaft am Beispiel "Isobus". Längst haben sich Trecker und Mähdrescher zu rollenden Rechnern entwickelt, die dem Bauern mitteilen, wie fruchtbar welcher Teil seines Ackers ist. Die Geräte kommunizieren über eine genormte Datenschnittstelle für die Landtechnik mit XML-Semantik, das heißt, sie werden protokoll-unabhängig empfangen.

"Die Landmaschinen-Industrie hat verstanden, dass man damit Geld machen kann", konstatiert Vollmar. Was nicht zuletzt daran liegt, dass sie auf ihre Kunden hört und deren Wünsche umsetzt. Folge: Der deutsche Landtechnikstandard ist mittlerweile weltweit gefragt.

3. Es ist nicht geklärt, wer die unternehmensübergreifende Vernetzung managt, und es fehlt an Standards. Das Beispiel mit dem selbstfahrenden Auto und seinen Daten, die für den Handel ebenso interessant sein können wie für Banken und Versicherungen, zeigt, wie sehr die Vernetzung über die einzelnen Firmen hinausgeht. "Wir brauchen Standards, damit wir nicht so einen IT-Wildwuchs kriegen wie vor 20, 30 Jahren", sagt Vollmar.

Das gilt übrigens nicht nur für die technologische, sondern auch für die juristische Seite. "Der Rechtsrahmen fehlt", stellt Vollmar fest. So ist es einer intelligenten Maschine zwar möglich, selbstständig einen Mechaniker zu rufen, doch sie "darf" ihn nicht ordern, weil nicht geschäftsfähig.

Industrie 4.0 - Leitfaden für CIOs
Industrie 4.0 - Leitfaden für CIOs
Stephen Prentice (Gartner) legt den IT-Verantwortlichen zwölf Dinge ans Herz, die sie für den IT-Beitrag zu Industrie 4.0 beachten beziehungsweise tun sollten:
1. Nur keine Panik!
Industrie 4.0 ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Die gute Nachricht: Wenn man nicht so genau sieht, wo es hingeht, kann man bislang auch nicht wirklich eine Gelegenheit verpasst haben.
2. Integrieren Sie Informationstechnik und operationale Technik!
Unter operationaler Technik (OT) versteht Gartner Ingenieurtechnik mit einer Langzeitperspektive. Sie liefert Information über das, was im Inneren der Produktionssysteme vor sich geht. Dabei ist sie digital, aber nicht integriert.
3. Steigern Sie den Reifegrad Ihres Fertigungsprozesses!
Lernen Sie Ihre Mitspieler auf der Produktionsseite kennen. Verstehen Sie deren Sorgen und Hoffnungen und planen Sie den gemeinsamen Fortschritt auf einem fünfstufigen Weg.
4. Integrieren Sie Ihre Informations-Assets!
Reißen Sie Ihre Silos nieder und öffnen Sie Ihre Unternehmenssysteme auch für externe Informationsquellen: Wetterdaten, Social Media etc. "Ihre wertvollsten Daten könnten von außerhalb Ihres Unternehmens stammen", konstatierte Gartner-Analyst Prentice.
5. Verinnerlichen Sie das Internet der Dinge!
Das Internet of Things (IoT) ist der international gebräuchliche Begriff für das, was die Grundlage der Industrie 4.0 - und des digitalen Business - bildet.
6. Experimentieren Sie mit Smart Machines!
Virtuelle Assistenten für die Entscheidungsunterstützung, neuronale Netze, cyber-physikalische Systeme, Roboter und 3D-Druck mögen aus der heutigen Perspektive noch als Spielerei erscheinen. Aber es lohnt sich, ihre Möglichkeiten auszuloten.
8. Scheuen Sie sich nicht, den Maschinen ein paar Entscheidungen anzuvertrauen!
Der Fachbegriff dafür ist Advance Automated Decision Making. Es gibt schon einige Bereiche, wo Maschinen statt des Menschen entscheiden, beispielsweise bei der Einparkhilfe für Kraftfahrzeuge.
9. Denken Sie wirklich alles neu!
Jedes Produkt, jeder Service, jeder Prozess und jedes Device wird früher oder später digital sein. Denken Sie sich einfach mal Sensoren und Connectivity zu allem hinzu.
10. Führen Sie bimodale IT ein!
Die Koexistenz zweier kohärenter IT-Modi (einer auf Zuverlässigkeit, einer auf Agilität getrimmt) gehört zu den Lieblingsideen der Gartner-Analysten. Stabilität und Schnelligkeit lassen sich so in der jeweils angemessenen "Geschwindigkeit" vorantreiben.
11. Kollaborieren Sie!
Werden Sie ein Anwalt für Industrie 4.0. Schließen Sie sich Peer Groups, Konsortien und Standardisierungsgremien an. Denn die besten Ideen müssen nicht zwangsläufig aus dem eigenen Unternehmen kommen.
12. Halten Sie die Augen offen!
Die Dinge verändern sich - ständig. Erfolgreiche Unternehmen wie Google und Amazon wissen das. Sie sind immer auf der Suche nach neuen Entwicklungen und Möglichkeiten.
7. Werden Sie ein Digital Business Leader!
Der CIO sollte sich für das digitale Business engagieren. Dazu muss er aber seinen Elfenbeinturm verlassen. Denken Sie von innen nach außen, rief Prentice die IT-Chefs auf, und verbringen Sie etwa 30 Prozent Ihrer Arbeitszeit mit Menschen von außerhalb Ihrer Organisation.

Deutsche Ausgangslage "vielversprechend"

Insgesamt aber stelle sich die Ausgangslage für Deutschland vielversprechend dar, so der IBM-Manager. Nach einer Studie des ZVEI haben 44 Prozent der Wertschöpfungsketten in Europa haben ihren Ursprung in der Bundesrepublik. Vollmar lobt hier die Plattform Industrie 4.0, die der Bitkom in Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) sowie dem Zentralverband Elektrotechnik und Elektro-Industrie (ZVEI) organisiert hat. Von Anfang an seien die Anwenderfirmen mit am Tisch gewesen. Ganz im Gegensatz zum US-amerikanischen Industrial Internet Consortium (IIC), wo die Anwender nur zuschauen durften.

Im April veröffentlichten ZVEI, Bitkom und VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) nach langen Beratungen das Papier "Umsetzungsstrategie Industrie 4.0. Ergebnisbericht der Plattform Industrie 4.0." Darin beschreiben sie wesentliche Kernbausteine für Industrie 4.0 und stellen ein Referenzarchitektur-Modell für Industrie 4.0 vor.

Miele kocht mit Watson

Und von wegen German Angst: IBM hat die auskochte Idee eines elektronisch gesteuerten Herds entwickelt, der Rezeptvorschläge des intelligenten Computersystems "Watson" verarbeitet. Das funktioniert so: Der hungrige Anwender sucht sich ein Rezept aus. Mit der Auswahl des Gerichtes werden die notwendigen Zubereitungsstufen übertragen. Der Herd bereitet das Leibgericht dann unter Berücksichtigung von Betriebsart, Temperatur, Kochzeit, Feuchtigkeit und weiteren Faktoren zu.

Gemeinsam mit Miele hat IBM diesen Herd dann gebaut und erstmals auf der Consumer Electronic Show (CES) vorgestellt. Das Ganze war zunächst nur eine Projektstudie, mittlerweile ist es mehr: "Ich bin überzeugt, dass solche Assistenzsysteme, wie sie Watson ermöglicht, das Kochen kreativer, komfortabler - und mit Blick auf die Ergebnisse - auch zuverlässiger machen", sagt Andreas Enslin, Leiter des Miele Design Centers und Initiator der Studie mit IBM. Und Vollmar stellt fest: "Deutsche können auch pragmatisch sein."