McKinsey entlarvt Scheinproblem

Agilität und Stabilität? Geht doch!

15.03.2016 von Werner Kurzlechner
Agilität und Stabilität zusammen geht kaum, so lautet ein vermeintliches Dilemma. Ein Scheinproblem, meinen die Berater von McKinsey. Und erläutern, wie Amazon, Coca-Cola und andere den Spagat hinbekommen.
  • Stabile Basis und dynamische Elemente – wie beim Smartphone
  • McKinsey erklärt die Ebenen Struktur, Governance und Prozesse
  • Meetings sind zum Entscheiden da, nicht zum Präsentieren
  • Notwendig im Unternehmen ist eine gemeinsame Sprache
Ein Smartphone verbindet Stabilität und Agilität. Unternehmen sollten sich das zum Vorbild nehmen, meint McKinsey.
Foto: McKinsey Quarterly

Smartphones sind schon spitze. Was man alles machen kann mit den robusten Dingern. Und die vielen praktischen Apps - super! Das denken sich viele CIOs bestimmt nicht immer im Alltag, aber widersprechen dürfte kaum einer. Das stimmt schon so mit den Smartphones, selbst wenn sie manchmal nerven. Was den meisten IT-Chefs beim Griff zum Computertelefon aber nicht bewusst sein dürfte: Sie nehmen auch ein Role Model in die Hand, das die Antwort auf eine der drängendsten und kompliziertesten organisatorischen Fragen der IT-Welt von heute liefert. Das sagen jedenfalls die Berater von McKinsey.

Firmen müssen ticken wie ein Smartphone

Die drängende Frage: Wie macht man sein Unternehmen agil, ohne dafür die wichtige Stabilität opfern zu müssen? Die Autoren Wouter Aghina, Aaron De Smet und Kirsten Weerda gehen in ihrem Beitrag "Agility: It rhymes with stability" in McKinsey Quarterly davon aus, dass ein falscher Widerspruch Ausgangspunkt aller Probleme ist: "Die Annahme von Führungskräften, dass sie sich entscheiden müssen zwischen Geschwindigkeit und Flexibilität - beides dringend benötigt - einerseits und andererseits der Stabilität und den Umfängen, die festen organisatorischen Strukturen und Prozessen innewohnen."

Viele werden jetzt sagen, dass das genau das doch das Problem ist. Einstige Startups zum Beispiel, die aus eigener Erfahrung wissen, wie sich ihr einstiger Wettbewerbsvorteil der Handlungsschnelligkeit allmählich verflüchtigte. Oder große Unternehmenstanker, die sich fragen, wie sie angesichts eingeschliffener Regelungen und Management-Hierarchien agil sein sollen. Das McKinsey-Trio meint, dass man sich von diesem Schein-Dilemma nicht einschüchtern lassen darf.

Wirklich agile Unternehmen sind stabil und agil zugleich

Paradoxerweise lernten wirklich agile Unternehmen, sowohl stabil - also belastbar, zuverlässig und effizient - als auch dynamisch - also schnell, behände und adaptiv - zu sein. Am leichtesten lasse sich die Essenz organisatorischer Agilität durch eine simple Produktanalogie begreifen, so die Autoren weiter. Bei Smartphones bildeten Hardware und Betriebssystem die stabile Basis. Aber eine dynamische Anwendungsschicht baue freien Raum ein, so dass bei veränderten Anforderungen neue Apps hinzugefügt werden oder alte Apps erneuert, modifiziert oder auch gelöscht werden können.

"In gleicher Weise gestalten agile Unternehmen ihre Organisationen mit einem Rückgrat aus stabilen Elementen", heißt es im Artikel. Die Elemente haben laut McKinsey eine Lebensdauer von mehreren Jahren - fünf bis zehn. Zugleich gibt es dynamische Ressourcen: die "Apps" eines Unternehmens, die genutzt werden, wenn sich neue Chancen ergeben oder unerwartete Herausforderungen die Stabilität gefährden. Was sie damit konkret meinen, erläutern die Berater an den Beispielen Struktur, Governance und Prozesse.

1. Struktur

Traditionelle Hierarchien legen laut McKinsey typischerweise fest, wo gearbeitet wird, wo die Leistung gemessen wird und wer für Extrazahlungen verantwortlich ist. Es gibt einen Chef, der die Arbeit insgesamt überblickt und die Berichte steuert. In agilen Organisationen fällt dieses einfache Bild auseinander. Hier werden die Mitarbeiter auf einer primären Ebene verortet - dadurch wird festgelegt, wo sie geschult werden und wo die für ihre Arbeit benötigte Infrastruktur zu finden ist. Für den Arbeitsalltag, die Leistungsbewertung und die Vergütungsentscheidungen gibt es quer zu dieser Ankerstruktur Teams, die je nach Marktanforderungen aufgestellt und aufgelöst werden.

Als Praxisbeispiel nennen die Berater einen globalen Chemiehersteller, der seine tradierte Fachbereichsstruktur über Bord warf. Die Mitarbeiter sind einerseits Funktionen wie Technik, Verkauf, Lieferkette oder Kundenservice zugeordnet. Daneben wurde aber eine Produktlinienorganisation geschaffen, auf der über Produktstrategien, Investitionen und Collaboration entschieden wird. Der Vorteil liegt nach Analyse der Autoren darin, dass dieses Unternehmen sich flinker als vorher auf entstehenden Märkten wie in China bewegen kann.

Coca-Cola als weiteres Beispiel illustriert, dass für McKinsey mit Agilität eben gerade kein Verlust an Stabilität gemeint ist. Der Getränkekonzern agiert seit vielen Jahren mit einer Matrix aus dominanten geographischen Einheiten und daneben/darunter wenigen starken Zentralfunktionen wie Marketing, Finance und Personal. "Spezifische Anpassungen gibt es oft, sobald sich neue Fragen oder Chancen ergeben, aber die Essenz der Matrix-Struktur ist im Grunde seit Jahren unverändert", schreibt das Beratertrio.

Im Gegensatz dazu habe ein anderes Konsumgüterunternehmen seinen regionalen Betrieb langwierig umgestaltet - nur um dann festzustellen, dass sich der Markt noch schneller veränderte und die eigenen mühseligen Veränderungen im Grunde überflüssig waren.

"Agile Unternehmen haben verstanden, dass die Stabilität eines organisatorischen Hauses geschäftskritisch ist, weil sie die Umsetzung von Mitarbeitern aus wenig erfolgreichen Zellen erleichtert - und das ohne Erschütterungen oder Angst vor Jobverlust, die traditionell Veränderungen erschweren oder verhindern", so McKinsey. Es gehe bei Agilität nicht um befristete Projekte, sondern um einen Einsatz von Mitarbeitern mit offenem Ende. Manchmal dauert dieser nur wenige Woche, manchmal einige Jahre.

2. Governance

McKinsey unterscheidet drei Typen von Entscheidungen. Erstens große Entscheidungen mit enormer Tragweite; zweitens häufige Entscheidungen, die fachbereichsübergreifenden Dialog und Zusammenarbeit erfordern; drittens kleinteilige Entscheidungen, die sinnvollerweise weit nach unten zu Mitarbeitern mit klarer Zuständigkeit delegiert werden. Aus Governance-Sicht ist der mittlere Typus der problematische. Hier wird nach Beobachtung der Autoren organisatorische Agilität häufig ausgebremst.

Erfolgreiche Firmen haben für sich klar geklärt, welche Entscheidungen in Gremien gehören und welche auf die alltägliche Betriebsebene delegiert werden. In den Gremien gibt es klare Regeln und Verantwortlichkeiten, so dass keine gedoppelten Rollen entstehen. Diese Aspekte wären beim Smartphones die stabile Hardware. Aber die agilen Unternehmen haben auch Apps eingebaut, sorgen also für schnelle Entscheidungen und Anpassungsfähigkeit.

So gibt es in den Gremien eine dynamische Rotation der Mitglieder und - wenn nötig - virtuelle Meetings. Geachtet wird darauf, dass bei Meeting zielgerichtet diskutiert wird und Entscheidungen herbeigeführt werden. Endlos-Präsentationen, oft zu bereits gelösten Fragen, werden vermieden.

Als Beispiel führen die Berater ein Energieunternehmen an, dessen interne Governance in die Binsen gegangen war. Seit der Neuaufstellung sind Gremien vom CEO dazu angehalten, sich vorbereitende Präsentationen vorab zu Gemüte zu führen. Als Vorbereitung auf Sitzungen, die zu 90 Prozent aus Dialog, Diskussion und Entscheidungsfindungen bestehen sollen. Meetings nach dem Meeting gibt es seither in diesem Unternehmen kaum noch.

Ein anderes Beispiel: Ein weltweit agierendes Healthcare-Unternehmen benötigte vor kurzem für simple Produktverbesserungen in einem einzelnen Land jedes Mal ein halbes Jahr, weil bis zu sechs entscheidende Gremien eingebunden werden mussten. Seit einer Neuausrichtung gelingt das binnen weniger Wochen, weil dafür jetzt ein einziges abteilungsübergreifendes Team zuständig ist. Geschärft wurden überdies die Verantwortlichkeitsschwellen, bis zu denen keine Vorgesetzten ihr Plazet geben müssen.

3. Prozesse

Wirklich agile Unternehmen zeichnen sich laut McKinsey dadurch aus, dass ihre Dynamik auch bei den Schlüsselprozessen durch ein stabiles Rückgrat unterfüttert ist. "Dabei handelt es sich üblicherweise um Prozesse mit Signalwirkung, in denen diese Unternehmen individuell herausragen und die sie explizit standardisieren können - was andere Firmen aber nicht einfach kopieren können", so die Autoren.

Bei einem marken- und innovationsgetriebenen Konsumgüterkonzern wie Procter & Gamble stünden etwa Produktentwicklung und externe Kombination weit oben auf der Liste dieser Signalprozesse. Bei Amazon sei es die synchronisierte Lieferkette, in der Entscheidungsrechte auf Basis einer gemeinsamen Sprache und Standards identifiziert werden.

"Wenn jeder versteht, wie die Schlüsselaufgaben ausgeführt werden, wer was tut und wie bei neuen Initiativen der abgestufte Zeitrahmen für neue Investitionen aussieht, dann können sich Unternehmen schneller bewegen, indem sie ihre Mitarbeiter und ihre Ressourcen in neuen Einheiten, Ländern und Märkten einsetzen", heißt es im Artikel. "Anders formuliert: Jeder muss dieselbe standardisierte Sprache sprechen."

Auf die Verhaltensnormen kommt es an

In ihrem Fazit konstatieren die Autoren, dass eine Voraussetzung für den echten Wandel die Installierung von Verhaltensnormen sei, die für den Erfolg benötigt werden. Und dabei gehe es nicht um kulturelle Statements oder Debatten über Werte. Sondern darum, "wie wir hier die Dinge machen". Pauschal lässt sich nach Meinung der Berater nicht sagen, wie diese Normen konkret lauten müssen - das hängt vom jeweiligen Einzelunternehmen ab. Aber je stärker die Verhaltensregeln auf allen Ebenen etabliert sind, umso leichter könnten im Streben nach Agilität Strukturen, Governance und Prozesse verändert werden.