AOK will Krankenkassen-Standard durchsetzen

Baustelle mit Risiko

06.05.2002 von Andreas Schmitz
Das Konzept der AOK, mit SAP eine ERP-Branchenlösung zu schaffen, ist so ambitioniert wie umstritten. Die Konkurrenz hält wegen der komplexen und sich ständig ändernden Gesetzeslage wenig davon.

Vor fünf Jahren entwarf Herbert Reichelt erstmals Pläne einer Standardlösung für die Krankenversicherungsbranche: Kundenmanagement, elektronischer Handel, Internet-basierte Technologien. Seitdem ist einiges geschehen, vieles davon hinter verschlossen Türen. Einen Branchenstandard gibt es immer noch nicht, doch für den IT-Chef des Bundesverbandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) läuft alles nach Plan.

Rückblick: Im Januar 1999 gründet die AOK ihre ITTocher AOK-Systems; ein drei viertel Jahr später beginnen die Gespräche mit dem ERP-Spezialisten SAP. Erst im Juni letzten Jahres, also eineinhalb Jahre später, steht fest, dass SAP als strategischer Partner einsteigt. Doch einen Bereich meidet die Firma: die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). "Dabei ist gerade die Software für die GKV ein Riesenbrocken", gibt IT-Spezialist Gerhard Penssler von der Hamburger Techniker Krankenkasse (TK) zu bedenken. "SAP stellt hier aber lediglich die Basis zur Verfügung." Aufgrund der Komplexität und des stetigen Wandels der Gesetzeslage habe das Unternehmen wohl dankend abgelehnt, vermutet Penssler. Den GKV-Block, der unter anderem die Bestandsführung und die Leistungsabwicklung beinhaltet, entwickelt die AOK-Systems jetzt allein. "Das ist unsere Kernkompetenz", so Reichelt. Die Kassenspezialistin Petra Münzberg von der Unternehmensberatung Diebold beschreibt die Situation: "Viele Krankenkassen halten sich mit ähnlichen Projekten zurück und warten ab, was bei der AOK passiert." Mancher formuliert es drastischer: "Wann fliegen die damit wohl auf die Schnauze?"

Erster Branchenstandard scheiterte

Die AOK ist gewarnt. Schon vor drei Jahren startete ein ähnliches Projekt. Die Firma See brachte die Barmer, die DAK und fünf weitere Ersatzkassen hinter sich mit dem Ziel, eine Lösung für alle Versicherungen zu schaffen. Doch jede Kasse stellt spezielle Anforderungen, eine Übereinstimmung war nicht zu erzielen. Es steht also viel auf dem Spiel für die AOK: nicht nur die 250 Millionen Euro Kosten, sondern auch der Ruf der "Gesundheitskasse".

Das Kernsystem der AOK stammt aus dem Jahr 1976 und heißt Integriertes Datenverarbeitungssystem (IDVS). Das Bestandsführungssystem der ersten Stunde berechnet Leistungen und verarbeitet Kundendaten. Grund zu klagen gab es bei den Entwicklern und rund 70000 Anwendern bislang kaum. "Doch je mehr Ergänzungs-Tools wir in das Cobol-basierte Anwendersystem integrieren, desto länger dauert die Verarbeitung", erklärt AOK-Mann Reichelt; "da laufen Sie über kurz oder lang vor die Wand."

Immer näher rückt der Punkt, an dem die Ablösung des Systems unumgänglich wird. SAM musste her - der "SAP-AOK-Master". Was zunächst als Notfalllösung für die AOK-IT gedacht war, soll nun weit mehr werden: ein Standard für die ganze Branche auf der Basis von My SAP.

SAM ist generalstabsmäßig geplant. Nach einem dreimonatigen Evaluations-Workshop Anfang 2000 folgte die Grundsatzentscheidung für projektbezogene Arbeit und gegen eine Machbarkeitsstudie. Mitte letzten Jahres stand die Strategie schließlich fest: "Altsysteme ablösen und parallel dazu neue einführen." Schritt für Schritt wird IDFS nun durch My-SAP-Bausteine und GKV-spezifische Zusatzmodule abgelöst. Der Business Partner (BP), ein Modul zur Beitragsführung, befindet sich derzeit als erstes von vielen im Test. Der Gesamtpilot startet im Oktober, der Rollout-Master soll bis 2007 abgeschlossen sein.

Glaubenssache: SAP oder Java-Umgebung

Von SAM erhofft man sich eine erhebliche Steigerung der IT-Effizienz und einen Rückgang der Wartungskosten. "Bereitete der Datenträgeraustausch wegen der vielen Datenformate vor acht Jahren noch enorme Probleme, so werden die Abstimmung und Konvertierung von Daten in Zukunft wesentlich erleichtert", verspricht Reichelt.

Bis alle 17 Landesgesellschaften My SAP nutzen können, wird die Bundes-AOK voraussichtlich 250 Millionen Euro investiert haben. "Das ist keine Eh-da-Kalkulation nach dem Motto: Personal, das wir ohnehin einsetzen, ver-ursacht keine Kosten", verteidigt Reichelt als Vorstandsbevollmächtigter die Entscheidung. Personal fließe neben den Entwicklungskosten in die Kalkulation mit ein. Das relativiert auch den Unterschied zu den 30 Millionen Euro, die die Techniker Krankenkasse für die Eigenentwicklung ihres Bestandsführungssystems TK easy (ergonomisches Anwendungssystem) veranschlagt; oder den 50 Millionen, mit denen der Bundesverband der Betriebskrankenkassen für die Renovierung der Bestandsführung kalkuliert.

Konzipiert ist die Entwicklungs- und Anwendungs-umgebung TK easy für 5,3 Millionen Kunden; die AOK braucht hingegen eine Infrastruktur für 27,3 Millionen Mitglieder. TK-IT-Vorstand Hans-Dieter Koring: "Wir wollten von Anfang an keinen Branchenstandard schaffen." Auch der Bundesverband der Betriebskrankenkassen hat nicht diesen Anspruch. Die Anforderungen der einzelnen Krankenkassen unterscheiden sich nach TK-Ansicht stark: "Jeder schneidert nach seinen Bedürfnissen", so TK-easy-Entwicklungsleiter Penssler. "Das ist wie beim Auto; da können Sie auch nicht beliebige Baugruppen von Ford nehmen und in einem Mercedes einsetzen." Daher unterstützte die TK das von See initiierte Projekt nicht; die AOK hatte damals noch keinen Vorstoß unternommen. Da die Kostenerstattung gesetzlich fixiert ist, liege der Unterschied bei den Kassen im Service, sagt Koring. Ein Standard würde Wettbewerb verhindern.

Bei der TK übernimmt SAP R/3 nach wie vor betriebswirtschaftliche Abläufe, während das Java-Programm TK easy den Sozialversicherungsteil erledigt. Alle Daten, die zwischen Versicherten, Arbeitgebern und Krankenkassen benötigt werden, verarbeitet TK easy. Knapp ein Fünftel der Anwendungen läuft bereits auf der neuen Plattform; 2005 soll das Projekt abgeschlossen sein. Drei Jahre benötigte Penssler für die Integration der Plattform in bestehende SAP-R/3-Strukturen.

"Es ist die pragmatischste Lösung auf dem Krankenversicherungsmarkt", meint Helmut Meitner, der für IT und E-Business zuständige Partner bei der Frankfurter Unternehmensberatung Roland Berger Strategy Consultants. Sie habe zudem innovativen Charakter und - funktioniere.

Betriebskrankenkassen setzten auf Java

Dagegen steckt das Konzept des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen derzeit noch in der Pipeline. Der IT-Dienstleister der Betriebskrankenkasse, die Arbeits-gemeinschaft Informationssysteme in der gesetzlichen Krankenversicherung (ARGE IS KV), setzt seit fünf Jahren die IT-Strategien der Bundes-BKK um. Auch die Betriebskrankenkassen, die 12,7 Millionen Mitglieder zählen, haben eine Altlast zu tragen - das Informationssystem für die gesetzlichen Krankenversicherungen (ISKV). Nun soll ISKV nach und nach aus dem BKK-Alltag verschwinden. Wie bei der TK lautet die Strategie: keinen Standard, kein SAP. Für das neue System ISKV 21 setzen die Betriebs-krankenkassen auf ein Produkt des Schweizer SoftwareHauses AIC mit der Bezeichnug Open Ikos - eine Java-Entwicklungs- und Anwendungsumgebung ähnlich wie bei der TK. Jetzt laufen die Entwicklungen, in zwei Jahren sollen die Piloten starten. "Für den Einsatz von SAP wäre eine umfangreiche Anpassung der Randbedingungen nötig gewesen, die Entwicklung um den Faktor fünf bis zehn teurer geworden", sagt ARGE-Geschäftsführer Andreas Prenneis.

Die AOK ist da anderer Meinung. "SAP ist immer gut" habe ihm dennoch nie als Motto gedient, beteuert Reichelt. Bereits 1994 stieg SAP mit dem betriebswirtschaftlichen Zweig bei der AOK ein. Da hatte der Software-Anbieter noch keine Branchenlösung parat. Als man fünf Jahre später wieder an die Tür klopfte, war My SAP Insurance gerade fertig, eine Speziallösung für Versicherungen. My SAP Insurance kommt jedoch in der USA angeblich nicht so gut an. "Zudem ist der deutsche Markt für eine KV-Branchenlösung zu klein", meint TK-Vorstand Koring. Dennoch: Die AOK möchte durch den neuen Standard eines Tages eine Menge Lizenzgebühren kassieren - um die Investitionen zumindest teilweise wieder einzufahren. Die größte deutsche Ersatzkasse, die Barmer, hat sich der Sache inzwischen angeschlossen; das gescheiterte See-Projekt hatte sie ja in IT-Hinsicht heimatlos gemacht. Das möchte die Barmer nicht mehr erleben.