Business Rules

Brücken zwischen IT & Business

07.02.2005 von Andreas Schmitz
Von IT-gesteuerten Abläufen in der Stahlbranche bis hin zu Preismodellen in der Telekommunikation: Business Rule Management hilft Unternehmen, ohne Umweg über die IT Geschäftsregeln zu ändern. Verbindliche Standards entstehen gerade.

Seit Mitte Dezember 2004 brummt der Verkehr auf dem zweieinhalb Kilometer langen und 270 Meter hohen Viadukt von Millau, das das Flusstal des Tarn im Südwesten Frankreichs überspannt. 43 000 Tonnen Grobblech vom Stahlproduzenten Dillinger Hütte verarbeitete der britische Architekt Norman Foster für die "Multischrägseilbrücke". Um die optimale Qualität der Bleche gewährleisten zu können, setzt Werner Jungmann auf Business Rule Management bei der Herstellung. "Die komplexen Prozesse erfordern manchmal schnelle Änderungen", sagt der Leiter Informationstechnik bei Dillinger Hütte. Wenn das System über die Qualitätssicherung eine unebene Oberfläche feststellt, leitet es dieses Blech automatisch in eine Richtmaschine oder lässt es wegen dieser Fehler zusätzlich putzen. Auf einen Stoß, also einer Sammelstelle von Blechen, die zum Verladen zwischengelagert und zwischenzeitlich über das System für die Verladung disponiert werden, lädt ein Kran von diesem Zeitpunkt an keine weiteren Bleche auf. Vor wenigen Jahren nutzte Jungmann noch in Fortran geschriebene Programmbausteine. Entscheidungstabellen erwiesen sich für die komplexen Regeln als ungeeignet. Heute erfasst das Geschäftsregel-Management von Dillinger Hütte etwa 350 teilweise hochkomplexe Abläufe in einem weit verzweigten Entscheidungsbaum.

Als Business Rules Management (BRM) bezeichnet man den einfachen Eingriff in Regeln, ohne tiefes Verständnis von IT-Funktionen. Technisch steckt hinter BRM eine Middleware, die fachliche Logik unternehmensweit verfügbar macht. "Fachliche Zusammenhänge und Geschäftsprozesslogik werden durch Regelausdrücke in natürlicher Sprache explizit gemacht und mit Formalismen und Tools in Unternehmensanwendungen gebracht", sagt Gerd Wagner von der TU Cottbus. Auf Business Engines oder Servern laufen sie selbstständig ab. Business Rules sind in Umgangssprache formuliert, es gibt Dienste zur automatischen Ausführung, Überwachung und Verwaltung. Zudem helfen Schnittstellen bei der Integration in die IT-Landschaft.

In der Telekommunkationsbranche lassen sich mit BRM-Systemen etwa Preispläne von Handytarifen unkompliziert verändern. Der Rahmen der Kreditvergaberichtlinien nach Basel II lässt sich für die Banken einfach erfassen und erfüllen; Gleiches gilt für die Regeln für den Handel mit Wertpapieren oder die Ermittlung der Kreditwürdigkeit. Selbst nach Vertragsabschluss, so ein Anbieter, ließen sich Details, beispielsweise in einem Leasing-Vertrag, noch im Word-Dokument ändern und entsprechend anpassen.

Der Schweizer Experte Markus Schacher vergleicht Geschäftsregeln mit einem Staat: Der CEO legt als "Legislative" die Vorgaben und Marktstrategien fest, die im Regelwerk enthalten sein sollen. Das "Volk" sind in den Unternehmen sowohl die Mitarbeiter als auch die Anwendungen, die entsprechend dieser Vorgaben handeln. "Die Rule Engine als Exekutive führt sämtliche im System erfassten Vorgaben aus, überprüft die Tätigkeiten der Mitarbeiter und schränkt sie - falls nötig - ein, erläutert Schacher, der als einer von zwei Europäern in der "Business Rule Group" vertreten ist, die sich weltweit als Erste mit der Konzeptionalisierung von Business Rules beschäftigte.

Wie aus der Bramme eine Walztafel wird

Aus einem 350-teiligen Baukasten können sich Techniker und Ingenieure der Dillinger Hütte heute bedienen. In den Fachabteilungen ist die Engine des französischen Spezialisten Ilog im Einsatz, J-Rules genannt. IT-Wissen ist dafür kaum nötig. Im Fertigungsplan finden sich Kundenwünsche, logistische Abläufe und metallurgische Anforderungen wieder, die bei Bedarf schnell geändert werden können. Geschäftsregeln bestimmen den gesamten Ablauf: Von der vier Meter langen Bramme, die im Stoßofen vorgeheizt und bei 1150 Grad Celsius zu einer Walztafel ausgewalzt wird, über das Schneiden der Bleche bis zu einer maximalen Dicke von 40 Millimetern bis hin zur ständig begleitend laufenden Qualitätssicherung des Herstellungsprozesses: Jeder Teilschritt findet sich in Geschäftsregeln wieder. 270 Personentage von je 600 Euro hat der 62-Jährige für den 5400-Mann-Betrieb bis jetzt investiert, abgesehen von den mit etwa 25 Prozent zu Buche schlagenden Lizenzkosten.

Das Management der Geschäftsregeln ist nach Ansicht Schachers auf der Schwelle zum "Mainstream". Im Gartner'schen Hype-Cycle rangiert BRM nach Jahren im "Tal der Desillusionierungen" bereits seit Mitte 2003 im Bereich der "Reife". Schacher etablierte 2001 die European Business Rules Conference (EBRC) in Europa, die ein zwar langsames, aber stetiges Wachstum verzeichnet. Auch die Deutsche Akademie für Informatik schreibt in ihrem Seminarprogramm davon, dass bevorstehende Standardisierungen dabei helfen werden, Geschäftsregeltechnologien als wesentlichen Bestandteil der IT-Strategie anzuerkennen.

In drei Bereichen herrscht derzeit noch Einigungsbedarf dahingehend, wie Regeln formuliert und verwaltet werden und wie die Business Rules Engine aufgerufen wird, die die Regeln abarbeitet. Im letztgenannten Bereich haben sich die Firmen Ilog und Fair Isaac auf einen auf Java basierenden API-Aufruf-Standard geeinigt, "JSR-94, doch die anderen beiden Sektoren sind noch unterentwickelt. Inzwischen baut die US-Firma Ecomnets sogar auf diese Einigungslücke, entwickelt spezielle Werkzeuge für die Migration zwischen den Systemen oder ermöglicht den Parallelbetrieb von Rules Engines verschiedener Hersteller. Zudem ist eine Rule Markup Language Initiative (RuleML) aktiv. Deren Strategie: über einen XML-ähnlichen Standard proprietäre Lösungen unter einen Hut zu bringen. "Eine ernst zu nehmende Initiative, die immer wichtiger wird", so Schacher, der beobachtet, dass immer mehr RuleML-Sympathisanten im wohl mächtigsten Standardisierungsgremium, der Object Management Group (OMG), zu finden sind. Darin sind auch wichtige Hersteller wie Computer Associates, Fair Isaac und Ilog vertreten.

"Anbieter entsprechender Systeme kommen entweder aus der Expertensystem- oder der Workflow-Ecke", so Schacher. Wichtige Vertreter der expertensystemgeprägten Anbieter sind Computer Associates mit ihrem Produkt Aion oder Fair Isaac mit dem Blaze Advisor, aus dem Workflow-Bereich Pegasystems mit Pega Rules oder Versata mit der Logic Suite. "Die beiden Bereiche wachsen immer mehr zusammen, wie etwa die Partnerschaft des Business-Engine-Produzenten Ilog mit dem Workflow-Spezialisten Versata zeigt", so Schacher. Zwischen den Fronten steht Softwaregigant Microsoft, der in den Biztalk-Server 2004 erstmals eine Rule Engine einbaute und somit seine Ambitionen auf diesen keimenden Markt anmeldete. "Microsoft darf man schon allein aufgrund seiner Marktmacht nicht unterschätzen", warnt Schacher.

Den Markt beobachtet Stahl-CIO Jungmann mit Argusaugen, denn er ist noch nicht konsolidiert. Nicht Ilog, sondern die US-Firma Gensym installierte 2001 die erste Rule Engine beim saarländischen Stahl- und Grobblecherzeuger. 2002 geriet Gensym jedoch in wirtschaftliche Schwierigkeiten und zog seinen Support aus Deutschland zurück - "ein Risiko für Dillinger Hütte", so Jungmann. Der IT-Chef überdachte sein Konzept und entschied sich für Ilog. "Die bestehenden Systeme haben wir noch laufen, aber wir erweitern sie nicht mehr", sagt Jungmann. "Vor dem Einsatz eines ordentlichen Geschäftsregelsystems kostete jede Änderung im Prozess viel Zeit und Geld." Heute erfordert BRM gerade mal einen halben Manntag pro Monat - ein Erfolg für Jungmann.