IT-Manager wetten

Der digitale Zwilling wird die zentrale Datenplattform

13.08.2019 von Frank Riemensperger
Frank Riemensperger, wettet, dass sich der digitale Zwilling in fünf Jahren in vielen Branchen als zentrale Datenschaltstelle in einem digitalen Ökosystem aus Herstellern, Zulieferern und Kunden durchgesetzt hat.
Autor Frank Riemensperger ist Vorsitzender der Geschäftsführung bei Accenture.
Foto: Accenture

Manch langjähriger Beobachter der IT- und Tech-Szene mag mittlerweile entnervt denken: Jedes Jahr eine neue Sau, die durchs Dorf getrieben wird, nur um dann wieder in den Weiten von Digitalien zu verschwinden. Und dieses Jahr? Besucht man die einschlägigen Fachmessen und klickt sich aufmerksam durch die LinkedIn-Beiträge geschätzter Kollegen, könnte man zum Schluss kommen, dass das derart gescholtene Borstentier nunmehr den Namen "Digitaler Zwilling" trägt. Doch dieser Eindruck trügt, denn mit dem "Digital Twin" und in Erweiterung dem "Digital Thread" reden wir über ein Konzept, dass wohl wie kaum ein anderes in jüngster Vergangenheit die Art und Weise, wie wir Produkte und Services entwickeln, vermarkten und optimieren, verändern wird.

Die Analysten von Gartner gehen davon aus, dass bereits bis 2021 die Hälfte aller Industrieunternehmen den digitalen Zwilling nutzt. ­Dabei bezeichnet der Begriff keine neue Technologie, sondern steht vielmehr für das Zusammenspiel einer Reihe von vorhandenen Technologien in Kombination mit großen Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen. Das ermöglicht die virtuelle Replikation von realen Produkten sowie die Simulation zahlreicher Prozesse über den gesamten Lebenslauf eines Produkts hinweg.

Bausteine eines Digital Twin

Werfen wir zunächst einen Blick auf die "Bausteine" des digitalen Zwillings: Das sind zum einen mit IoT-Sensoren ausgestattete Produkte, die zahlreiche Konstruktions- und später im Einsatz beim Kunden auch Betriebsdaten in Echtzeit erfassen. Das ist zum zweiten die Cloud, in der alle Informationen auf einer digitalen Plattform zusammenlaufen. Drittens kommen KI-Algorithmen für die Auswertung der Daten zum Einsatz. In einigen Fällen, etwa beim Produktdesign, wird 3D-Technologie oder Virtual Reality zur Veranschaulichung der Daten und zur besseren Simulation bestimmter Produkteigenschaften genutzt.

Wie der Name schon verrät, ist der digitale Zwilling das virtuelle Abbild eines Prozesses, Dienstes oder Produktes in der realen Welt. Dabei gibt es keine Grenzen, was alles virtualisiert werden kann: vom Auto und seinen Fahreigenschaften über ganze Städte und ihrer Infrastruktur bis hin zur digitalen Kopie des menschlichen Organismus ist vieles möglich. Mit dem digitalen Zwilling lassen sich zahlreiche Funktionen simulieren, um festzustellen, wie sich die Leistung abhängig von unterschiedlichen Parametern verändert. Diese Informationen helfen dabei, ein Produkt oder einen Dienst rein virtuell und innerhalb kürzester Zeit zu optimieren.

Für den ganzen Lebenszyklus

Der digitale Zwilling kommt keinesfalls nur in der Entwicklung zum Einsatz, sondern "begleitet" ein Produkt über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg. Damit liefert er wertvolle Informationen über die Art und Weise, wie dieses im Alltag genutzt wird. Neben der ständigen Optimierung des Produkts im laufenden Betrieb ermöglicht die Rückkopplung der Nutzungsdaten an den Hersteller - oft auch Digital Thread genannt - wichtige Erkenntnisse für die Entwicklungsabteilung. Dieses Wissen ist zum Beispiel dann hilfreich, wenn es gilt, zukünftige Produkte noch besser an die Bedürfnisse der Nutzer anzupassen.

Welch großes Potenzial in digitalen Zwillingen steckt, verdeutlicht eine Reihe von Beispielen, die bereits von Vorreitern auf diesem Feld umgesetzt wurden. Mackevision, der zu Accenture gehörende Experte für Computer Generated Imagery, entwickelte etwa einen digitalen Zwilling eines Motorblocks für Daimler. Dieses virtuelle Modell, welches allein auf Basis vorhandener Konstruktionsdaten entstand, ermöglicht den Entwicklern, das Verhalten bestimmter Motorteile bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten mit einer enormen Detailtreue zu studieren. Außerdem konnten Ingenieure und Designer beim Autobauer dank des virtuellen Prototypen über Abteilungsgrenzen hinweg viel enger zusammenarbeiten. Zahlreiche Workflows wurden erheblich verschlankt.

Windparks und Stadtplanung

Ein weiteres anschauliches Beispiel liefert GE: Um die Ausbeute in Windparks zu verbessern, entwarf das Unternehmen für jedes Windrad einen digitalen Zwilling, der auf 20 verschiedenen Konfigurationsdaten basiert. Die so im realen Betrieb gesammelten Daten werden über den digitalen Zwilling in Echtzeit ausgewertet, mit den Leistungsdaten der anderen Anlagen im Windpark abgeglichen und daraufhin optimiert. GE geht davon aus, dass die Turbinen so um bis zu 20 Prozent leistungsfähiger werden.

In deutlich größerem Maßstab hat Dassault Systèmes einen digitalen Zwilling umgesetzt. Für den Stadtstaat Singapur - zweifellos ein Vorreiter bei der Anwendung neuer Technologien - hat das Unternehmen ein virtuelles Abbild der gesamten Stadt geschaffen. Was zunächst wie eine einfache 3D-Landkarte aussieht, dient vor allem als großes "Spielfeld" für die Stadtplaner. Der digitale Zwilling hilft der Stadtverwaltung zum Beispiel, die Auswirkungen von Baumaßnahmen auf den Verkehr abzuschätzen oder die zusätzliche Lärmbelastung durch eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke in einzelnen Wohnvierteln sehr genau vorherzusagen.

Neue Geschäftsmodelle

Die genannten Beispiele verdeutlichen vor allem, wie der digitale Zwilling Prozesse in der Produktentwicklung optimiert, mehr Effizienz im Betrieb von Anlagen schafft und die Koordination von Zielkonflikten in komplexen Systemen erleichtert. Das ist für sich genommen schon revolutionär, doch die eigentliche Bedeutung für Unternehmen liegt in den neuen Leistungsversprechen für Kunden, die der digitale Zwilling ermöglicht.

Wer nämlich das Verhalten eines Produkts oder Dienstes im Betrieb virtuell abbilden kann, ist auch in der Lage, es mit Hilfe von simulierten Effekten kontinuierlich zu verbessern. Das wiederum ist die Grundlage für neue datengetriebene Geschäftsmodelle, die ganz konkrete Mehrwerte für ihre Nutzer schaffen: der Motor, der weniger Benzin verbraucht und einen geringeren Verschleiß hat, weil die Leistung stets der Fahrweise und den aktuellen Verkehrsverhältnissen angepasst ist.

Oder der Zug, der niemals zu spät kommt, weil von der Weiche über Passagierströme bis hin zum Triebfahrzeug alles vernetzt und im digitalen Zwilling abgebildet ist. So lässt sich der Einfluss einer Störung oder etwa von schlechten Wetterbedingungen auf das System genau simulieren und der Betrieb darauf hin optimieren. Das wiederum eröffnet ganz neue Möglichkeiten, solche Angebote zu vermarkten: Der Autohersteller verkauft zukünftig nicht mehr Fahrzeuge, sondern gefahrene Kilometer zu einem garantierten Preis. Das Bahnunternehmen vermarktet die Zeitersparnis gegenüber anderen Verkehrsmitteln.

Digitale Services simulieren

Um solche Geschäftsmodelle basierend auf neuen Leistungsversprechen zu schaffen, sind zwei Dinge nötig: erstens, smarte und mit IoT-Sensoren ausgestattete Produkte, die, zweitens, ihre Betriebsdaten an eine digitale Plattform übermitteln. Hier laufen die Daten der verschiedenen digitalen Zwillinge zusammen. Die Plattform simuliert die Auswirkungen durch die Veränderung einzelner Parameter auf das gesamte System und optimiert daraufhin die Leistung des "echten" Produkts.

All das funktioniert nicht nur mit physischen Produkten, sondern auch mit digitalen Services. So ließen sich etwa der Erfolg einer MarketingKampagne oder zum Beispiel die Nachfrage und mögliche Nutzungsszenarien für einen neuen mobilen Bezahldienst simulieren. Schließlich kann ein digitaler Zwilling auch das Kundenverhalten abbilden. Damit lassen sich Prognosen erstellen, wie und in welchen Situationen diese einen neuen Dienst nutzen würden.

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Komplexe Systeme in Echtzeit

Weil der digitale Zwilling nahezu perfekte Simulationen der echten Welt ermöglicht, lassen sich auch geschäftliche Risiken bei der Entwicklung und Vermarktung neuer Produkte minimieren. Zum einen fällt der Aufwand für den Bau und das Testen von physischen Prototypen deutlich geringer aus, was Zeit und Kosten spart. Zum anderen werden auf statischen Annahmen basierende Fehlplanungen unwahrscheinlicher. Ein Bahnhof mit zu wenigen Rolltreppen oder ein Flughafen mit zu wenigen Gepäckbändern sind dann nahezu ausgeschlossen.

Eine große Stärke des digitalen Zwillings liegt darin, dass er äußerst komplexe Systeme in Echtzeit simulieren kann. Dabei bricht er mit Abteilungs- und Unternehmensgrenzen und führt Daten aus den unterschiedlichsten Bereichen auf einer Plattform zusammen. Ein Autohersteller hat somit beispielsweise immer einen Überblick über die aktuellen Produktionsdaten eines Zulieferers, kennt den aktuellen Lagerbestand für bestimmte Bauteile beim Logistikpartner und hat die Auslastung des eigenen Motorenwerks am anderen Ende der Welt im Blick. So entsteht eine ganze neue Transparenz über alle an die Fahrzeugproduktion angeschlossenen Prozesse über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg.

Innovationen und Kundendienst

Der digitale Zwilling bietet auch neue Möglichkeiten für die gemeinsame Innovation mit ­Partnern. So können Teams aus Entwicklern, Forschern, Designern und Wissenschaftlern standortunabhängig an Projekten arbeiten und gemeinsam ein virtuelles Modell eines Produktes entwickeln und verbessern. Diese Art der Co-Innovation verkürzt die Entwicklungszyklen deutlich und vereinfacht die Abstimmung unter den beteiligten Akteuren.

Ähnlich verhält es sich mit dem Kundendienst: Bisher müssen Servicemitarbeiter zum Kunden ausrücken, um etwa einen defekten Fahrstuhl wieder in Betrieb zu nehmen. Allein für Anfahrt und Fehleranalyse werden nicht selten mehrere Stunden oder sogar Tage benötigt. In Zukunft kann der Kundendienst die Ursache für einen Defekt bereits am digitalen Zwilling eines Fahrstuhls erkennen und den Fehler möglicherweise schon aus der Ferne beheben. Selbst wenn das nicht möglich ist, verrät der digitale Zwilling, welches Bauteil defekt ist und ausgetauscht werden muss. Damit es gar nicht erst zu Ausfällen kommt, würde die virtuelle Kopie eines Fahrstuhls anhand der Betriebsdaten sogar von selbst erkennen, ob sich ein Problem andeutet, das behoben werden muss, ehe es zum Ausfall kommt.

Think small!

Während die virtuelle Replik eines Produkts oder einer Maschine anhand vorhandener Konstruktions- und Betriebsdaten vergleichsweise leicht erstellt werden kann, sind für komplexere Simulationen deutlich mehr Datenpunkte nötig. Je mehr smarte und mit IoT-Sensoren ausgestattete Produkte im Einsatz sind und Betriebsdaten liefern, desto genauere Erkenntnisse liefert auch der digitale Zwilling.

Dort sind wir auf einem guten Weg, denn immer mehr Geräte sind vernetzt und liefern immer mehr Daten. Das Analystenhaus IHS Markit geht davon aus, dass bis 2030 über 125 Milliarden Gerätschaften mit dem Internet der Dinge verbunden sein werden. Nur einmal zur Verdeutlichung der enormen Datenmengen: Ein Airbus A320 sammelt pro Flugstunde etwa 10 Gigabyte Daten, ein autonomes Fahrzeug wird nach Schätzungen von Intel pro Tag etwa 4.000 Gigabyte Daten produzieren.

Wenn Unternehmen diese Betriebsdaten nun über eine digitale Plattform sammeln und ihren Kunden auf dieser Grundlage neue Leistungsversprechen anbieten wollen, stellt sich die Frage: Wie gehe ich am besten vor? An dieser Stelle sei dazu nur folgender Rat gegeben: Think small! Viele Unternehmen denken in großen Strategien und ambitionierten Plänen, wie der digitale Zwilling ein ganzes Ökosystem von neuen Diensten für Kunden ermöglichen soll.

Klüger ist es jedoch, eine Vorgehensweise wie in der agilen Softwareentwicklung zu wählen und sich auf "Minimum Viable Products" statt "Best Possible Products" zu konzentrieren. Das bedeutet, mit Hilfe des digitalen Zwillings solche Produkte zu entwickeln, die trotz minimaler Konfiguration den Nutzern ein konkretes und erlebbares Leistungsversprechen bieten und dieses im Alltag einhalten. Wie eben der Zug der nie zu spät kommt, oder der Motor, der Benzin sparen hilft.

Schließlich geht es beim digitalen Zwilling genau darum: Das virtuelle Abbild eines Produkts oder Service ermöglicht die fortlaufende Optimierung im Alltagseinsatz. Der Perfektionismus der Ingenieure von gestern wird durch einen pragmatischen und kundenzentrierten Ansatz von heute ersetzt. Der Fokus verschiebt sich von der Entwicklungsphase auf den laufenden Betrieb. Statt ultimativer Performance stehen nunmehr konkrete Leistungsversprechen für den Nutzer im Mittelpunkt. Somit ist der digitale Zwilling der wichtigste Schlüssel zu den datengetriebenen Geschäftsmodellen von morgen.

Wer sich als Unternehmen am Markt behaupten will, kommt nicht umhin, von nun an "doppelt" zu sehen. Deshalb wette ich, dass sich der digitale Zwilling in fünf Jahren in vielen Branchen als zentrale Datenschaltstelle in einem digitalen Ökosystem aus Herstellern, Zulieferern und Kunden durchgesetzt haben wird.

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