Leitplanken für IT und Maschinenbau

Die Wachstumschancen durch Industrie 4.0

30.07.2014 von Bernd Seidel und Florian Harbeck
"Industrie 4.0" stützt sich auf das "Internet der Dinge", das die Trennung von virtueller und realer Welt weitgehend aufhebt. Damit die vierte Revolution in Produktion und Fertigung die propagierten Vorteile bringt und nicht als Strohfeuer endet, bedarf es neben einer verlässlichen Referenzarchitektur auch klar definierter Spielregeln.

Schon heute ist das Internet der Dinge in vielen Lebensbereichen Realität: im Haushalt, in der Unterhaltungselektronik und in Fahrzeugen. Mit der vierten industriellen Revolution hält es nun auch Einzug in der Fertigung, besonders durch intelligente Fabrikanlagen. Maschinen und Systeme "reden mit" und lassen sich ansprechen. Im Verborgenen arbeiten eingebettete Computersysteme, die, mit dem Internet vernetzt, dem Benutzer Annehmlichkeiten ermöglichen sollen. Für Produktionsanlagen heißt das: Anlagen steuern sich selbst, Werkstücke, die über Produktionsstraßen laufen, bestimmen, wohin sie transportiert und wie sie weiterverarbeitet werden wollen. Dadurch soll die Produktion flexibler werden, Produkte mit kürzeren Lebenszyklen und eine wirtschaftliche Einzelfertigung sind realistisch.

Bislang wurden allerdings die Chancen hauptsächlich aus Sicht der IT- und TK-Branche beleuchtet, also von Anbietern und Herstellern entsprechender Softwarelösungen für Big-Data-Analysen, Digitalisierung und Vernetzung. So stellt sich die Frage, ob hier möglicherweise ein künstlicher Hype als verkaufsfördernde Maßnahme erzeugt wurde. Oder bietet Internet 4.0 der Produktion tatsächlich einen praktischen und messbaren Mehrwert?

Bitkom prophezeit Wachstum

In einer im April 2014 veröffentlichten Studie stellt der Branchenverband Bitkom zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) eine gute Zukunft in Aussicht. Der hiesige Wirtschaftsstandort könne von der vierten industriellen Revolution kräftig profitieren. Untersucht wurden in der Studie Branchen, die vom Zusammenwachsen von Produktion und Internet besonders früh und stark betroffen sind: Maschinen- und Anlagenbau, elektrische Ausrüstung, chemische Industrie, Kraftwagen und Kraftwagenteile, Informations- und Kommunikationstechnik (ITK) sowie Landwirtschaft.

In allen sechs Wirtschaftsbereichen zusammen sollen bis zum Jahr 2025 Produktivitätssteigerungen in Höhe von insgesamt rund 78 Milliarden Euro möglich sein. Durchschnittlich 1,7 Prozent pro Jahr und Branche könnten als zusätzliche Bruttowertschöpfung erzielt werden.

Nicht alle sind aufgeschlossen

Doch dem angekündigten industriellen Aufbruch stehen nicht alle aufgeschlossen gegenüber. Gerade der deutsche Mittelstand sucht noch nach Anknüpfungspunkten, beobachtet Henrik Groß, Analyst bei Techconsult: "Im Rahmen der Langzeitstudie ,Business Performance Index (BPI) Fertigung Mittelstand D/A/CH 2013`, an der sich rund 900 mittelständische Fertiger mit 20 bis 2000 Mitarbeitern beteiligt haben, konnten noch vor einem Jahr überhaupt nur 31,5 Prozent der Befragten etwas mit dem Begriff Industrie 4.0 anfangen."

Nach den jüngst erhobenen Zahlen aus dem Jahr 2014 haben sich inzwischen vier von zehn Befragten eingehender mit der Materie auseinandergesetzt. Für die erhöhte Wahrnehmung zeichnen laut Analyst Groß Veranstaltungen wie die Hannover Messe im letzten Jahr und die Berichterstattung in den Medien verantwortlich, in deren Folge sich der Mittelstand mehr mit dem Thema beschäftigt habe.

Industrie 4.0 wird demnach vor allem in der Hightech- und Elektroindustrie als wichtiges Zukunftsthema wahrgenommen, ist aber im Mittelstand noch nicht so angekommen. Viele Berührungspunkte zu bestehenden Strukturen liegen in der Planung und vor der Einführung neuer Technologien und Verfahren noch im Dunkeln. Auch steht für manchen Mittelständler die Frage der Wirtschaftlichkeit im Raum. So schrieb Alexander Verl, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) und des Stuttgarter Universitäts-Instituts für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungsmaschinen (ISW) in der Fachzeitschrift "Automationspraxis": "Wenn man Kosten und Wirtschaftlichkeit betrachtet, sind viele Dinge, die die Informatiker gerne machen würden, eigentlich obsolet. Schließlich gibt es in den Werken heute bereits ingenieurmäßige Lösungen mit RFID oder Barcodes, die ihren Zweck kostengünstig und effizient erfüllen."

Damit die Industrie 4.0 ihre Vorzüge tatsächlich ausspielen kann, ist nach Ansicht des Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) der Übergang von der zentralen Steuerung der Produktionsanlagen, wie sie heute üblich ist, zu einer dezentralen Steuerung entscheidend. In dieser führt das zu bearbeitende Werkstück die Informationen für seine Bearbeitung bereits mit sich.

Die Folge: Produktionskapazitäten ließen sich in Zukunft nicht mehr nur durch die Vergrößerung der bestehenden Einheiten erweitern, sondern auch durch die Implementierung modularer Produktionseinheiten, die sich nach Auftragslage zu- oder abschalten lassen. So bestehe die Chance, dass "Produktion wieder urban verträglich wird, also im Einklang mit dem gesellschaftlichen Umfeld funktioniert, und so die Arbeit zum Menschen gebracht wird", heißt es beim ZVEI.

Die Wertschöpfungskette hätte dann eine viel tiefgreifendere Detailsteuerung. Daraus resultierte die Möglichkeit, in den laufenden Prozess einzugreifen, um die viel zitierte "Losgröße eins" herzustellen, ohne die heute noch vorherrschenden Kosten und Aufwände von Einzelfertigungen zu verursachen. Auch könnten dank der bereits erhobenen Daten über Produktionsabläufe fällige Entscheidungen vor der Produktion erst einmal simuliert werden, bevor sie tatsächlich umgesetzt werden. So ließe sich im Computer ein Ablauf bereits prüfen, noch bevor eine neue Anlage in Betrieb ginge.

Ein komplettes digitales Produktgedächtnis brächte auch in späteren Stadien des Produktlebenszyklus Vorteile. Mehrere Szenarien sind denkbar: zum Beispiel beim Recycling oder der zustandsbasierten Wartung von Produktionseinheiten auf Basis von statistisch abgeschätzten Ausfallwahrscheinlichkeiten. Das System sammelt so kontinuierlich Erfahrung im Rahmen der Lebenszeit von Produkten oder Systemen und kann sich selbst in bestimmten Intervallen einen Wartungsservice oder notwendige Ersatzteile bestellen.

Cyber-physische Systeme

Möglich wird dies durch mikroelektronische Systeme, die über eine eigene Rechenfähigkeit, Sensorik und Aktorik verfügen und selbst wieder in größere Systeme oder Gegenstände eingebettet sind - sogenannte Embedded Systems. Stattet man diese zusätzlich mit drahtlosen Kommunikationsschnittstellen und einer eindeutigen Identifizierung aus und gibt ihnen die Fähigkeit, sich über diese Schnittstellen mit anderen Systemen in der Wertschöpfungskette und via Internet zu vernetzen, so spricht man von cyber-physischen Systemen (CPS).

Bernhard Diegner, Leiter Abteilung Forschung, Berufsbildung, Fertigungstechnik beim ZVEI, sieht jedoch in fehlenden übergreifenden Standards eine große Hürde, die es bei der Realisierung des Gesamtkonzepts Industrie 4.0 zu nehmen gelte. "Das Konzept von sich selbst organisierenden Produktionseinheiten, also die dezentrale Selbstorganisation durch Ad-hoc-Vernetzung, ist eher eine ferne Vision. Man wird immer Leitplanken einziehen müssen, um die Kontrolle zu behalten. Das Ganze darf nicht in maschinelle Anarchie ausarten."

Es gehe darum, eine Durchgängigkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit zu bekommen, also zu jedem Zeitpunkt des Produktionsprozesses die richtigen Daten zu haben. Erst wenn diese Grundvoraussetzungen geschaffen seien, könnten die Industrie und insbesondere der Mittelstand die Potenziale von Industrie 4.0 ausschöpfen. Noch aber gehörten Medienbrüche im Produktentstehungs-Prozess zur Tagesordnung - vor allem durch inkompatible Softwaresysteme oder manuelle Eingaben eines Mitarbeiters. Das hemme die Verfügbarkeit von Daten sowie Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten. "Wenn aber die Verbindung zwischen physischer und virtueller Welt geschaffen ist, ergeben sich Produktivitätsgewinne. Durch die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit erlangen wir die Fähigkeit, jederzeit den optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten", fügt Diegner an.

Zunächst müssten jedoch die Barrieren der einzelnen Mitspieler, also zwischen den Herstellern der relevanten Systeme, überwunden werden - der Business-IT auf der einen sowie den Bereichen Automatisierungstechnik, Elektronik und Maschinenbau auf der anderen Seite. Zwei sehr unterschiedliche Welten, wie sich schon bei der Definition von "Echtzeit" zeigt. Ist damit in der Elektronik eine Reaktion binnen Millisekunden gemeint, definiert man in der IT garantierte Verzögerungszeiten je nach Anwendung und Geschäftsprozess.

Interoperabilitätsstandards sind das eine. Sicherheitsstandards sind eine weitere Grundvoraussetzung für das Entstehen einer geeigneten Referenzarchitektur für die Industrie 4.0. Andersherum: "Wenn es nicht gelingt, Vertrauen in diese Vernetzung aufzubauen, bleibt die erhoffte Revolution aus", mahnt Diegner. Die Herausforderung bestehe darin, Angriffs- und Betriebssicherheit in eigentlich offen kommunizierenden und kooperierenden Teilsystemen herzustellen und für eine verlässliche Anbindung verschiedener Komponenten in einem weltweiten Datennetz zu sorgen, das vermutlich nie vollständig sicher sein wird: "Wenn das Internet der Dinge nicht sicherer wird, müssen es die Dinge werden."

Für Diegner besteht die eigentliche Revolution jedoch im Entstehen neuer Geschäftsprozesse. Mehr und unterschiedliche Player werden beteiligt sein. Wie in solch verteilten Investitions- und Ertragsmodellen jedoch der Ertrag oder der Return on Investment aufgeteilt wird, wie Fragen der Haftung oder des geistiges Eigentums behandelt werden, sei ebenfalls noch zu klären.

Weiterbildung als Königsweg

Zu guter Letzt wird in Zukunft auch Aus- und Weiterbildung zum großen Thema. Der ZVEI geht davon aus, dass zwar keine neuen Ausbildungs- oder Studiengänge gebraucht werden, die vorhandenen Ausbildungsberufe und Weiterbildungsprofile für angehende Ingenieure, Techniker und Elektroniker allerdings mit neuen Inhalten gefüllt werden müssen. Weiterbildung werde der Königsweg sein. "Trotz oder gerade wegen der steigenden Automation wird der Faktor Mensch weiterhin Bestand haben", meint Diegner. Ob man beim Thema Industrie 4.0 aber von einer Revolution oder eher einer Evolution sprechen könne, werde wohl erst in 20 Jahren rückblickend zu entscheiden sein. "Die menschenleere Fabrik wird es jedenfalls nicht geben", ist sich der ZVEI-Mann sicher. "Sie wird ebenso menschenleer sein, wie das papierlose Büro heute papierlos ist."