Mit Ökosystemen aus der Krise

Digitale Plattformen können mehr

31.08.2020 von Martin Bayer
Digitale Ökosysteme können Unternehmen gerade in der Krise helfen: Sie öffnen Türen und befeuern die Kreativität. Das gilt allerdings nur, wenn sich die Verantwortlichen gewohnte Denkmuster und Marktansichten über Bord werfen und sich auf neue Ideen der Plattformökonomie einlassen.

Viele Unternehmen stoßen in zunehmend gesättigten Märkten an ihre Wachstumsgrenzen. Einfach nur alle paar Jahre eine neue Produktgeneration auf den Markt zu werfen, die sich oft nur marginal von den Vorgängern unterscheidet und somit wenige Kaufanreize bietet, reicht nicht mehr aus. Sollen neue Umsatzpotenziale erschlossen, die Wettbewerbs­fähigkeit gesteigert und das eigene Wachstumstempo angekurbelt werden, müssen sich die Betriebe neu orientieren, fordern Ökonomen.

Plattform-Ökosysteme wollen sorgsam aufgebaut und gepflegt werden. Wenn das gelingt, können sie dem Business ganz neue Perspektiven eröffnen.
Foto: P. Chinnapong - shutterstock.com

Manche Unternehmen tun sich allerdings schwer damit. Die Verantwortlichen denken in den gewohnten Produkt- und Servicekategorien und sehen digitale Technologien als nützliche Inhalte einer Toolbox, mit der die nächste Generation der vorhandenen Produkte einmal mehr gepimpt werden kann. In der Digitalisierung geht es aber um viel mehr. Noch nie konnten Unternehmen so einfach weltweite Partnerschaften knüpfen, neue Kundengruppen erreichen oder kreativ zusammenarbeiten. Auch war es bislang nicht möglich, so viele Detailinformationen über Kunden und ihr Verhalten zu gewinnen, was eine völlig neue Ansprache der Märkte ermöglicht. Und schließlich lassen sich über digitale Platt­formen Effizienzvorteile nutzen beziehungsweise Kosten senken.

Die Zeit ist gekommen, um ausgetretene Geschäftspfade zu verlassen, heißt es in der Accenture-Analyse "Weltmarktführer von morgen". Ganz oben auf der Hausaufgabenliste der deutschen Unternehmen sehen die Berater die Entwicklung neuer zukunftsfähiger Geschäftsmodelle – "und zwar im großen Umfang". Das geht aus Sicht von Accenture aber nicht im Alleingang. Nur mit dem Willen zur unternehmens- und branchenübergreifenden Kooperation und einer unterstützend treibenden Wirtschaftspolitik könnten dringend benötigte Investitionen in global relevante digitale Infrastrukturen oder Plattformen gelingen.

Plattform-Business - es geht ums Kaufen und Verkaufen

In den meisten Unternehmen beschränkt sich die Vorstellung von einer digitalen Plattform auf das Kaufmännische: Man möchte die eigenen Produkte und Dienstleistungen verkaufen oder anderswo einkaufen – erfolgreiche Plattformen wie Ebay oder Amazon dürften hier die Vorbilder sein. Weitergehende Visionen, auf Plattformen Daten zu generieren, zu teilen, zu analysieren, sie mit anderen Informationen in Relation zu setzen oder anzureichern und vor allem mit Partnern neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, bleiben dagegen Mangelware. Der Anteil der Unternehmen, die eine Plattform mit Partnern betreiben, liegt laut Bitkom je nach Branche im mittleren beziehungsweise unteren einstelligen Prozentbereich.

Handel und Dienstleister sehen durchaus Potenzial in der Plattformökonomie - die Industrie tut sich aber schwer. Das hat eine Umfrage des Bitkom gezeigt.
Foto: Bitkom

Dabei ist die Plattformökonomie längst in unserem Alltag angekommen, oft ohne dass wir darüber nachdenken. So zumindest lautet ein Ergebnis der Untersuchung "Plattform­ökonomie: The winner takes it all" von EY-Parthenon. "Wir kaufen online Produkte, buchen unsere Reisen und Unterkünfte im Netz, sehen Filme auf dem Tablet, rufen Taxis oder zahlen mobil und chatten per Smartphone", heißt es dort. "Plattformunternehmen wie beispielsweise Airbnb, Amazon, Booking.com, Ebay, LinkedIn, Netflix, PayPal, Skype, Uber und viele andere sind mittlerweile fester Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden und prägen als bevorzugte Einkaufsstätten das Verhalten vieler Online-Kunden."

Geschäftsmodelle der Plattformökonomie

Die EY-Parthenon-Berater unterscheiden grundsätzlich drei unterschiedliche Geschäftsmodelle in der Plattformökonomie:

Letzten Endes können alle Beteiligten von der Plattformökonomie profitieren, schreiben die Studienautoren von EY-Parthenon. Die Betreiber verdienen an Nutzungsentgelten, Kommissionserträgen oder Mikroerträgen entlang der Wertschöpfungskette, zum Beispiel im digitalen Zahlungsverkehr oder im Fulfillment. Anbieter von Produkten und Dienstleistungen erreichen mehr Kunden und erhöhen damit ihr Umsatzpotenzial. Kunden erhalten einen leichteren Zugang zu Produkten und Dienstleistungen über eine im Idealfall benutzerfreundliche digitale Online-Oberfläche.

Plattformen streben nach Monopolen

Was sich so einfach und selbstverständlich anhört, hat aber auch seine Kehrseite. Mit dem Aufkommen der Plattformen verschieben sich Machtverhältnisse im Markt. „Daten als Ressource und Plattformen als Infrastruktur für deren Nutzung verändern die Ordnung der Wirtschaft“, sagen die Berater. Die Marktmacht gehe von einzelnen Anbietern auf die Plattformen über, die mehr und mehr über Produktion und Distribution bestimmten. Dazu komme ein schon in der Plattformidee verwurzeltes Streben nach Monopolisierung. Denn der entscheidende Faktor für den Erfolg einer Plattform sei die Größe. Dabei kommen EY-Parthenon zufolge folgende Effekte zum Tragen:

Das Ganze mündet in einen sich selbst verstärkenden Kreislauf. Je mehr relevante Daten und je höher die Data-Analytics-Kompetenz, desto treffsicherer und attraktiver werden die Angebote. Damit erhöht sich die Kundenzufriedenheit. Die Plattform wird relevanter für alle Beteiligten und damit auch erfolgreicher und mächtiger. Wachstum ist also das A und O für Plattformbetreiber und -teilnehmer: Größere Netzwerke sind attraktiver für Kunden und Anbieter, reduzierte Transaktionskosten steigern Skalen­erträge, und größere Datenbestände erhöhen die Lerneffekte, so die Analyse von EY-Parthenon. Daher sei der Aufstieg umfassender, branchenübergreifender Plattformen und Ökosysteme erst der Anfang. "Die Macht der Datengiganten und Plattformunternehmen wird weiter zunehmen."

Die Plattformfrage - selbst bauen oder aufspringen?

Die Gretchenfrage, mit der viele etablierte Unternehmen nun konfrontiert sind, lautet: Wie umgehen mit der neuen Plattformökonomie? Sich einer Plattform anschließen oder selbst eine aufbauen? Gerade für den Handel stellt die Plattformfrage eine gewaltige Herausforderung dar, sagt EY-Parthenon-Partner Ludwig Voll. Dort, wo bestehende Plattformen und Ökosysteme bereits eine dominante Marktstellung aufgebaut hätten, sei für Händler in der Regel eine Kooperationsstrategie zielführender. Sie könnten so an den Netzwerkeffekten partizipieren, ohne in den Aufbau eines eigenen Netzwerks zu investieren – was zeitraubend, aufwendig und teuer werden könne.

Der Kreislauf zwischen Kunden und Daten macht Plattformen groß, so eine Untersuchung von EY-Parthenon.
Foto: EY-Parthenon

Existierenden Schwergewichten mit einer eigenen Alternativplattform Konkurrenz machen zu wollen, wäre mit gewaltigen Investitionen und hohem Risiko verbunden, warnt Voll. Platz gebe es dagegen in Nischen und Spezialbereichen. Der Berater nennt das Fulfillment als Beispiel – also alles, was mit Bestellannahme, Kommissionierung, Stammdatenpflege, Ver­packung, Versand und Retourenmanagement zu tun hat.

Einzelne Händler hätten an dieser Stelle kaum eine Chance, eine eigene Infrastruktur auf die Beine zu stellen, die gegen die Branchenschwergewichte bestehen kann. Gelingt es jedoch, über den Tellerrand zu schauen und auch einmal branchenübergreifend zu denken, lassen sich vielversprechende Projekte auf die Beine stellen. Beispielsweise hat der Online-Händler Notebooksbilliger.de schon vor Jahren beim Ausbau seines Same-Day-Delivery-Angebots in Berlin auf eine Kooperation mit dem Online-Modehändler Zalando gesetzt.

Gerade in der Coronakrise haben sich die Vorzeichen geändert, die Händler müssen sich an ein verändertes Einkaufsverhalten anpassen. Mehr Kunden wollen nun von zu Hause aus shoppen. Den Maßstab, was Lieferzeiten und Preise betrifft, haben die großen Online-Händler gesetzt und damit die Ansprüche der Kunden nach oben geschraubt. Wenn lokale Händler hier mithalten wollen, müssen sie Partnerschaften suchen. Zentrale Frage wird sein, wie ein Unternehmen zum Treiber oder Teilnehmer eines solchen "Ökosystems" werden kann. Dass es auch in der Krise funktionieren kann, haben beispielsweise die Gutscheinplattformen gezeigt. Hier können Verbraucher Gutscheine für Lokale kaufen. Das hilft den Wirten über die Zeit, in der sie ihre Betriebe geschlossen halten müssen.

Wie digitale Plattformen entstehen

Die Analysten von Crisp Research haben kürzlich Designkriterien für plattformbasierte Geschäftsmodelle sowie den Reifegrad digitaler Ökosysteme untersucht. "Alle Unternehmen sind Teil der Digital Economy", lautete das zentrale Fazit der Analysten, "ob sie wollen oder nicht!" Die Facetten, die an dieser Stelle beachtet werden müssen, sind allerdings breit gefächert. Für erfolgreiche digitale Plattformen müssten Unternehmen ihre Organisation und Kultur, das Geschäftsmodell und die Technologielandschaft vorbereiten, heißt es in dem Bericht. "Gemeinsam mit Partnern entsteht so ein digitales Ökosystem."

Rund ein Drittel der Befragten schätzt die Bedeutung von digitalen Ökosystemen als hoch beziehungsweise sehr hoch ein, hat eine Untersuchung von Crisp Research ergeben.
Foto: Crisp Research

Crisp zufolge bieten sich unterschiedliche Einsatzszenarien für digitale Plattformen an. Beispielsweise lassen sich bestehende Produkte und Lösungen durch eine digitale Plattform erweitern und so neue Möglichkeiten der Interaktion mit den Kunden eröffnen. Darüber hinaus könnten Plattformen auch ganz neue Möglichkeiten und Umsatzquellen erschließen. Dabei bildet Crisp zufolge die digitale Plattform den Dreh- und Angelpunkt eines neuen Geschäftsmodells, das zuvor nicht möglich gewesen wäre.

Doch digitale Plattformen können nicht nur für mehr Umsatz sorgen, sondern auch Abläufe vereinfachen, sodass die Effizienz bestehender Prozesse erhöht und die Kosten gesenkt werden. Diese Früchte lassen sich in der Regel am einfachsten ernten. So hat die Untersuchung von Accenture gezeigt, dass sich rund drei Viertel der Unternehmen in ihren Plattform­bemühungen vor allem auf die Verbesserung bestehender Produkte und Dienstleistungen sowie Innovationen in ihren Prozessen fokussieren. Neun von zehn Unternehmen nennen demzufolge Kostenersparnisse als maßgebliche Kennzahl für den Erfolg ihrer Initiativen. Mehr Effizienz lässt sich auch durch neue digitale Prozesse erzielen. Diese unterstützen einen Ablauf, der nur durch digitale Lösungen möglich wird.

Der Aufbau einer digitalen Plattform lässt sich laut Crisp Research in Schichten gliedern:

Optionen und Spielarten der digitalen Platt­formen sind nahezu unendlich, lautet das Fazit der Analysten. Vom Use Case über das Geschäftsmodell bis hin zur zugrunde liegenden Technologie könnten Plattformen individuell aufgebaut werden – was es für die Verant­wortlichen nicht einfacher macht, die richtige Geschmacksrichtung zu finden. Dazu kommen noch unterschiedliche Startvoraussetzungen, verschiedene Zielgruppen, Qualität und Reifegrad der Plattformen, Umfang des Feature-Sets und, und, und. Die Zahl der Variablen ist groß.

Der Infrastruktur-Stack einer digitalen Plattform hat viele Facetten und kann damit im Aufbau durchaus komplex sein, wie eine Untersuchung von Crisp Research gezeigt hat.
Foto: Crisp Research

Als zentralen Bestandteil digitaler Plattformen, der maßgeblich über Erfolg oder Miss­erfolg entscheidet, sehen die Crisp-Analysten das Ökosystem. "Ohne die zentralen Akteure sowie darüber hinaus eine große Zahl an Partnern und Förderern, welche die Plattform auf Infrastruktur-, Anwendungs-, Business- oder Interaktionsebene voranbringen, wird sie nicht erfolgreich sein und längerfristig existieren können", heißt es bei Crisp. Erreichbarkeit und Zielgruppe würden um ein Vielfaches größer, damit wachse aber auch der Druck. Vor allem im globalen Wettbewerb müsse sich eine Plattform ständig gegen Konkurrenten wehren.

Auf der Suche nach dem heiligen Plattform-Gral

Trotz aller Herausforderungen: "Digitale Plattformen werden zum heiligen Gral der Unternehmen", sagen die Crisp-Analysten. Ihr Anteil an der gesamten Wertschöpfung werde stark zunehmen. Wer daran partizipieren wolle, müsse einige Hausaufgaben erledigen. Auf der Liste stehen neben dem Aufbau flexibler und hybrider Infrastrukturen und dem Scouting neuer Techniken wie KI und Quantencomputing auch organisatorische und kulturelle Aspekte. Stakeholder- und Community-Management sind noch unbekannte Disziplinen, werden aber immens wichtig. Am Ende müsse es aber nicht immer gleich der große Wurf sein. Betriebe sollten ruhig erst einmal im Kleinen und nah am Kerngeschäft Erfahrungen im Aufbau und Betrieb von digitalen Plattformen sammeln.

Nicht zuletzt brauche es Durchhaltevermögen und einen Kulturwandel. Neben neuen Führungs-, Feedback- und Arbeitskulturen gehöre ein langer Atem dazu. Wenn ein Digitalprojekt mal scheitert, sollte man nicht sofort das große Ganze in Frage stellen. So gerüstet, könnte das Plattformabenteuer gelingen. Es seien neue Wege zu beschreiten, die gut durchdacht sein sollten, wollen die Verantwortlichen nicht die Dramen der klassischen Gralssuche durchleiden. Die nahm für so manchen Ritter ein böses Ende – gefunden ist der Gral bis heute nicht und bleibt Legende.