Integration beim Reifenhersteller Pirelli

Durchs Niemandsland zur Integration

08.07.2002 von Hermann Gfaller
Mitten in der E-Business-Boomphase brachte der italienische Reifenspezialist Pirelli ein Integrationsprojekt auf den Weg - und führte damit mehr als 100 Systeme von 6000 Reifenhändlern zusammen.

Die Gelegenheit war günstig für das Management des italienischen Reifenherstellers Pirelli: Unternehmensberater von Accenture waren wegen eines SAP-Projekts im Haus, und der E-Business-Boom auf seinem Gipfel. Da lag es nahe, über weitere Verbesserungen des Datenflusses nachzudenken - etwa beim Vertrieb im Reifengewerbe. "Dessen Struktur ist besonders aufwendig", erläutert Accenture-Partner Klemens Richter. Während sich viele Industrieunternehmen auf die Optimierung ihrer Zulieferkette konzentrierten, entschloss sich Pirelli, die Vertriebspartner in die eigene Datenverarbeitung zu integrieren. So entstand ein Konzept für Enterprise Application Integration (EAI) mit E-Business-Bestandteilen - eine Pioniertat in der Reifenbranche.

Die Italiener beliefern weltweit mehr als 6000 Firmen: vom kleinen Autoverkäufer bis hin zu Großhändlern, mit denen sich der Hersteller sogar Lager teilt. "Dabei gilt ein Pneu nicht als verkauft, wenn er beim Händler liegt, sondern erst dann, wenn er an das Auto des Kunden montiert wird", so der verantwortliche Projektmanager von Pirelli, Marco Micci. Bis dahin sind die Gummiwalzen reine Kostenträger, nicht zuletzt wegen umständlicher Bestellverfahren, die mit kleineren Händlern per Telefon und Fax abgewickelt wurden.

Eine Hochleistungsplattform für den Austausch von Geschäftsdokumenten, vor allem von Aufträgen und Rechnungen, musste her. Das Ziel von Pirelli: die 6000 Handelspartner weltweit und damit mehr als 100 verschiedene Anwendungen und Übertragungstechniken zusammenzuführen. Pirelli entschied sich für eine Software des US-amerikanischen EAI-Spezialisten Tibco. "Die Architektur versprach, die große Bandbreite der bei den Händlern eingesetzten Anwendungen über Standardtechnologie mit dem Pirelli-Server in Einklang zu bringen", eklärt Micci die Entscheidung.

Kleine Händler mit geringeren technischen Möglichkeiten steigen nun über eine reine BrowserLösung ein. Sie brauchen lediglich ein Online-Bestellformular aus-zufüllen und via Internet an Pirelli zu schicken. Dort landet es zuerst in einem als "Demilitarized Zone" bezeichneten Niemandsland zwischen Extranet und Intranet. "Der Business-to-Business-Server von Tibco überprüft die Daten noch außerhalb der Unternehmens-DV auf ihre Zulässigkeit", sagt Micci. Erst dann wandern sie ins SAPOrdersystem. Klappt alles wie vorgesehen, erhalten die Kunden automatisch per E-Mail eine Auftragsbestätigung mit voraussichtlichem Lieferdatum und Rechnung.

Ähnlich läuft das Verfahren bei den größeren Partnern, die über eine eigene betriebswirtschaftliche Lösung verfügen. Nur müssen die Sachbearbeiter dort nicht in den Browser wechseln, um nach dem Verkauf von Reifen eine Bestellorder einzugeben, sondern sie erledigen das in ihrem gewohnten System. Dieses wurde zuvor von Accenture um ein Modul erweitert, welches, so erklärt Richter, "die Bestellungen des Händlersystems in ein neutrales Datenformat wie XML umwandelt und dann ins Pirelli-Niemandsland überträgt".

Am stärksten integriert sind jene Händler, die auf hohe Durchsatzraten und eine optimierte Lagerhaltung Wert legen. Sie können die Integrationslösung nutzen, um ihren Lagerbestand an Pirelli zu melden und automatisch auffüllen zu lassen. "Das ist wichtig, weil wir mit einigen Händlern gemeinsame Lager führen", sagt Projektmanager Micci.

Schon ein halbes Jahr nach der Installation der ersten drei Pilotprojekte im Mai des vergangenen Jahres waren 45 Großkunden eingebunden, und für die mittleren Händler existierten 60 Sites in sieben Sprachen. Der Vorteil für die Beteiligten laut Accenture: 20 Prozent weniger Bestellkosten.

Das Bestellsystem für die Reifenhändler ist indes nur ein Teil der Integrationsgeschichte. Ein anderes Kapitel: die Einbindung der Informationen in die Datenverarbeitung von Pirelli. "Schließlich will der Händler eine Auskunft vom Hersteller, wann er seine Reifen bekommt und was er zu zahlen hat", sagt Micci. Dafür ist es erforderlich, dass bei einer Bestellung auch nach der Bearbeitung durch das R/3-System eindeutig erkennbar ist, von welchem Händler sie kam, in welchem Format, über welchen Transportweg und mit welcher Verschlüsselung die Bestätigungsnachricht geschickt werden soll. Da SAP Integrations-Know-how noch aufbauen muss, ist es bei Pirelli Aufgabe der EAI-Software, die Formate zu übersetzen, alle zu einer Bestellung gehörenden Informationen zu verwalten und Prozesse anzustoßen.

Das Online-Bestellsystem hat Pirelli inzwischen bei einem Sechstel seiner 6000 Partner installiert. Nach Angaben von Accenture sanken die Prozesskosten für die Auftragsbearbeitung um acht Prozent, das MarketingBudget um zehn Prozent und die Vertriebsausgaben um vier Prozent. Zudem verkauft Pirelli nun fünf Prozent mehr Reifen. Grund: Die Händler mögen das einfache System der Italiener lieber als die klassischen Bestellverfahren.