Social Media wichtiger als E-Mail

Facebook für die Swiss Re

30.06.2010 von Lars Reppesgaard
Die Swiss Re will von einer Personen- zu einer Community-Firma reifen. Der Rückversicherer hat bereits 25 Prozent der Mitarbeiter in das neue soziale Netzwerk gelockt, das wie Facebook funktioniert - aber viel sicherer ist.
Wolfgang Jastrowski, Director, Swiss Reinsurance Company: "Wir haben niemandem gesagt: Benutze es! Wir haben stattdessen gehofft, dass es virale Effekte gibt."

Mit Risiken kennen sie sich aus bei der Swiss Reinsurance Company in Zürich. Seit 1863 analysiert und antizipiert die Rückversicherungsgesellschaft, welche Gefahren und Katastrophen ihre Kunden, die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Umwelt beeinflussen. Das Geschäft geht gut, aber es ist komplizierter geworden. Weil im Zuge der Finanzkrise die klassischen Versicherungen über weniger Kapitalanlagen als früher verfügen, ist die Nachfrage nach Rückversicherungsverträgen groß. Doch die Deals werden immer komplexer. Die 12.000 Mitarbeiter in 20 Ländern müssen in Windeseile Informationen zusammentragen, um die Risiken einzuschätzen und zu bepreisen.

Damit dieses Vorhaben gelingt, will sich die Swiss Re verändern. "Wir wollen uns von einer Personen- zu einer Community-Firma weiterentwickeln", sagt ihr IT-Director Wolfgang Jastrowski. Damit ist gemeint, dass die einzelnen Fachleute in der Swiss Re viel stärker als bisher ihr Wissen kombinieren, um die neue Herausforderungen zu meistern.

Das Projekt der Swiss Re in der Übersicht.

Auch organisatorische Veränderungen in der Konzernstruktur haben dazu beigetragen, dass die Gesellschaft intensiver als bisher den internen Austausch forciert. Die Swiss Re hat in den vergangenen Jahren die Fachbereichsorientierung aufgegeben und sich in eine Matrixorganisation umgewandelt. Viele Firmenfunktionen wurden zentral zusammengefasst und dort angesiedelt, wo sie Kostenvorteile versprachen.

Shared Service Center der Swiss Re gibt es heute unter anderem in Bangalore und in Bratislava. "Das hat dazu geführt, dass Teams global und über Zeitzonen verteilt sind und trotzdem 24 Stunden am Tag zusammenarbeiten müssen", sagt Jastrowski. Zugleich wurden die Reisebudget signifikant gekürzt. Wer sein komplettes Team irgendwo auf der Welt für eine Absprache versammelt, gerät schwer unter Rechtfertigungsdruck.

Das Gebäude der Swiss Reinsurance Company.
Foto: Swiss Re

"Also mussten wir an anderer Stelle ein gewisses Investment wagen, damit die Leute weiter gut zusammenarbeiten und kommunizieren können", sagt Jastrowski. Das zentrale Werkzeug dafür soll eine Social Business Platform sein – die Firmenversion populärer sozialer Netzwerke wie Facebook oder Xing. Es ist eine Lösung, bei der Anwender Profile anlegen, in denen sie ihre Eigenschaften beschreiben, in dem Interessierte sich über Foren und andere Nachrichtensysteme zusammenschließen und austauschen können und in dem es möglich ist, Fachleute zu finden, auch wenn die auf der anderen Seite der Erde sitzen. Ein japanisches Sprichwort wurde zum Mantra der Kollaborationsstrategie: "Keiner von uns ist so schlau wie wir alle zusammen".

Der Plan für die Plattform wurde Anfang 2008 aufgestellt. Eine Task Force, an der Jastrowski beteiligt war, entwickelte den Sommer über eine Kollaborationsstrategie für das Unternehmen. "Wir definierten, welche Kernfunktionen im Bereich Kommunikation und Kollaboration für uns sinnvoll sind, wie die Entwicklungsstufen einer internen Social Business Platform aussehen könnten und was diese Entwicklung für unsere Firma bedeutet", sagt Jastrowski.

Social Webs bald wichtiger als E-Mail

Ideen, um die Vorteile von dynamischen Internet-Plattformen aus der Privatwelt in die Geschäftswelt zu übertragen, gibt es nicht nur bei der Swiss Re. "Die wachsende Nutzung von Plattformen wie Twitter und Facebook durch Nutzer in Unternehmen hat zu einem ernsten Dialog über den Einsatz von Social-Software-Plattformen im Geschäftsleben geführt," sagt Mark R. Gilbert vom Analyseunternehmen Gartner. Dort geht man davon aus, dass bis 2014 soziale Netzwerk-Dienste die E-Mail als wichtigstes Geschäftskommunikationsinstrument bei einem Fünftel der Firmen abgelöst haben werden.

Doch der Weg in die Welt der Unternehmensnetze, die nach dem Web-2.0-Prinzip funktionieren, ist steinig. Bis 2012 werden über 70 Prozent der von den IT-Abteilungen initiierten Social-Media-Initiativen scheitern, glaubt man bei Gartner. Der Grund: Den klassischen IT-Organisationen fehlt die Erfahrung beim Design und bei der Bereitstellung von Web-2.0-Diensten.

Tatsächlich stand auch die Swiss Re vor dem Problem, dass es bislang kaum Erfahrungen gibt, wie man so eine Plattform implementiert. Die technischen Hürden sind dabei nicht das Problem, sagt Jastrowski. "Das Tool einzuführen war nicht schwierig, sondern den Leuten zu helfen, es richtig zu benutzen. Letzten Endes war das Projekt, das wir gemacht haben, eigentlich ein Change-Management-Projekt."

Die Bedenken der Mitarbeiter

Als das Konzept stand, evaluierte das Team im vierten Quartal 2008 die Kommunikations- und Kollaborationslösungen zahlreicher Anbieter. Man beschloss, auf Basis von Software des Anbieters Jive als Self-Service-Community zu arbeiten. Ourspace sollte die Plattform heißen. Nachdem die Jive-Software im ersten Quartal 2009 implementiert worden war, begannen die Pilotgruppen am 1. April 2009 mit ihrer Arbeit. Bis Ende Juli sollte an ihrem Beispiel deutlich werden, was welcher Mitarbeiter mit Ourspace tun kann und wie das zur Wertschöpfung der Firma beiträgt.

Dass ausgerechnet in eine Lösung investiert werden sollte, die an eine der hochgejubelten Web-2.0-Anwendungen erinnerte, hatte viele in der Swiss Re irritiert. Doch das Plattformteam lieferte gute Beispiele aus den Pilotgruppen, die viele Einwände gegen das Social-Media-Projekt entkräfteten.

Aus dem Web schauten sich Jastrowski und sein Team ein weiteres Erfolgsrezept ab: Was verordnet wird, wird weniger schnell in der Breite von den Nutzern akzeptiert als das, was von der Basis kommt. Übersetzt hieß das, die offizielle Kommunikation von oben über das Tool auf ein Minimum zu beschränken und darauf zu setzen, dass die Basis es von selbst entdeckt. "Wir haben niemandem gesagt: Benutze es! Wir haben stattdessen gehofft, dass es virale Effekte gibt und ein Nutzer das Werkzeug dem anderen weiterempfiehlt", sagt Jastrowski.

Das Swiss-Re-Team half aber auch sanft nach, indem es einige Schlüsselfiguren im Unternehmen gezielt für Pilotvorhaben rekrutierte. Abteilungen, die über Kundenkontakt verfügen, wurden dazu animiert, Gruppen für die wichtigsten Auftraggeber zu gründen, damit sich dort Mitarbeiter aus verschiedenen Unternehmensbereichen zusammenfinden, um die Bearbeitung von Kundenanfragen zu erleichtern. "Wir haben viel investiert, um in verschiedenen Bereichen der Firma gute Beispiele aufzubauen und sie per Mund-zu-Mund-Propaganda publik zu machen", sagt Jastrowski.

Auch die Top-Etage der Swiss Re schritt demonstrativ bei der Nutzung von Ourspace voran. "Um wettbewerbsfähig zu sein, ist es notwendig, alle zeitlichen und räumlichen Barrieren zwischen unseren global verstreuten Teams abzubauen", sagt Chief Operating Officer Agostino Galvagni. Er startete etwa eine Ideensammlung zum Thema Komplexitätsreduzierung innerhalb der Swiss Re.

Einschränkungen, wer eine Gruppe gründen kann oder welche Themen sie behandelt, gab es nicht. Nicht allen an der Unternehmensspitze fiel es leicht, sich auf die Regel, dass es keine Regel gibt, einzulassen. "Social Media stellt eine echte Herausforderung für das klassische Geschäftsmodell von Hierarchie und Kontrolle dar", weiß auch Wafa Moussavi-Amin, Geschäftsführer von IDC Deutschland.

Keiner kann anonym auftreten

Doch die ersten Ergebnisse hierarchiefreier Kommunikationsexperimente zeigten auch den Top-Managern der Swiss Re, dass die Belegschaft in den allermeisten Fällen konstruktiv kommunizierte, obwohl es außer dem Prinzip, dass keiner die Plattform anonym nutzen kann, keine weiteren Kontrollmechanismen gibt.

Diese offene Strategie führte wie erhofft zu einer Gruppenvielfalt, ohne dass Probleme, wie man sie aus dem offenen Netz und Privatnutzer-Communities kennt, auftraten. Schmähkommentare und ausufernde, unsachliche Diskussionen gibt es in Ourspace nicht. Schon in der ersten Phase des Projekts verständigten sich die IT-Fachleute mit der Rechtsabteilung und den Mitarbeitervertretern auf Policies für die Nutzung der Plattform. Sie beispielsweise für Leistungsmessungen zu nutzen ist ausgeschlossen – eine Regelung, die sich als sinnvoll erwies, um die Verunsicherung einiger Mitarbeiter mit aufzufangen.

600 virtuelle Gruppen

"Die Pilotgruppen liefen sehr gut", sagt Jastrowski. "Wir dachten, dass 500 Leute teilnehmen werden. Es waren dann eher 1.000. Es sprach sich rasch herum, was man alles mit Ourspace machen kann. Ziemlich viele Leute wollten daraufhin dabei sein. Und die Use Cases, auf die wir stießen, waren sehr vielversprechend." Am 30. Juni 2009 holte sich das Ourspace-Team grünes Licht von der Geschäftsleitung, um die Plattform unternehmensweit einzuführen.

Ende September startete der globale Roll-out. Seither kann jeder Mitarbeiter Ourspace nutzen. Auch die Integration von Ourspace-Funktionen in SAPs HR-Lösung und in Notes wurde nun angegangen.

Mit der heutigen Akzeptanz des neuen Kommunikationswerkzeugs ist der IT-Direktor sehr zufrieden. "Nach vier Monaten waren 75 Prozent der Mitarbeiter wenigstens einmal auf der Plattform. 25 Prozent der Gesamtbelegschaft haben bereits aktiv etwas im Netzwerk auf der Plattform getan. Sie haben ein Bild hochgeladen, haben ihr Profil ausgefüllt, sind einer Gruppe beigetreten, haben die Verbindung zu einem anderen Mitarbeiter aufgebaut, Inhalte erstellt oder sie kommentiert." Mehr als 600 virtuelle Gruppen sind entstanden. Neben Lerngruppen etwa für Führungskräfte oder Studenten organisierten sich auch Communities zur Ideenfindung und Expertengruppen. Beispiele sind die Gruppe für Antragsprüfer in den Bereichen Leben und Gesundheit oder ein Forum von Spezialisten für Schäden, die durch Naturkatastrophen verursacht werden. "Selbst die Comic-Fans unter den Swiss-Re-Mitarbeitern haben eine Gruppe gegründet", sagt Jastrowski. "Aber neun von zehn Gruppen sind geschäftsorientiert."